Martin Trageser: Carl Millöckers Leben und Werk im Spiegel der zeitgenössischen Presse [Andreas Vollberg]

Martin Trageser: Carl Millöckers Leben und Werk im Spiegel der zeitgenössischen Presse. – Würzburg: Königshausen & Neumann, 2024. – 152 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-8260-8715-8 : € 18,90 (brosch.; auch als eBook)

Die klassische Wiener Operette, hier die „goldene“ Ära vor 1900, fand ihre prominentesten Vertreter in Franz von Suppé, Johann Strauß Sohn und (leicht abseitig flankiert von Carl Zeller und Richard Heuberger): Carl Millöcker (1842–1899). In aller Munde lagen weltweit Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst! aus seinem Paradestück Der Bettelstudent oder etwa Er soll dein Herr sein aus Gasparone. Mögen sich auch die beiden genannten, bis über die Nachkriegszeit ausgiebig gefeierten, verfilmten bzw. bearbeiteten Bühnenwerke, sporadisch noch der späte Arme Jonathan, auf deutschsprachigen Bühnen und ausschnittweise in semiklassischen Programmen wiederfinden, ist es um ihren Schöpfer still geworden. Einen biographisch wie stilkundlich kompetent betexteten Bildband in Farbe etwa untertitelte die Millöcker-Verehrerin Marga Walcher schon 2011 nostalgisch Liebe und Leidenschaft des vergessenen Komponisten. Aus ähnlicher Erkenntnis heraus legt nun Martin Trageser, Jahrgang 1975, eine weitere verdienstvolle Arbeit vor und nennt sie Carl Millöckers Leben und Werk im Spiegel der zeitgenössischen Presse. Vorfreude erweckt dieser Ansatz evident vor dem Hintergrund von Tragesers wissenschaftlichen und publizistischen Erträgen zur textlichen Komponente der leichteren Musik: Neben seiner Würzburger Dissertation zu Chansons von Marcellus Schiffer ragt der 2020 erschienene Band über die Komponisten der „silbernen“ Operettenära heraus, wo Trageser, belletristisch profiliert auch durch Kurzgeschichten und Kinderbücher, unter dem walzertrunkenen Signet Millionen Herzen im Dreivierteltakt in Wahrheit Exkursionen durch Abgründe mannigfacher Verstrickungen der scheinbar heiteren Bühnenbranche in die erste verheerende Jahrhundertkatastrophe des Weltkriegs 1914 bis 1918 unternahm.

Nun also zwar eine Biographie über Carl Millöcker. Aber wiederum mit spezieller Stoßrichtung. Denn bei aller konventionell eingängigen Diktion, wohlgegliederten Aufbereitung und tendenziell linear-chronologischen, dabei zeitgeschichtlich aufmerksamen Erzählstrategie gibt es neben der Hauptperson einen weiteren titelgebenden Protagonisten: das gedruckte und geschriebene Wort, namentlich das der Zeitungen, Zeitschriften, Magazine, Journale und Satireblätter, ihnen komplementär ein von Fritz Racek 1969 in den Wiener Schriften ediertes Tagebuch Carl Millöckers. Denn auch die Presse in der Zeit der Uraufführungen lässt sich, wie man auf fast jeder Seite spürt, als Sprachrohr für Tragesers Hauptanliegen dienstbar machen: den als Person und Charakter weitgehend Vergessenen samt seinem reichhaltigen Œuvre ins heutige Bewusstsein zu rufen.

Unumstritten und verschont von Rückschlägen war auch ein Millöcker nicht. Denn neben Zusprüchen enthalten jene Zitate, Aphorismen und Karikaturen, die Trageser jedem der 13 Textkapitel vielsagend voranstellt, manch sarkastisch-ironischen Seitenhieb. Förmlich beklemmend: der Prolog auf dem Wiener Zentralfriedhof mit der Einweihung des Grabdenkmals an der endgültigen Ruhestätte, bevor die Vita nicht etwa direkt mit Kindheit und Jugend einsetzt, sondern mit dem von Schlaganfällen gezeichneten Lebensende, dem Tod an Silvester 1899 und bizarren Pressereporten von der vorläufigen Beisetzung am langjährigen Sommerwohnsitz Baden. Zeitgleich schien es, als würde – nach Suppés und Strauß‘ Tod unlängst zuvor – „mit dem 19. Jahrhundert auch die Wiener Operette zu Grabe getragen“ (S. 12). Doch zuerst geht es gerafft und bündig zu den Anfängen: Geboren im Wiener Vorort Laimgrube unter Metternichs Regime, zieht es Carl weg von der väterlichen Goldschmiede, wo er in den 1848-er Revolutionswirren dennoch notgedrungen mehrmals aushilft, ins und ans Theater, findet er großzügige Förderer und kompetente Lehrer, glänzt in der Schule nur wenig, viel mehr dafür auf dem Konservatorium, und brilliert, obwohl erwerbsbiographisch instabil, als Flötist in den Orchestergräben der Josefstadt und des Burgtheaters. Mentor und maßgeblicher Lehrmeister schließlich wird Franz von Suppé, Hausdirigent am Theater an der Wien, der ihn auf eine Kapellmeisterstelle nach Graz vermittelt.

Operettengeschichtlich klärt ein Exkurs die für Millöcker prägenden Rahmenbedingungen: Suppé hatte im Gefolge der Pariser Operette Offenbachs ein zunächst ähnlich humorig-parodistisches Wiener Pendant ins Leben gerufen, wurzelte musikalisch dagegen in der italienischen Oper und ließ die typisch wienerische Note zunächst außen vor.

Auf zwei Jahre Graz folgt nochmals Wien, wo Millöcker u.a. Stücke von Ludwig Anzengruber mit Musik versieht, dann das Deutsche Theater in Pest. In vier harten Lehrjahren leistet er, der sich zum anspruchsvolleren Format der mehraktigen Operette hingezogen fühlt, Frondienste mit wenig ergiebigen Possen und Lustspielen, wenngleich einaktige Operetten immerhin den Offenbach-Einfluss, zugleich den versierten Theaterkomponisten verraten – eine Provenienz, die ihn später von Strauß‘ Ursprungsdomäne Ballsaal und Tanzparkett unterscheiden wird. In privater Sphäre, die Trageser diskret und respektvoll einbindet, wird dem notorischen Frauenschwarm als Folge einer Liebschaft die außereheliche Tochter Caroline geschenkt, die ihm lebenslang verbunden bleibt. Ihm lebenslang – in Treue und Eifersüchteleien – verbunden bleiben wird ihm (erst ab 1878) auch seine zweite Lebenspartnerin Lina Hofschneider, während die Ehe mit der in Graz 1865 geheirateten Sängerin Caroline Kling nur fünf Jahre hält.

Nach dem Bankrott des Deutschen Theaters Pest freut sich Millöcker, 1869 wieder in seine Heimatstadt, mit gemischteren Gefühlen dagegen in eine Festanstellung ans Theater an der Wien zurückzukehren, das sich auf dem Sprung zu Wiens führender Operettenbühne befindet. Wie der ersehnte Aufstieg mit eigenen Werken erst zögerlich, dann aber zuverlässig gelingt, schließlich in Welterfolgen kulminiert, zeigt sich in Tragesers Akzentverlagerung auf die Hauptwerke, deren Inhalte, auf das Personentableau der Librettisten, Hauptinterpreten und TheaterchefInnen, last not least auf das fortan extensiver zitierte Presseecho, in dem auch Kritisches, etwa zu kommerziellen Winkelzügen wie Claqueur-Aktionen oder handlungsbrechenden Wiederholungen der Hauptschlager, nicht zu kurz kommt. Neben leidigen Possenmusiken landet 1871 das „Lebensbild mit Gesang“ Drei Paar Schuhe einen Coup. Das Singspiel Ein nagender Wurm veranlasst das Blatt Der Floh 1872 zu einem vielsagenden Stilvergleich: „‘Könnte man Offenbach den musikalischen Heine nennen, so wäre Millöcker der Adalbert Stifter in der Musik.‘“ (S. 51) Im favorisierten Operettengenre aber markiert 1878 Das verwunschene Schloss einen ersten Durchbruch. Neben dessen Texter Alois Berla sind in dieser Phase noch O.F. Berg und Karl Costa zu nennen. Unangefochtene Ikone und oberster Maßstab aller Bühnenerfolge wird in den Hauptrollen der legendäre Alexander Girardi. Und wie Millöckers Verhältnis zu diesem Star mit seinen Allüren im Bühnenbetrieb nicht ungespannt bleibt, kommt es kompositorisch zu einer kollegialen Konkurrenz mit Strauß. Innigere Freundschaft verbindet ihn mit dem späteren Uraufführungs-Ollendorf Felix Schweighofer.

Und wie auch Strauß profitiert Millöcker epochal ab 1879 vom Duo der Librettisten-Päpste Richard Genée und Friedrich Zell – dergestalt, dass Millöcker nach dem Riesenerfolg des Bettelstudenten 1882 künftig freischaffend leben und, dekoriert mit unzähligen Ehrungen, seine Werke im deutschsprachigen Raum dirigieren und ihren Anklang sogar jenseits des Ozeans bestätigt sehen kann. Zunächst stolziert Gasparone weiter auf dem Höhenkamm, Beachtung finden Walzer- und sonstige Melodienseligkeiten sowie – Millöckers Spezialität seit je – die schlagkräftigen Couplets im Vizeadmiral oder dem Feldprediger, ein Volksopern-Experiment Die sieben Schwaben, auch – und das mit Welterfolg – ein zeitnahes Sujet im Armen Jonathan. Die jüngeren Kräfte Hugo Wittmann und Julius Bauer textieren. Mancher Rezensent aber konstatiert in der Folge nachlassende Inspiration und fehlenden Witz – wie bei Millöcker, so auch im Operettengenre, dem nach 1900 erst „silberne“ Operettenmeister aus der Talfahrt helfen sollen und können. Lehár aber ist hier nicht das Thema. Zum 125. Todestag Millöckers arbeitet Trageser Rezeptionsverschiebungen in NS-Zeit und Nachkriegsdeutschland heraus und weist plausible Wege, um die lebendig gebliebenen Werke stilgerecht, die musikalisch zu Unrecht vergessenen Schätze (Liste im Anhang) in dramaturgisch adäquatem Rahmen zu präsentieren. Zustimmung!

Andreas Vollberg
Köln, 08.10.2024

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