Jan Reetze: Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn“ [Manfred Miersch]

Jan Reetze: Die Geschichte von Kraftwerks „Autobahn“. Jan Reetzes Liebeserklärung an ein 50 Jahre altes Album. – Bremen: Halvmall, 2024. – 162 S.: 42 s/w-Abb.
ISBN 978-3-9822100-4-9: EUR 18,00 (Klappenbrosch.)

KRAFTWERK hat längst einen Platz im Olymp des Popmusik-Himmels, und auch längst die Museumsreife erlangt. Doch im Jahr 1981 waren in der Ausgabe 24 des Magazins Der Spiegel noch etliche despektierliche Äußerungen über die Band zu lesen, da stand z.B.: „So konnten sie in der Abgeschiedenheit ihre einfachen Blubber- und Piep-Rhythmen programmieren, schlichte Melodien zum raschen Verzehr in Fahrstuhl und Disco, bierernst-einfältige akustische Illustrationen ihrer Computerwelt.“

Dennoch musste der Verfasser des Artikels eingestehen „Der Verkaufserfolg der für Amerikaner oder Engländer seltsam exotisch klingenden Autobahn-Nummer trug viel dazu bei, den Synthesizer als Pop-Instrument durchzusetzen.“ – um dann gleich nochmal nachzulegen: „Nach dem synthetischen Autobahn-Werk verkauften die deutschen Knöpfchendreher 2,5 Millionen Exemplare mit Futuristenkitsch auf den LPs Radio-Aktivität, Trans Europa Express und Die Mensch-Maschine; die Maschinen-Liedchen der neuen Computerwelt-Platte fanden seit Anfang Mai in Deutschland schon 65 000 Käufer.“

Auf Computerwelt rappt Ralf Hütter die Zeilen „Am Heimcomputer sitz’ ich hier / und programmier’ die Zukunft mir“.
Wir wissen nicht, mit welchem Programm der Futurist damals seine erfolgversprechende Zukunft programmierte, aber eines ist klar: der internationale Erfolg begann für die Band durch ein Stück wahrhaftiger Programm-Musik, dem oben schon erwähnten Autobahn.

Eine Instrumentalmusik, die versucht, äußere Geschehnisse durch Musik zu illustrieren und die Gedanken des Hörers in die beabsichtigte Richtung zu lenken, wobei der außermusikalische Inhalt bereits im Titel erkennbar ist, diese Art von möglichst realistisch abbildender „Tonmalerei“ war im Bereich der Klassik besonders im 18. und 19. Jahrhundert beliebt.

KRAFTWERK gingen in ihrer Zeit neue Wege, indem sie elektronisch erzeugte Klänge dabei verwendeten. Und auch sonst betraten sie Neuland:
Während Modest Mussorgsky den Gang durch die Bilder einer Ausstellung musikalisch illustrierte oder Antonio Vivaldi Die vier Jahreszeiten abbildhaft in Musik umsetzte und Friedrich Smetana Die Moldau instrumental lieblich plätschern ließ, widmeten sich KRAFTWERK ausgerechnet einer Fahrt auf Adolfs Autobahn (typisch deutsch!) und das Cover der Schallplatte von 1974 (ein Bild von Emil Schult) ähnelt auffallend dem Werbeplakat Reichsautobahnen in Deutschland von 1936. Schlimm!
Noch schlimmer: das Cover der auf das Album »Autobahn« nachfolgenden Schallplatte («Radio-Aktivität» von 1975) zeigt die Vorder- und Rückseite eines Volksempfängers, dem berüchtigten Propaganda-Radioapparat der Nationalsozialisten.
Da passt es ja, dass KRAFTWERK im Januar 2015 tagelang in der Berliner Neuen NATIONALgalerie auftreten durfte! Heute wäre das wohl nicht mehr möglich, da würden die vier alten weißen Musiker aufgrund des genannten Kontextes vorher sehr wahrscheinlich von jungen Woke Aktivist*innen entführt und auf der Autobahn festgeklebt werden.

Und solche Musik kann man mögen? Ja, wie Jan Reetze uns mit der vorliegenden Publikation beweist. Er liefert eine leidenschaftliche Liebeserklärung an KRAFTWERKs Autobahn.
Damit wäre nun auch das eher satirische Präludium dieser Rezension beendet und der Blick auf den Inhalt des Buches eröffnet. Und der hat es in sich. Wie bereits in Reetzes Buch Times & Sounds. Germany’s Journey from Jazz and Pop to Krautrock and Beyond (Bremen, 2020) können Leser innen und auch außen Qualität erwarten: Das schön gestaltete Comic-artige Cover enthüllt aufgeklappt eine anschauliche Info-Grafik, die die verschiedenen Versionen von Autobahn in Beziehung setzt zu den B-Seiten der Veröffentlichungen, zu den unterschiedlichen Beteiligten, zu den verwendeten Instrumenten und zur jeweiligen Chart-Position. Die rückseitige Klappe des Buchs bietet eine Analyse zur Albumversion von Autobahn und eine Diskografie, die von 1970 bis 2024 reicht. Die Grafiken und auch das Cover stammen, was den Bild-Anteil betrifft und auch einige inhaltliche Informationen dazu, von Thorsten Breyer, der auch als Verleger des Buches verantwortlich zeichnet. Es gibt fünf Kapitel, sowie neun Seiten mit Anmerkungen und ein Quellenverzeichnis.

„Dieses Buch geht der Frage nach, was diese Platte einmalig macht, was das Besondere an ihr ist, was sie aus dem großen LP-Stapel herausragen lässt und woran das liegen könnte.“ So der Autor auf der dritten Seite des mit „Kaltstart“ betitelten ersten Kapitels.
Die wie gewohnt detailliert recherchierte Darstellung wird mit kurzen persönlichen Statements und biografischen Einschüben gewürzt (z.B. „Ich war 14, als ich die erste KRAFTWERK-Platte damals im Schaufenster eines Radio- und Fernsehgeschäftes sah [...]“, S. 35).
Das passt, denn ein großer Teil der Leserschaft des Buches wird aufgrund des Alters vermutlich ähnliche Erlebnisse mit direktem Bezug zu diesem Stück haben, das sich damals in Deutschland aufgrund seiner klanglichen Einzigartigkeit fest im Zeitzusammenhang verankerte. In dieser Zeit festigte sich auch der mittlerweile legendäre Ruf des Toningenieurs Conny Plank. Seine Mitwirkung bei den Produktionen der Band wird im Buch genauso beleuchtet, wie das Auftauchen und Verschwinden von oftmals sehr wichtigen Musikern, die sich unter dem Markennamen KRAFTWERK temporär um Ralf Hütter und Florian Schneider versammeln durften.

Ab Seite 75 folgt eine genaue Beschreibung der einzelnen Teile der autogerechten Komposition, mit vielen informativen Anmerkungen und persönlichen Assoziationen des Autors Jan Reetze, die dem hier anfangs erwähnten Funktionsprinzip von Programm-Musik perfekt entsprechen (z.B. auf Seite 76: In meinem Kopf stehen wir jetzt auf einem Parkplatz, der Verkehr rauscht von links und rechts vorbei.“).

Der Autor benennt dies im gleichnamigen Kapitel mit „Akustisches Storytelling“ (S. 81). Da wissen dann sicher auch jüngere Anglizismen-affine Menschen, was gemeint ist.
Denn das Buch mit seinem umfassenden Informationsgehalt ist durchaus nicht nur für Leute im Rentenalter interessant, gerade auch im Zuge eines bereits länger andauernden erfolgreichen Revivals analoger elektronischer Synthesizer und in der Nachfolge von musikalischen Genres wie House, Techno, EBM, EDM und Electro.

Die beachtliche Anzahl von Publikationen zum Thema (hier sei z.B. Rüdiger Eschs´ „Electri_City: Elektronische Musik aus Düsseldorf“ von 2014 genannt), kann als ein Nachweis andauernden Interesses gewertet werden, – quer durch die Generationen.
KRAFTWERK haben mit Autobahn ein Meisterstück abgeliefert. Eine Würdigung, wie das hier vorliegende Buch von Jan Reetze, war längst fällig und ist nun absolut zu begrüßen.

Manfred Miersch
Berlin, 19.10.2024

Dieser Beitrag wurde unter Kraftwerk (incl. einzelner Bandmitglieder), Krautrock, Neue Musik, Rezension, Stockhausen, Karlheinz (1928-2007) abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.