Anton Voigt: Alfred Cortot. Tastenpoet ‑ Lehrer ‑ Kulturakteur [Peter Sühring]

Anton Voigt: Alfred Cortot. Tastenpoet ‑ Lehrer ‑ Kulturakteur.‑ München: edition text + kritik, 2024. – 285 S.: Abb. (SOLO. Porträts und Profile)
ISBN 978-3-96707-708-7 : € 28,00 (kt.; auch als eBook)

In dieser Darstellung bleibt ‑ vor allem, was den (schreckliches Wort!) „Kulturakteur“ Alfred Cortot (1877-1962) betrifft, vieles im Ungefähren, tendiert zur hagiographischen Verschleierung, wo kritische Klarstellungen vonnöten gewesen wären. Was zunächst positiv erscheint, ist die unleugbare Tatsache, dass der Autor dieser Cortot-Monografie mit dem geistigen Milieu und dem kulturellen Umfeld sowie allen Realien des Lebens und Wirkens seines Helden auf Intimste vertraut ist und über einen großen Schatz von Dokumenten verfügt. Das hängt damit zusammen, dass er als Pianist Schüler zweier Cortot-Schülerinnen und -Vertrauten war, die ihn in diese Sphäre eingeführt und darin festgehalten haben; von kritischer Distanz zu seinem Gegenstand aber ist wenig zu spüren.

Die Überfülle des Materials schlägt dem Autor aber zum Nachteil aus, denn sie hat zu einem ausufernden Umfang, zugunsten vieler Belanglosigkeiten geführt. Jene historisch aufarbeitende Methode, die Voigt hauptsächlich kennt, scheint die Zitiermethode zu sein; nicht Schere und Papierkorb wie üblich, sondern fixierender Klebstoff scheint hier das Hauptarbeitsmittel gewesen zu sein. Aber als Serie von Dokumentarbiografien ist die Reihe SOLO bei der etk wohl eher nicht konzipiert. Oft wünschte man sich eine zusammenfassende Beschreibung und knapp bewertende Stellungnahme zu bestimmten Geschehnissen, anstatt einer ausgiebigen Zitatesammlung – unangenehm auffallend beispiels- und typischerweise bei der Begegnung von Cortot mit Stefan Zweig 1937 in London und den sich darum rankenden Austausch von (hier extra faksimilierten) Billets, dem noch ein Abstecher nach Paris angehängt ist mit platzraubenden nichtssagenden Zitaten über Begegnungen mit anderen Prominenten, mit denen Zweig dort viel vornehm gespeist und getrunken hat, kurz vor dem Einmarsch deutscher Truppen, wohl in einer Art „Grand Hotel Abgrund“.

Es sei gestattet, sich hier vornehmlich mit dem Aspekt der kulturpolitischen Aktivitäten dieses Künstlers und deren Darstellung durch Voigt zu beschäftigen. Die Germanophilie mancher französischer Musiker – wie auch die Wagnerphilie jüdischer Künstler ‑ ist ein seltsames Phänomen. Es wird schier unverständlich, wenn Liebe zur deutschen Musik einen Pianisten wie Cortot dazu verführen kann, mit einer totalitären und verbrecherischen deutschen Regierung zu kollaborieren und im nationalsozialistisch verseuchten Musikleben in Deutschland Konzerte zu geben wie im von den deutschen Besatzern kontrollierten Konzertbetrieb in Frankreich während der Okkupation als Pianist aufzutreten, um der verehrten deutschen Musik weiter zu huldigen. Cortot war in Frankreich das Gesicht der musikalischen Kollaboration. Es ist der altbekannte Furtwängler-Effekt: Immer wog seine Liebe zur deutschen Musik und die Treue zu seinem Staatsorchester mehr als der Verlust seiner künstlerischen Glaubwürdigkeit durch die Unterwerfung unter die Zwangsmaßnahmen des NS-Regimes. Hinzu kommt im Falle Cortots noch, dass bei ihm alles sehr in sich widersprüchlich, zu unstimmig ist, ja geradezu schizophren anmutet, als dass man es eindeutig entweder verurteilen oder rechtfertigen könnte. Voigt macht sich diesen Schwebezustand dahingehend zunutze, dass er eine angeblich besonders besonnene Art des Verstehens anbietet, die allerdings zu apologetisch schmeckt. Verglichen mit dem Widerstand, den viele verfolgte Musiker in der „inneren Emigration“ durch Verweigerung oder durch Flucht ins Exil um den Preis ihrer Auftrittsmöglichkeiten leisteten, scheint das Verhalten Cortots doch eher anbiedernd, selbstsüchtig und politisch bedenkenlos.

Cortots Rede von einer „deutsch-französischen Freundschaft“ in einem „neuen Europa“, der seinem eigenen Verständnis nach auch noch seine Kulturaktivitäten nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen gedient haben sollen, ist völlig vergiftet von der kulturpolitischen Propaganda der Nazis in jenem Teil Frankreichs, der unter der Marionettenregierung des von Cortot verehrten Marshalls Pétain stand und in dem er nicht nur weiter konzertierte, sondern auch administrative Kontrollfunktionen ausübte. Cortot gab nach seiner Rückkehr von einer Deutschlandtournee (allerdings ohne dort den von ihm verehrten Mendelssohn aufzuführen – kann man das, ohne seine künstlerische Glaubwürdigkeit zu verlieren?) der von den Besatzern herausgegebenen und gelesenen „Pariser Zeitung“ ein Interview, das dank seiner großzügigen Zitiermethode von Voigt hier vollständig abgedruckt, aber leider nicht weiter von ihm kommentiert wird.

Voigt legt großen Wert auf die von der offiziellen Linie abweichende Einstellung einiger führender Mitglieder der Propaganda-Staffel der deutschen Botschaft, die vorgaben, von einer Förderung eigenständiger französischer Kultur unter deutscher Besatzung zu träumen ‑ auch ein Ernst-Jünger-Zitat muss noch dazu herhalten, eine angeblich frankophile Einstellung dieser Leute zu illustrieren. Erst unter der deutschen Oberherrschaft könne die französische Kultur zu sich selbst kommen, d.h. befreit werden von der in Frankreich vor dem Krieg (vor allem während der relativ gelösten, aber trügerischen Atmosphäre der Volksfront-Regierung) beheimateten internationalen Avantgarde und den Juden – das war doch wohl der Grundgedanke jener angeblich frankophilen Strömung unter den Besatzern und das Bekenntnis des deutschen Kultur-Attachés Becker und seiner Entourage. Zu dieser Clique scheint Voigt auch den Interviewer der Pariser Zeitung, Albert Buesche, zu zählen. Voigt entschuldigt die üblen Floskeln, die Cortot gebraucht, um das deutsch-französische Verhältnis zu beschönigen („neues Europa“ etc.), damit, dass er sich ihrer hätte bedienen müssen, weil ohne sie der Bericht nicht hätte erscheinen können. Die sich sofort aufdrängende Frage, warum ein französischer Musiker überhaupt einer deutschen Besatzerzeitung ein Interview geben sollte, stellt Voigt nicht. Ein französischer Musiker, der sich der Unterdrückung der modernen Musik und der Musik von französischen Juden bewusst gewesen wäre und mitgelitten hätte, auch beispielsweise darunter, dass er nun Musik von Darius Milhaud nicht mehr aufführen durfte, könnte so ein Interview wohl nicht gegeben haben.

Man vermisst an dieser Art der Berichterstattung auch die Frage nach einer nicht vielleicht doch vorhandenen Empathie Cortots für verfolgte Musikerkollegen. Es ist aber gar nicht so, dass es vonseiten Cortots neben seinem Mitgefühl mit dem „Existenzkampf der Deutschen“ und seinen Sorgen um das Wohl der in Deutschland in Lagern gehaltenen französischen Kriegsgefangenen nicht auch Hilfe für in Deutschland und Frankreich verfolgte und mit Aufführungsverbot belegte Musiker gegeben hätte. Wie es dem verdächtigen Schema solcher Erzählungen entspricht, werden sie aber erst später, im Zusammenhang mit der nach 1944 durchgeführten offiziellen „Épuration“ (einer von Cortot vorhergesehenen und befürchteten Überprüfung oder Säuberungsaktion, der Voigt eine „moralische Berechtigung“ abspricht) aufgetischt. Es wurde Cortot bescheinigt, seine guten Beziehungen zu den Besatzern auch dahingehend verwandt zu haben, zehn jüdischen Musikern und Musikerinnen geholfen und sie vor der Deportation gerettet zu haben. Nur, wovor er sie damit bewahrt hatte, wollte er selbst gar nicht gewusst haben, denn erst von seinen amerikanischen Freunden, die er gleich nach der Befreiung von Paris zu sich lud, wollte er erfahren haben, wohin und mit welchem tödlichen Ziel die Juden Europas deportiert worden waren. Kann man das anders als weltfremd oder schizophren bezeichnen? Völlig verwischt erscheint hier die Tatsache, dass generell nur im Schatten der Kollaboration, des Stillhaltens und der versagten Hilfe der Franzosen ihren jüdischen Landsleuten gegenüber die Deportationen möglich wurden.

Neben den Floskeln, die Voigt meint, ist aber auch der ganze Artikel in der Pariser Zeitung mit den Ausführungen Cortots ein einziger Stuss und Schmus und zeigt, wie tief Cortot gesunken und wie weit er auf die Seite der faschistischen Kulturheuchler übergelaufen war. Für den kulturpolitischen Aktivisten Cortot hat Voigt den seltsamen Begriff „Kulturakteur“ geprägt. Wenn er über das notwendige ideologiekritische Besteck verfügen würde, hätte ihm auffallen müssen, dass solche Aktivitäten und Äußerungen die erforderliche Folie waren, derer es bedurfte, damit sich Cortot seine Auftritte als Künstler am Klavier, als „Tastenpoet“ in kriegerischen Zeiten um den Preis einer unterwürfigen Anpassung sichern konnte. Es gab übrigens auch germanophile französische Musiker, die sich keiner der kriegführenden Parteien unterwarfen, auch nicht der eigenen Regierung anschlossen, und schon gar nicht einer als Kulturnation auftrumpfenden deutschen, wie Romain Rolland, dessen Verhalten im Ersten Weltkrieg auf eine noble Weise neutral war und der von allen Seiten eine Beendigung des Krieges und einen Verständigungsfrieden forderte.

Der besonders edle, geistesaristokratische Künstlertypus, den Cortot repräsentieren will, seine klavieristischen und interpretatorischen Fähigkeiten sowie seine pädagogischen Ambitionen werden in dieser Monografie anschaulich und treffsicher geschildert. Sie gehen auch aus den fünf angehängten schönen Artikeln Cortots über solche Fragen hervor. Es wäre unsinnig, Cortot wegen seiner politischen Verfehlungen diese Qualitäten abzusprechen. Ebenso wenig aber lässt sich leugnen, dass der Grad der politischen Fehlorientierung während des Zweiten Weltkriegs bei Cortot so gravierend auch in seine künstlerischen Überzeugungen, seine Taten und Unterlassungen eindrang, dass sein künstlerischer Edelmut nicht unbeschädigt daraus hervorgegangen ist und ihm dies auch nicht verziehen werden kann, worüber Voigt großzügig und eigentlich wider besseres Wissen, über das ja keiner so verfügt wie er, hinweggeht.

In einer positivistischen, pseudoarithmetischen Manier schreibt Voigt Zwischenüberschriften mit vorausgehenden Zahlen von 1.1 bis 3.5, womit er exakte Ableitungen suggeriert, die aber nirgends geleistet werden. Wofür stehen denn die vorderen Leitzahlen 1, 2 und 3? Hier hätte man eigentlich gerne ganz normale Kapitelüberschriften gesehen, die über Thema und inhaltlichen Zusammenhalt der jeweiligen Blöcke Auskunft geben. Die Gliederung, weder konsequent chronologisch, noch konsequent thematisch, erschließt sich nicht.

Peter Sühring
Bornheim, 23.03.2025

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