Eva Nesselrath: Caroline Unger (1803–1877). Karriere – Stimme – Kompositionen – Würzburg: Königshausen & Neumann, 2024. – 575 S.: Noten, Ill.
(Musik – Kultur – Geschichte 21)
ISBN 978-3-8260-8746-2 : 68,00 € (kart.; auch als eBook)
Die Namen großer Sängerinnen des 19. Jahrhunderts wie Wilhelmine Schröder-Devrient, Henriette Sontag, Jenny Lind oder Maria Malibran sind ausgewiesenen Opernkennern durchaus geläufig. Dagegen ist Caroline Unger, die den genannten Kolleginnen an Einfluss und Erfolg in nichts nachstand, weitgehend in Vergessenheit geraten. In der deutschsprachigen Rezeption fand sie meist nur Erwähnung in Zusammenhang mit der Uraufführung der 9. Sinfonie von Beethoven, die am 7. Mai 1824 im Wiener Kärntnertortheater stattfand und in der sie als Alt-Solistin mitwirkte. Am Schluss soll die junge Sängerin den bereits völlig ertaubten Komponisten zum Publikum gedreht haben, damit er den frenetischen Beifall sehen konnte. In ihrer späteren Wahlheimat Italien wiederum fand dieses Ereignis keine Beachtung, hier zählten nur Ungers Erfolge als Primadonna.
In der vorliegenden Publikation rekonstruiert die Altistin und Musikwissenschaftlerin Eva Nesselrath anhand vieler zeitgenössischer Quellen das Bild einer Künstlerin, der es in bewundernswerter Weise gelang, sich erfolgreich zwischen den Welten zu bewegen: zwischen dem Gesangsstil in der Tradition Mozarts und Schuberts und dem Belcanto der italienischen Oper der 1830er Jahre, zwischen deutscher und italienischer Musikästhetik, zwischen zwei nationalen Identitäten, sich stimmlich von Alt bis Sopran hinauftrainierend, emotional zwischen dem konsequenten Streben nach künstlerischer Selbstverwirklichung und der Sehnsucht nach einem bürgerlichen Leben.
Caroline Unger wurde am 28. Oktober 1803 in Alservorstadt, einem heutigen Stadtteil Wiens, geboren. Der Vater Johann Carl Unger, Jurist und Schriftsteller, war mit Beethoven befreundet, Franz Schubert vertonte zwei seiner Gedichte. Die Eltern investierten viel in die Bildung ihrer Tochter. So erhielt sie Gesangsunterricht bei Mozarts Schwägerin Aloisia Lange und bei Johann Michael Vogl, einem Freund Franz Schuberts. Durch ihn lernte sie dessen Lieder kennen und lieben, für deren Verbreitung sie sich zeitlebens einsetzte. Ihr Klavierlehrer war Mozarts Sohn Franz Xaver Mozart.
Mit siebzehn Jahren debütierte Unger als Dorabella in Mozarts Oper Cosí fan tutte am Kärntnertortheater. Nach ersten Erfolgen als Konzertsängerin und in italienischen Opernpartien ging sie 1825 nach Italien, wo sie sich der Aussprache wegen Ungher schrieb. Innerhalb weniger Jahre stieg sie dort zu einer der berühmtesten und am besten bezahlten Primadonnen ihrer Generation auf. Sie gastierte an allen großen Häusern sowie in Paris, Wien und Dresden und feierte mit Opern von Rossini, Bellini und Donizetti beispiellose Triumphe. Letzterer schrieb ihr gleich mehrere Titelpartien auf den Leib. Doch nicht nur für ihre sängerischen, auch für ihre schauspielerischen Fähigkeiten wurde sie enthusiastisch gefeiert. Franz Liszt hielt sie für die „größte Bühnenkünstlerin“ […] „die über die Bretter Europas schreitet“[1]. Der Erfolg schien ihr jedoch nicht zu Kopf gestiegen zu sein, denn sie wurde von den Zeitgenossen als liebenswürdig, bodenständig und bescheiden charakterisiert. So zum Beispiel auch von Robert Schumann, der ihr 1841 bei einer Abendgesellschaft in seinem Haus begegnete und von ihrem Gesang so ergriffen war, dass er weinen musste.[2]
Privat hatte Caroline Unger zunächst wenig Glück: Liebesbeziehungen mit den Schriftstellern Alexandre Dumas (dem Älteren) und Nikolaus Lenau waren nur von kurzer Dauer. Schließlich heiratete sie mit 38 Jahren den um 15 Jahre jüngeren französischen Kunstmäzen und Übersetzer François Sabatier und nahm Abschied von der Bühne. Das Ehepaar ließ sich in Florenz nieder, wo Unger bereits eine Villa besaß (die man heute übrigens als Luxus-Ferienwohnung buchen kann!). Hier wirkte sie als angesehene Gesangslehrerin, geschickte Netzwerkerin und Gastgeberin eines florierenden Salons, in dem sich Persönlichkeiten aus Kultur und Politik trafen. In diesem Rahmen und in privaten Konzerten trat sie häufig als Interpretin von Liedern Franz Schuberts und gelegentlich auch ihrer eigenen Lieder auf. Am 23. Mai 1877 starb Caroline Unger mit 73 Jahren in Florenz.
All das liest sich spannend und gar nicht trocken, wie der nüchterne Titel und der umfangreiche wissenschaftliche Apparat zunächst erwarten ließen. Man erfährt viel über den Opernbetrieb jener Zeit und über die Strapazen und Gefahren, denen reisende Sängerinnen ausgesetzt waren. Neben der Rekonstruktion von Ungers Karriereweg sind größere Themenblöcke dem Vokal- und Rollenprofil der Sängerin, ihrer gesangspädagogischen Tätigkeit sowie ihrem kompositorischen Schaffen gewidmet. 46 Lieder wurden unter dem Titel Lieder, Mélodies et Stornelli di Caroline Ungher-Sabatier veröffentlicht, deren Manuskripte laut Nesselrath nicht zugänglich sind (warum nicht, erfährt man leider nicht). Sie lassen Einflüsse Franz Xaver Mozarts, Franz Schuberts und Felix Mendelssohn Bartholdys erkennen, aber auch Anklänge an italienische Opern und Volkslieder. Eine Auswahl hat Eva Nesselrath 2021/2022 mit ihrem Begleiter Tobias Koltun eingesungen; die CD mit dem Titel Zwischen Welten ist über ihre Website zu beziehen.
Ein umfangreicher Anhang mit tabellarischen Übersichten der Opernpartien und der Lieder, Quellenverzeichnissen und Literaturnachweisen rundet den Band ab. Ein Personenregister wäre schön gewesen, aber das hätte den Rahmen des weit über 500 Seiten starken Buches wohl gesprengt.
Nach der Lektüre erscheint es noch unverständlicher, warum eine faszinierende Künstlerpersönlichkeit vom Format Caroline Ungers im deutschsprachigen Raum so lange durch das Raster der Musikforschung fiel. Es ist Eva Nesselraths Verdienst, sie – hoffentlich nicht nur für den Moment – wieder in das Bewusstsein von Musikwissenschaftlern, Musikern und Publikum gerückt zu haben. Zu Recht kürte die Zeitschrift Opernwelt in ihrer Dezember-Ausgabe 2024 die Publikation zum Buch des Monats.
Verena Funtenberger
Essen, 24.02.2025
[1] Wiener Theater-Zeitung, Jg. 32 Nr. 76, 16.04.1839. Zitiert in Eva Nesselrath, S. 464, Fußnote 11
[2] Robert Schumann, Tagebücher, Bd. 2, Leipzig 1987. Zitiert in Eva Nesselrath, S. 363, Fußnote 32