Björn Gottstein: Der Klang der Gegenwart. Eine kurze Geschichte der neuen Musik. – Ditzingen: Philipp Reclam jun., 2024. – 272 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-15-011320-2: € 28,00 (geb., auch als eBook)
Darstellungen zur Musikgeschichte leiden häufig darunter, dass das Buchformat zwar Zitate, Notenbeispiele und Abbildungen zur Verlebendigung der Argumentation erlaubt, aber keine unmittelbare musikalische Erfahrung durch die parallele Einbindung von Klangbeispielen ermöglicht. Besonders im Fall der Musik des 20./21. Jahrhunderts ist das prekär, kann doch außer bei Spezialisten und Kennern wohl kaum eine hinreichende Hörerfahrung mit den betreffenden – auch vielfach den traditionellen Werkbegriff erweiternden – Kompositionen vorausgesetzt werden. So bleibt es in den Publikationen zur Musik der Gegenwart meist bei Ansätzen, eine chronologische Abfolge mit Strukturgeschichte und Gattungszusammenhänge mehr oder weniger lieblos zusammenzuführen und es dem Leser zu überlassen, ob er sich auf eine Beschäftigung mit der Musik dieser Zeit einlassen will.
Während im angloamerikanischen Raum alternativen – auch journalistischen – Darstellungsformen zur Musik der Gegenwart weitaus mehr Raum eingeräumt wird (erinnert sei nur an die auf Deutsch erschienene Darstellung von Alex Ross, The Rest ist Noise: Listening to the Twentieth Century aus dem Jahr 2007, die im Buch genannt wird), fehlen solche Heranführungen bislang auf dem deutschsprachigen Buchmarkt. So ist es zu begrüßen, dass mit der vorliegenden Publikation den interessierten Lesern nun eine gute Möglichkeit geboten wird, sich seriös, aber nicht mit dem strengen Anspruch einer (zu) ambitionierten Wissenschaftlichkeit, der Musik unserer Zeit zuzuwenden. Der 1967 geborene Autor Björn Gottstein, langjähriger Leiter unter anderem der renommierten Donaueschinger Musiktage und schon von daher mit allen Spielarten des zeitgenössischen Komponierens vertraut, richtet sich mit seiner gut lesbaren Darstellung zwar an ein breites Publikum, vermittelt aber auch den mit neuer Musik vertrauten Hörern neue Einsichten durch veränderte Blickwinkel. Seine Gliederung bricht mit der Orientierung nach rein chronologischen Kriterien und führt mit den Themen der 17 Kapitel ästhetische Phänomene nach ihrer internen Zusammengehörigkeit zusammen: So entstehen perspektivische Darstellungen, die zeitlich weit auseinanderliegende Werke näher zusammenrücken lassen und Phänomene, die scheinbar durch tiefe ästhetische Gräben getrennt sind (wie in der E- und U-Musik üblich), als verwandt kenntlich machen. Durch die unterschiedlichen Akzentsetzungen (Politik, Elektronische Musik, Digitalisierung, Weltmusik, Mikrotonalität, Aleatorik, Graphik, Medien, Improvisation u.v.a.m.) erschließt sich dem Leser die Musik der Gegenwart in ihrer Vielfalt und erlaubt es ihm, sich je nach Neigung und Interesse auf den vorgeschlagenen Bahnen seinen eigenen Weg durch das häufig undurchdringlich erscheinende Gelände der zeitgenössischen Musik zu beschreiten. Äußerst positiv ist auch, dass der Autor ohne Vorurteile oder Vorlieben und ohne dogmatische Voreinstellungen hinsichtlich dessen, was sich nun wirklich als die einzig wirklich „Neue Musik“ nennen darf, an seinen Gegenstand herangeht; der Leser muss und soll sich selbst sein eigenes Urteil bilden.
Zu wünschen bleibt dem Buch in der nächsten Auflage allerdings eine stimmigere Lektüre-Auswahl unter den „Leseempfehlungen“ (S. 255). Die vorliegende Liste mit gerade einmal zwölf äußerst heterogenen Titeln zum Thema ist für die angestrebte Leserschaft wohl kaum weiterführend.
Markus Bandur
Berlin, 30.11.2024