Luigi Nono. Zur Frage der Wende / Hrsg. von Ulrich Tadday [Rüdiger Albrecht]

Luigi Nono. Zur Frage der Wende / Hrsg. von Ulrich Tadday. – München: edition text + kritik, 2024. – 121 S.: Notenbsp., s/w-Abb. (Musik-Konzepte ; 206)
ISBN 978-3-96707-966-1 : € 28,00 (brosch.; auch als eBook)

Der neue Band der Reihe Musik-Konzepte ist eine Hommage an den venezianischen Komponisten Luigi Nono anlässlich seines 100. Geburtstags; wie es scheint, ist (und bleibt) es im Jahr 2024 die einzige größere deutschsprachige Publikation zu Ehren des Jubilars.

Das Buch bietet weniger – was nicht wertend gemeint ist – einen Ausblick oder eine neue Sicht auf bislang wenig beachtete Aspekte in Nonos Schaffen oder auf vernachlässigte Werke, große Teile des Frühwerks etwa; der Sammelband greift vielmehr auf den ersten Musik-Konzepte-Band über Nono von 1981 zurück. Beide Bände bilden eine zeitliche und inhaltliche Klammer: Der Abstand von 43 Jahren entspricht recht genau dem Umfang von Nonos Komponistendasein, den Jahren 1948 bis 1990, und an die Stelle von Irritation und Standortbestimmung tritt nun ein deutlich gelassenerer Blick auf ein Kapitel der jüngeren Musikgeschichte. Die Frage nach einer angeblichen Wende, weg vom Politischen hin zu einer, damals hoch im Kurs stehenden neuen Innerlichkeit, wie seinerzeit gemutmaßt wurde, greift der neue Band auf, ohne diese, wie der Herausgeber Ulrich Tadday meint, abschließend und einheitlich beantworten zu wollen.

Im Fokus der damals, um 1980, leidenschaftlich geführten Debatte stand das Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima. Dass besonders dieses Werk den Übergang zum Spätwerk Nonos markiert, wurde erst Jahre später klar; dass Nono sich hier – wie fast übereinstimmend konstatiert wurde – vom Konzept einer politischen Musik abwandte, deuteten insbesondere Nonos italienische Weggefährten als Verrat, bezeichnend hierfür war Luigi Pestalozzas in kämpferischem Ton gehaltener Beitrag. Heinz-Klaus Metzger gelang es damals, mit einer seiner unnachahmlichen gedanklichen Volten den Widerspruch ad absurdum zu führen: „Auch Nonos scheinbare Klausur in der Entrücktheit des persönlichen Kabinetts eines introvertierten Komponisten des romantischen Zeitalters, der Kammermusik von einer Subtilität ohnegleichen austüftelt und von der inkompetenten Welt draußen nicht gestört sein mag, ist in Wahrheit gerade weltbewegend.“

Die sechs Autorinnen und Autoren des aktuellen Musik-Konzepte-Bandes gehören zu den derzeit renommiertesten Nono-Expertinnen und -Experten. Im Zentrum der Betrachtungen stehen zwei Werke der fraglichen Wende (das Streichquartett und sofferte onde serene), ein frühes Werk (Il Canto sospeso) sowie zwei späte (Prometeo und Découvrir la subversion), dessen letzterem allerdings – zweite Einschränkung! – der Werkstatus offiziell aberkannt wurde.

Laurent Feneyrou, der zwei fundierte Bücher über Nono publiziert hat, eines über den Canto sospeso und eines über das Streichquartett, ruft ebendiese beiden Werke in den Zeugenstand, um nachzuprüfen, wie sich Früh- und Spätwerk konzeptionell zueinander verhalten. Den Hauptunterschied erkennt Feneyrou in der Formbildung. Die sieben Sätze und die Großform des Canto sospeso sind zielgerichtet strukturiert und bilden geschlossene Formen. Die Auflösung des musikalischen Satzes, insbesondere durch Textfragmentierung, folgt trotz eines „Pointillismus“, wie es Feneyrou etwas missverständlich formuliert (S. 13), der Textvorlage. Diese, in eine Utopie mündende Kontinuität, quasi ein „aspera ad astra“, treffe auf praktisch alle frühen Werke zu, bis hin zum Musiktheaterwerk Al gran sole carico d’amore. Dem Streichquartett hingegen – und allen späteren Werken – liege eine andere Materialbehandlung zugrunde, deren Kennzeichen die Fragmentierung, „Zertrümmerung“ und Neuanordnung des vorgeordneten Materials bis hin zur „Fragmentierung des Fragments“ sei. An die Stelle von Kontinuität tritt ein zielloses Wandern, ein Topos, der Nonos Texte aus den letzten Lebensjahren durchzieht. Feneyrou relativiert Nonos politisches Engagement und behauptet, Nono habe sich nicht von der Politik abgewendet, es hätten nur Verschiebungen stattgefunden, von García Lorca im Frühwerk hin zu Fidel Castro in den teils plakativen Werken der 1960er Jahre und nun, um 1980, zu Hölderlin, der durch Pierre Bertaux‘ 1978 erschienene und vielbeachtete (heute indes umstrittene) Studie eine politische Lesart erfuhr und in der die Diagnose Geisteskrankheit infrage gestellt wurde. Die Argumentation Feneyrous verstellt möglicherweise eine andere, bislang kaum beachtete Sichtweise auf die Werke jener angeblichen „Wendezeit“, eine Sichtweise, die gerade im Streichquartett, dessen Stellung im Schaffen Nonos in jeder Hinsicht singulär ist, Schichten freizulegen vermag, die über eine nur auf das fragmentierte Hören sich stützende Analyse und Rezeptionshaltung hinausführt.

Paulo de Assis datierte Nonos Wende bereits in seinem 2005 erschienenen Buch in die Mitte der 1970er Jahre, deutlich früher als Feneyrou und andere Autoren. Die Klavierkomposition mit Tonband sofferte onde serene, vier Jahre vor dem Streichquartett entstanden, erfülle hierfür alle Kriterien; De Assis konstatiert – was heute weitgehend Konsens ist – keine prinzipielle Abwendung des Politischen in Nonos Denken. Das Klavierstück sei das erste Werk, dem eine Aufforderung zum Hören innewohne, es trage aber keine politische Botschaft. Eigenartigerweise unterschlägt De Assis hier das Zitat der Internationalen, das vor allem im Anfangsteil des Klavierstücks deutlich hörbar ist und das den Schlussgesang aus Al gran sole, dem Vorgängerwerk, aufgreift. Das Klavierstück ist mehr noch als das Streichquartett voller hörbarer Anklänge: Schatten der Verstorbenen (Nonos Eltern), Schatten auch der Glockenklänge, vom Wind über die Lagune Venedigs getragen, sind in die teils belassenen, teils verfremdeten Klavierklänge auf dem Zuspielband eingeflossen. (Werden die Klangquellen in der Aufführung voneinander separiert, was leider häufig geschieht, verliert sich das Bild des Schattens, das Werk ist nicht mehr adäquat darstellbar). De Assis zeigt anhand anschaulich präsentierter und leicht nachvollziehbarer Analysen kompositorische Verfahren im Aufbau von Akkorden und in der Anwendung quasi-kanonischer Verfahren, die dem Klavierstück eine Sonderstellung in Nonos Schaffen zuweisen.

Drei Beiträge sind dem Prometeo. Tragedia dell’ascolto, dem Hauptwerk der 1980er Jahre, gewidmet. Die überaus aufwändig zu realisierende „Hörtragödie“, die sowohl an die Hörer als auch an die Exegeten größte Anforderungen stellt und sich dem unvorbereiteten Zugang sperrt, ist dank ihrer Komplexität Gegenstand zahlreicher teils umfangreicher Studien und nimmt auch hier den größten Platz ein. (Es fragt sich indes, ob es wirklich eine glückliche Idee war, die bekanntesten und am häufigsten untersuchten Werke Nonos hier erneut in den Fokus zu rücken – einmal abgesehen davon, dass die Fragestellung des Buches dies nahelegte –, beweist aber auch deren unverminderte Anziehungskraft). Die drei AutorInnen nähern sich dem Prometeo auf je unterschiedlichen Wegen. Pauline Driesen bezieht in ihre sehr aufschlussreiche Arbeit Skizzen aus dem Nachlass Nonos mit ein und kommt in der Analyse der Abschnitte „Tre Voci a“ und „Isola III-V“ zu im Wesentlichen zwei Schlussfolgerungen: Anhand der Skizzen und Entwürfe zu den Gesangsstimmen zeigt sie auf, wie aus den in mehreren Stufen immer wieder neu angeordneten und übereinander gelagerten Stimmen etwas völlig Neues entsteht, auch wenn das Ausgangsmaterial zwischen „Das atmende Klarsein“ und „Guai ai gelidi mostri“ stets gleich bleibt. Die Instrumentalstimmen hingegen sind das Resultat weniger komplizierter Operationen, ihre Funktion ist eine andere – Situationen zu schaffen, die das Experiment im Moment der Aufführung zulässt und herausfordert. Sie resultieren nicht aus dem Experiment, das Werk wird stattdessen um eine Kategorie der Offenheit bereichert. Die Partituren des Prometeo und anderer Spätwerke bilden daher keine abgeschlossenen Werke; ohne tradierte Aufführungspraxis sind sie nicht realisierbar.

Jörn Peter Hiekel untersucht das komplexe Beziehungsnetz – er nennt es Resonanzen –, welches Cacciari und Nono um den Prometeo geknüpft haben und nimmt hierbei insbesondere den zentralen Hölderlin-Abschnitt in den Fokus. Hiekel erkennt, gerade in der Textbehandlung, eine Kontinuität vom Canto sospeso hin zum Prometeo (S. 70), wodurch er eine Gegenposition zu Feneyrou einnimmt, der hier das Gegensätzliche betont (S. 14). Matteo Nanni greift die Frage der Wende noch einmal auf und konsultiert hierfür den Briefwechsel Cacciari – Nono. Nicht von Leugnung oder Abwendung vom Politischen könne nunmehr die Rede sein, sondern von einer Umwandlung und Erweiterung des Denkens (was auch Nuria Nono-Schoenberg kürzlich in einem Gespräch in Musik & Ästhetik bestätigte). Nono selbst weist in den Briefen an Cacciari darauf hin, dass die Suche und das Überschreiten eigener Grenzen eine Kontinuität seines Schaffens seien. Das Politische seiner früheren Werke, so Nanni, berge eine (an das Werk angeheftete) Referenzialität, deren Abwesenheit in etlichen späten Werken deren eigentliche Radikalität verdecke: das Politische im Prozess des Hörens.

Ein letzter Beitrag ist Découvrir la subversion. Hommage à Edmond Jabès gewidmet, einem Werk, das Nono nie ausnotiert hat. Auf dem Mitschnitt der einzigen Aufführung (in youtube abrufbar) können die sieben Abschnitte, wie sie Nono skizziert hat, durchaus identifiziert werden, exaktere Befunde indes lässt das Tondokument nicht zu. Die Autorin, Julia Kursell, die als spiritus rector den Musik-Konzepte-Band mitbetreut hat und außer ihrem Beitrag auch Übersetzungen beigesteuert hat, beschränkt sich daher aus gutem Grund auf die Textebene und wertet die Quellen zu dem Stück aus. Sie folgt den Stufen der Textwandlungen, die durch quasiserielle Verfahren aus den bereits höchst fragmentarischen Gebilden Jabès‘ etwas Neues haben entstehen lassen.

Dass dem Mitschnitt der Uraufführung, der ja immerhin über die Texte aber auch die formale Gestaltung einen eindeutigen Bezug zum Quellenmaterial dokumentiert, der Werkstatus aberkannt wurde, ist insofern problematisch, als auch manche Werke aus der Mitte der 1960er Jahre erst posthum zu einer Aufführungsfassung fanden, aber auch, weil Découvrir la subversion sowohl im Klangbild als auch im Gestus überraschend näher an jenen früheren Werken, wie z. B. a floresta è jovem e cheia de vida, ist als an den benachbarten Spätwerken vom Ende der 1980er Jahre. Julia Kursell gibt zu bedenken, dass diese Aufführung nur ein Schritt auf dem Weg hin zu einem Werk gewesen ist.

Der neue Nono-Band der Musik-Konzepte trägt alles in allem einen retrospektiven Charakter, bedingt durch den Rekurs auf die nunmehr historische Ausgangsfrage. Doch die durchwegs bereichernden Beiträge beweisen, auch zu einem Zeitpunkt, an dem Nonos Werk mit seiner eigenen Rezeptionsgeschichte konfrontiert beständig seine Aktualität erweisen muss, dass es eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Wende auch heute nicht geben kann und nicht geben muss.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 14.11.2024

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