Carl Reinecke als Schlüsselfigur des Leipziger Musikbetriebs im späten 19. Jahrhundert [Jürgen Schaarwächter]

Carl Reinecke als Schlüsselfigur des Leipziger Musikbetriebs im späten 19. Jahrhundert / Hrsg. von Claudius Böhm und Stefan Keym. – Altenburg: Kamprad, 2024. – 183 S.: Abb., Notenbsp., Tab.
ISBN 978-3-98753-024-1 : 29,80 € (geb.)

Das Schrifttum zu Carl Reinecke ist bis heute bedenklich überschaubar, die Forschungsliteratur umso ärger. Das sollte sich mit dem Jubiläumsjahr 2024 ändern, doch außer einem Tagungsband ist nichts erschienen. Es ist dies der zweite Tagungsband zu Reinecke in den vergangenen zehn Jahren (der andere erschien 2020 bei Olms, zehn Jahre nach der Tagung zum 100. Todestag), und beide zusammen eint, dass die Perspektiven zu Reinecke nur schlaglichtartig geweitet werden.

Die Kamprad-Veröffentlichung bleibt unentschieden zwischen Bildband und Sachbuch stecken, von einem Fachbuch oder einer wissenschaftlichen Publikation kann allein schon wegen der immer wieder ins Populäre abgleitenden Wortwahl nur stellenweise gesprochen werden. Darum seien zunächst die Qualitäten des Buchs als Bildband in den Blick genommen. Das Buch ist durchgängig vollfarbig und großflächig illustriert, viele Persönlichkeiten und Örtlichkeiten des Leipziger Musiklebens erhalten so im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht; ein Stadtplanausschnitt hilft sich vorzustellen, wo genau sich das Leben damals abspielte. Einige Dokumente illustrieren (in wirklich vorzüglicher Abbildungsqualität) auch Konzert- und Konservatoriumsleben. Leider sind die Bildlegenden häufig zu verknappt – die Unart, Fotografen nicht zu nennen, ist im vorliegenden Band konsequent durchgehalten.

Neun Beiträge enthält der Band – eigentlich zu wenig für eine Buchveröffentlichung, und der Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen, indem man eine größere Drucktype wählte, geht nicht auf. Ein eintägiges Symposion zeigt denn auch gleichzeitig. dass die Bemühung, Reineckes Bedeutung wirklich zu würdigen, von den Veranstaltern eher halbherzig verfolgt worden ist.

Vier Beiträge stellen den Buchtitel ins Zentrum – drei zum Gewandhaus, einer zum Konservatorium. 1860 begann Reineckes Karriere in Leipzig – er wurde Julius Rietz‘ Nachfolger als Gewandhauskapellmeister. Der Privatperson Reinecke ist in diesem Buch (wie auch schon in dem Vorgängerband) kaum Aufmerksamkeit geschenkt, dabei ist die Wechselwirkung zwischen reichem künstlerischen und administrativen Schaffen und nicht minder reichem Privatleben (er war liebevoller Vater einer reichen Kinderschar) gerade im Falle Reineckes ebenso wichtig wie Reineckes eigene Jugend; er berichtete rückblickend auf das Verhältnis zu seinem Vater: „seine Strenge und seine Gepflogenheit, meinen Willen zu brechen, auf daß ich seinen eigenen Willen als den allein gültigen anerkenne, hat er mich für mein ganzes Leben zu einer allzu weichen nachgiebigen Natur gemacht. Energie habe ich oft nur mir selbst gegenüber bewiesen, gegen Andere war ich oft zu meinem Schaden zu schwach.“ Gerade diese Nachgiebigkeit ist ihm auch im Leipziger Musikbetrieb mehrfach zum Nachteil geraten (beispielsweise verzichtete er im Rahmen seiner Gehaltsverhandlungen auf Pensionsansprüche).

Stefan Keyms eröffnender Beitrag mit dem provokanten Titel „Strippenzieher oder nur ein Rad im Getriebe? Carl Reinecke und die Leipziger Musiktradition des 19. Jahrhunderts“ hat vornehmlich einführenden Charakter und vertieft Reineckes tatsächliche Tätigkeit kaum; er verweist auf das von ihm geleitete DFG-Projekt zu Reinecke, dessen Ergebnisse noch nicht vorliegen. Das schäbige Verhalten der Gewandhausdirektion, die Reinecke 1895 buchstäblich absetzte und ihm den Nachfolger Arthur Nikisch zu weit besseren Gehaltskonditionen einsetzte, wird nur in Reineckes tabellarischem Lebenslauf erwähnt, dessen Autor übrigens nicht genannt ist. Das Repertoire der Gewandhaus-Konzerte zur Zeit Reineckes betrachtet skizzenhaft Linus Hartmann-Enke, der 2022 mit einer statistischen Analyse an der Universität Leipzig promoviert worden ist. Es geht also um Zahlen und Tendenzen, nicht um tatsächliche Werke und ihre Bedeutung für das Musikleben (oder gar um die nicht aufgeführten Werke, die ja in einer Statistik nicht auftauchen können) – hierfür bietet Rebecca Grotjahns Arbeit Die Sinfonie im deutschen Kulturgebiet 1850 bis 1875 (Sinzig 1998) zumindest teilweise tiefer gehende Erkenntnisse. Merkwürdigerweise erwähnt Hartmann-Enke nicht die Gewandhaus-Kammermusiken, obschon das Gewandhaus-Quartett laut Claudius Böhm die älteste noch heute bestehende Streichquartettvereinigung der Welt ist. Überhaupt muss für diese Thematik, die für das Wirken Reineckes nicht unerheblich ist, Böhms Buchpublikation Das Gewandhaus-Quartett und die Kammermusik am Leipziger Gewandhaus seit 1808 (Kamprad 2008) zu Rate gezogen werden. Böhm, seit 1991 Archivar des Gewandhauses, hat sich im vorliegenden Band nur eines kleinen Themas angenommen, der Einweihung des Neuen Gewandhauses 1884. Sein Beitrag ist auch jener, der Reineckes Leistung aus intimer Kenntnis der Dokumente würdigt – offenbar intimerer Kenntnis, als dies bei anderen Autoren der Fall ist.

Das Leipziger Konservatorium ist in den letzten Jahren mehrfach intensives Forschungsthema gewesen (viele Dokumente sind mittlerweile digitalisiert und über eine Datenbank erschlossen), und Johanna Schuler führt diese Tradition in vorzüglicher Weise fort: Ihre Einlassungen zu dem Hochschullehrer Reinecke sind umfassend und umfassen ebenso den Unterrichtsaufbau wie auch die Studierendenzahlen; aus Erinnerungen von Felix von Weingartner erhalten wir schlaglichtartig Einblicke in Reineckes Lehrtätigkeit, während Ethel Smyths Erinnerungen eher darauf angelegt sind, die Leipziger Professoren „in die Pfanne zu hauen“; der Rezensent hat den Verdacht, dass Reinecke mit Studienproben Smyths nicht zufrieden war und die junge Rebellin ihre Schwächen nicht einsehen mochte (die eher unreflektierte Perspektive Schulers beeinträchtigt ihren Beitrag in dieser Hinsicht).

Natürlich beschränkte sich Reineckes Tätigkeit nicht auf Gewandhaus und Konservatorium – doch andere Musikinstitutionen in Leipzig bleiben in dem vorliegenden Band ausgespart; wollen wir hoffen, dass sie im Rahmen des DFG-Projektes hinreichend erkundet werden.

Der zweite Teil des Bandes ist dem Musiker Reinecke unmittelbarer gewidmet. Ein dankbarer Bestand ist die Korrespondenz Reineckes mit dem Verlag Breitkopf & Härtel, der knapp 70 Erstveröffentlichungen von Kompositionen Reineckes auf den Markt brachte und damit die Spitzenposition unter Reineckes Verlegern einnahm. Reinecke war dem Verlag aber nicht nur als Komponist, sondern auch als Bearbeiter und Herausgeber der Musik anderer und als Berater und Gutachter zu Diensten. Dass Reinecke gegen Ende seiner Karriere eine eher konservative Perspektive einnahm („schwelgt in unschönen Harmonien, während von einer aecht musikalischen Arbeit kaum irgendwo etwas zuhören“, Briefzitat von 1900, S. 99), sollte ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, sondern ist wohl einfach natürlicher Teil seiner biografischen und musikalischen Entwicklung. Einen Fremdkörper in der Publikation stellt Peter Schmitz‘ Blick auf einige Korrespondenzpartner Reineckes dar, auf Joseph und Amalie Joachim, Robert Hausmann, Robert Radecke und Woldemar Bargiel; so eminent die Persönlichkeiten für sich, so erratisch und wenig auf das Buchthema bezogen die Auswahl.

Mit drei Werkbetrachtungen endet die Veröffentlichung – zum Oktett B-Dur op. 216 und Sextett B-Dur op. 271 für Bläser (Ann-Katrin Zimmermann), den Fabel-Vertonungen op. 277 (Thomas Schipperges) und der Ballade d-Moll/D-Dur op. 288 für Flöte und Orchester (Henrik Wiese); die Schwerpunktsetzung auf das Spätwerk ist gleichermaßen spannend wie entlarvend – wird doch Reineckes durchaus spannende kompositorische Entwicklung von 1860 bis zu seinem Tod in keinster Weise erfahrbar. Die analytischen Betrachtungen bieten viel Erhellendes und sind mit Gewinn zu lesen, zeugen aber auch ein wenig von einer schwachen Tagungsorganisation, die nicht stärker auf eine diversifiziertere Werkauswahl gesetzt hat.

So großzügig die Ausstattung des Buches auf den ersten Blick ist, so ärgerlich sind die Mankos sowohl im Lektorat (ich wies bereits auf die unvollständigen Bildinformationen hin; auch hätten einige Beiträge stärker mit Blick auf den Buchtitel nachgearbeitet werden müssen) als auch im Layout: die Texte können nicht richtig „atmen“ (sprich zu wenig Seitenränder), die Perspektive „Lieber weniger als mehr und längere Fußnoten“ ist einer wissenschaftlich ambitionierten Publikation nicht zuträglich. Aber das ist das Schicksal einer Veröffentlichung, die mehrerlei will und so nichts so ganz erreicht.

Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 02.03.2025

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