„ … als ob Musik die Welt verändern könnte”. Stefan Litwin. Texte und Gespräche / Hrsg. von Rainer Peters. – Hofheim am Taunus: Wolke, 2024. – 408 S.: Farb- u. s/w-Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-95593-142-1 : € 38,00 (Pb.)
Egal in welcher Gestalt uns Stefan Litwin gerade gegenübertritt – reiche, innere Befasstheit öffnet ihm manche Wahlfreiheit –, unweigerlich hört, sieht man sich fest. Was natürlich mit der Exzellenz seines Klavierspiels, was mit der obsessiven Disziplin seiner Komposition zusammenhängt, aber nicht allein daraus erklärbar ist. Anderes kommt hinzu. Namentlich eine an Brendel, an Bernstein erinnernde Fähigkeit zum nachdenkenden Sprechen über Musik. Aus einer Litwin-Lecture, soviel an Erfahrungswert darf der Rezensent an dieser Stelle einstreuen, kommt man immer anders heraus als man in sie hineingegangen ist. Das sind schon beglückte Momente, wenn Musik im reproduzierendem Nachvollzug ihrer Formgestalt vor unseren Ohren gerade noch einmal entstanden ist, wenn sie mit einem, diese Assoziation stellt sich ein, den schumannschen Waldszenen abgelauschten Verfahren, ihr Geheimnis mit uns zu teilen bereit ist, was auch im vorliegenden Sammelband mehrfach bezeugt wird. Das, zusammengenommen mit der Zweigleisigkeit des Pianisten und Komponisten, führt zu einer künstlerischen Verdichtung, die über die Jahre für kontinuierliche Abstrahlung sorgt, wobei alles noch einmal geschärft wird durch ein Selbstverständnis, das ums Politische keinen vornehmen Bogen macht. Kunst wie sie Stefan Litwin versteht, will weitertreiben, was mit Eisler, was mit Adorno in die Kunstwelt hineingekommen ist: Freilegen, was an Geschichte in Musik, in den Kompositionen sedimentiert ist. Mit Kunst auf Geschichte reagieren, reflektieren.
Soweit, in aller Kürze, holzschnittartig skizziert, die Ausgangslage, woraus folgt, dass der Litwin-sensibilisierte Musikfreund automatisch hellhörig werden muss, wenn Neues aus der aufgefächerten Produktivität des Künstlers in die Öffentlichkeit gestellt wird. Wie jetzt, da dieser 400-Seiten-Band, angefüllt mit „Texten und Gesprächen”, im Schaufenster steht, was natürlich sofort die andere Frage auslöst, ob und inwiefern das zum Blocksatz gefügte Wortgebirge Augenhöhe hält zu den Litwin-Recitals, den Litwin-Konzerten. Mit anderen Worten: Liest man sich auch fest?
Man kann die Frage bejahen, muss aber einschränken, führt die Lektüre doch durch ein Wechselbad von Begeisterung und Ratlosigkeit. Wenn wiederabgedruckte Booklet-Texte, fragmentierte Rundfunk-Sendemanuskripte, Premierenbesprechungen für die Tageszeitung neben gewichtigen Analysen von Meisterwerken der Klavierliteratur stehen, wird zunächst Disparatheit spürbar. Mit Originalbeiträgen geizt die Publikation. Was zu ihr letztlich geführt hat, bleibt in der Schwebe. Unter Verweis auf die auf Seite 402 mitgeteilten Abdrucknachweise hätte man immerhin sagen können: ‚So vieles, was schon über diesen wunderbaren Künstler geschrieben worden ist – hier wollten wir das Verstreute einmal für alle sichtbar zusammentragen, vor Euch hinstellen.‘ Einen Service-Gedanken, den man immerhin verstanden hätte. – Umgekehrt wird nicht recht klar, worauf der Fokus liegt. Manche Beiträge wie das von Lotte Thaler geführte, den Band eröffnende Interview, legt Künstlerbiographisches nahe. Herausgeber Rainer Peters deutet diesen Aspekt mit Verweis auf Litwins „Jewishness” ebenfalls an, ohne, dass dieses fraglos zentrale Moment im Hauptteil aufgegriffen, ausgeführt würde. Was bedeutet es denn für einen Musikprofessor an deutschen (Saarbrücken) und amerikanischen Hochschulen (Chapel Hill), für einen Pianisten, einen Komponisten, wenn er auf seine Herkunft schaut: in Mexiko getaufter Sohn jüdischer Eltern, die, so lesen wir mit nicht geringer Bewegtheit, „mit Glück, Geschick und Mut Hitlers Schergen entkamen”? Die „Identitätsfrage” habe sich Litwin, so der Herausgeber, „vermutlich besonders nachdrücklich gestellt”. Dem kann man nur zustimmen und hätte doch allzugern gewusst, wie sie beantwortet wird. Freilich bräuchte es dazu eine Fragehaltung, die die Identität nicht nur mit der Nichtidentität zu überblenden imstande ist, sondern überhaupt von ihr ausgeht, von negativer Dialektik also. Nur so, scheint es, bestehen Chancen, den Lebenswegen deutschsprachiger Künstler jüdischer Herkunft im 20. Jahrhundert überhaupt gerecht zu werden. Ein Kasus, in dem die Nachbarkünste weiter sind, in der Literatur etwa. Musik hinkt hinterher.
Unverständlich bleibt, dass ein im Herbst 2024 fertiggestellter Porträt-Band zu einer das Politische ernst nehmenden Künstlerpersönlichkeit die politischen Großverwerfungen der Zeit ausklammert. Die Publikation enthält sich jedes auch nur antippenden Hinweises auf einen 7. Oktober. Ist das wirklich keine Nachfragen wert? Solche nach der Wirkung auf Seele und Gemüt, nach Befindlichkeit also, ebenso wie nach möglichen Folgerungen oder auch Nicht-Folgerungen künstlerischer Natur und deren Erfolgsaussichten, wenn gewissermaßen gegen sich selbst, gegen das eigene Sprachloswerden angegangen werden muss? Und: Längst hat das Drama doch seine hiesigen Spielstätten kreiert. In Zeiten, da antisemitische Narrative nicht nur in Künstlerkreise hineinreichen, sondern von dort aus vorgetragen werden, ist Schweigen Untugend, in einem präzisen Sinn: unsachlich. Dass Initiativen in dieser Richtung im Übrigen mit guter Aussicht auf Beantwortung hätten aufgeworfen werden können, lässt sich aus aktuellen Stellungnahmen Litwins leicht belegen. Nur, dass die Sache eben die ist: Die Weisheit, soviel wissen wir von Brecht, hängt davon ab, dass es den Zöllner gibt, der sie dem Weisen „auch entreißt”. Schließlich: Nicht zuletzt begegnet in Stefan Litwin ja doch ein Musiker, der seinerseits mit beharrlicher Intensität, mit Gespür, mit dem Mut des Verzweifelten, solcherart Ereignisfelder, Schicksalsdaten, Epochenbrüche, die uns die Geschichte serviert, anspricht, in der Bedeutung: gegen sie anspricht. Siehe seine Kompositionen, Konzerte, Buchpublikationen zu 9/11, wobei in diesem Fall der Putsch gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende gemeint ist: 11. September 1973 (2004, rev. 2012). So der in mehreren Anläufen umkreiste Titel dieser kompositorischen Auseinandersetzung, die im Band mit einem Eigenbeitrag des Komponisten vertreten ist.
Wenn daraus etwas hervorgeht, dann das, dass es durchaus künstlerische Antworten gibt auf sprachlos machende Gewalt. Das Verstummen ist ebenso Realität wie Nicht-Realität. Was schon für die Survivors gilt. Im Sammelband steht dafür die gewissenhafte Analyse von Ferdinand Zehentreiter über Litwins Imre Kertéz-Komposition …die Hölle aber nicht. Und was Litwin selber angeht, so fasst er das Thema ja auch an. Seine beiden in jüngster Zeit entstandenen Klavierlieder zu Gedichten von Horaz wie zu Frank Wedekind sind beredte Beispiele für das Ringen um eine „musikalische Ästhetik des Widerstands”. So der Analytiker Stefan Litwin in seinem um Brecht, Benjamin, Eisler, Schönberg kreisenden, auf das Jahr 2013 zurückgehenden Festvortrag Nie wieder Krieg!. Dass ein solches Befassen unter der Drohung der Resignation steht, stehen muss, liegt auf der Hand. Daher wohl auch das erratische Als ob, das es in den Buchtitel geschafft hat. „ … als ob Musik die Welt verändern könnte. Im schönen Kontrapunkt dazu steht das abgebildete Foto. Stefan Litwin am Klavier mit dem (Filz)Hammer in der Hand. Heißt: Zwar steht am Ende die Einsicht: „Die Frage, ob denn nun Musik dazu beitragen kann, dass nie wieder Krieg sei, scheint beantwortet: kaum.” Zugleich steht in der Sprechblase: Wir sollten es probieren!
Fazit: Im Ganzen hält sich der Eindruck, dass der Sammelband unterirdisch gegen das Retrospektivisch-Quietistische in ihm ankämpft. Andererseits: In der Mitte leuchten die Lektüre-Perlen, die jedem Hobby-Klavierspieler, Konzertgänger, Musikfreund anzuempfehlen sind. Was Stefan Litwin zu Beethovens Klaviersonate op. 101, Schönbergs Klavierkonzert op. 42, Schumanns Klaviersonate op. 11, dessen Kinderszenen op. 15 auszuführen weiß, beglaubigt den Anspruch, verbindet Brillanz mit Brisanz. Zwischen den Zeilen steht: Kunst von Geschichte nicht trennen, auf Gegenwärtigkeit verpflichten.
Der Band enthält ein Werkverzeichnis, eine Diskographie und ein Register. Inhalt
Georg Beck
Düsseldorf, 07.03.2025