Michael Haas: Die Musik der Fremde. Komponisten im Exil / Übersetzt von Susanne Held. — Ditzingen: Reclam, 2025. — 448 S.: s/w Abb.
ISBN 978-3-15-011501-5 : € 34,00 (geb.)
Der in Carolina geborene Autor ist Mitbegründer des Exilarte-Zentrums an der Wiener Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, das sich zum Ziel gesetzt hat, „die Musik zurückzubringen, die vom NS-Regime verboten wurde“ (www.exilarte.org). Das kommt im amerikanischen Originaltitel Music of Exil. The untold Story of the Composers Who Fled Hitler besser zum Ausdruck. Hingegen trifft der deutsche Titel Die Musik der Fremde die Intentionen des Buches besser, die Michael Haas im Vorwort so formuliert: „Es geht hier nicht nur um Musik, die von Exilanten komponiert worden ist, sondern tatsächlich um Musik des Exils.“ Folglich „war die Musik des Exils überwiegend die Musik von Nachkriegseuropa“ (S. 36). Haas, der in Wien Komposition und Klavier studiert hat, beschreibt zahlreiche dieser Stücke fachmännisch und anschaulich.
Der Großteil des Buches ist jedoch den Biographien der Musiker gewidmet, nicht nur die der bekannten wie Hanns Eisler und Kurt Weill, dem ein ganzes Kapitel zugedacht ist (ab S. 210), sondern auch die der etwas weniger bekannten wie Egon Wellesz oder Ernst Toch, sowie die der Vergessenheit anheimgefallenen wie der des Architekten Richard Fuchs, der zum Komponisten geworden ist, als ihm das Bauen verboten wurde. Auch Hans Winterberg gehört dazu, über den im einschlägigen Wikipedia – Artikel der bezeichnende Satz steht: „Winterberg war Jude deutscher und tschechischer Kultur“. Oder auch Walter Bricht, der als typischer Fall des Deutschen geschildert wird, der von „Hitler zu(m) Juden gemacht“ wurde, so die Überschrift des 8. Kapitels (ab S. 325).
Hans Winterberg wird auf ganzen 22 Seiten eine „Fallstudie“ gewidmet, die die „Komplexität der Dilemmata, die durch das Trauma der Entwurzelung verursacht wurden“ (S. 301) veranschaulichen soll. Das zeigt, dass es dem Autor nicht nur um die Musik, sondern ganz stark auch um menschliche Schicksale geht. Dabei schreibt er deutlich aus der jüdischen Perspektive. Er war als Aufnahmeleiter bei Decca Produzent der Reihe „Entartete Musik“ (Klappentext), und ein langer Abschnitt unter der Überschrift „Die Verlorenen Söhne“ (ab S. 348) beschäftigt sich mit den Komponisten, welche von Rabbi Jacob Sonderling aus dem kalifornischen Santa Monica zu Kompositionen angeregt wurden, die im liberalen jüdischen Gottesdienst zur Aufführung kommen konnten. Ernst Tochs Cantata of the Bitter Herbs, op.65, eine Vertonung der Haggada, ist die erste Frucht dieser Bemühungen (S. 348).
Im großen Kapitel über Kurt Weill (ab S. 210) zeichnet Haas unter Einbeziehung vieler interessanter Werkbesprechungen den Weg vom Komponisten der Dreigroschenoper bis zum zionistisch eingestellten Autor des Mammut-Oratoriums The Eternal Road. Er zeigt Weill als den wandlungsfähigsten unter den Emigranten und vergleicht ihn mit Korngold: Weill „gelang es (…) am besten, am Broadway etwas Neues zu schaffen, das aus der Verschmelzung von europäischem musikalischem Selbstbewusstsein und amerikanischer Melodienseligkeit emporwuchs (…) Selbst Weills Gegenspieler in Hollywood, Erich Wolfgang Korngold, machte weniger Zugeständnisse, sondern stellte einfach seine musikalische Phantasie und sein Können bedingungslos in den Dienst von Warner Bros.“ (S. 214).
Den größten Teil seines Buches widmet Haas der Emigration nach den USA. Am Ende des Buches greift er den zu Beginn gegebenen Exkurs über die innen- und außenpolitischen Gründe des Exils noch einmal auf und gibt einen Ausblick auf die Auswanderung nach Lateinamerika, China und Indien. (ab S. 390). Darin gibt es Nachrichten über Julius Fraenckel und dessen erfolgreiches Wirken in China, vor allem als Lehrer einer ganzen Generation chinesischer Komponisten. Fraenckel war übrigens der originellen Ansicht, die Schönbergsche Dodekafonie sei aufgrund ihres Verzichts auf zentrale Töne geeignet, eine Brücke zwischen dem europäischen und dem chinesischen Tonsystem zu bauen (S. 395 f.). Nach seiner Rückkehr nach Europa sorgte Fraenckel mit Kompositionen und theoretischen Werken für die Verbreitung von Kenntnissen über chinesische Musik in Europa. In der Sowjetunion wirkte der Webern-Schüler Philip Herschkowitz trotz eines turbulenten Lebenslaufs als Lehrer u.a. von Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Dmitri Smirnov, Valentin Silvestrov und Edison Denisov (S. 401). In Südamerika spielte der Wiener Wilhelm („Guillermo“) Graetzer als Komponist sowie als Reformator des argentinischen Musikunterrichts, u.a. durch Adaption des Schulwerks von Carl Orff (der mit den Nazis verbandelt war) eine bedeutende Rolle.
Stoff für einen ganzen Roman gibt die Biographie des Tschechen Walter Kaufmann (S. 412 f.). Er emigrierte nach Indien, wurde bereits ein Jahr nach seiner Ankunft Leiter der Musikabteilung des All India Radios (AIR), komponierte die immer noch aktuelle AIR-Erkennungsmelodie, schrieb für die Bombayer Filmstudios, die späteren Bollywood-Studios, Filmmusik, erforschte auf Reisen durch den ganzen Subkontinent die indische Musik, wurde nach dem Krieg britischer Staatsbürger, weil die Beneš–Dekrete ihm die Rückkehr in seine Heimat verwehrten, zog über England nach Kanada, wo er das Winnipeg Symphony Orchestra gründete und bis 1958 leitete. Danach ging er in die USA, wo er noch lange als Professor in Bloomington wirkte.
Haas stützt sich in diesem Kapitel im Wesentlichen auf einen Aufsatz von Mark Wischnitzer (S. 390, Fn. 9), sowie er sich bei den Angaben zu den deutsch-österreichischen Emigranten auf Fred Priebergs Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945 (PDF auf CD-ROM, Kiel 2004. 2. Edition, Kiel 2009, online). Er ergänzt dieses Gerüst jedoch durch zahlreiche andere Quellen und erschließt dem deutschen Leser in jedem Fall die einschlägige englischsprachige Literatur. In seinen historischen Exkursen unterlaufen manchmal Verzerrungen, wenn z.B. der Rassismus als alleiniger Kriegsgrund für den Ausbruch des 1. Weltkriegs erscheint oder eine allzu direkte Linie vom Darwinismus über die Eugenik zur Rassenhygiene der NS-Zeit gezogen wird. Die wechselnden Aspekte der Darstellung führen zu leicht ermüdenden Redundanzen. Hinzu kommt das Fehlen eines Personen- oder gar Sachregisters, das es ermöglichen würde, die über das Buch verstreuten Informationen zusammenzufassen.
Es bleibt jedoch der Respekt vor dieser großen Arbeit, deren Lektüre in jedem Fall ein Gewinn ist. Der Leser erfährt, in flüssigem Stil erzählt, viel über die prekäre Situation der Juden im Deutschland der NS-Zeit, wird über die historischen und ideengeschichtlichen Zusammenhänge informiert und erhält viele interessante Informationen über eine große Zahl von Einzelschicksalen.
Bernhard Wallerius
Köln, 05.03.2025