Dorothea Hilzinger: Modern British Symphonies. Komponieren zwischen Identitätsdiskursen und Gattungskonventionen – München: edition text + kritik, 2024 – 485 S., Notenbeisp.
ISBN 978-3-96707-802-2 : € 45,00 (brosch.; auch als eBook)
Mit Theorien und Konzepten ist es so eine Sache – sie können schnell aus der Mode kommen (Richard Strauss betonte in einem deutschen Wortspiel: „Modern! Was heißt modern? Betonen Sie mal das Wort anders!“ – er selbst betonte, er wolle nie als moderner Komponist bezeichnet werden). Die Theorie des Modernismus ist aus der Soziologie abgeleitet und betont die Veränderungen, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ergaben; bezogen auf die in Großbritannien entstandene Musik jener Zeit – der Zeit um 1880 bis zum Ersten Weltkrieg – war im englischsprachigen Raum lange der Begriff der English Musical Renaissance gebräuchlich, ehe die Forschung ergab, dass dieses Konstrukt sich nicht zuletzt aus Unkenntnis der Materie ergeben hatte (die Forschungen zur britischen Musik im 19. Jahrhundert stehen – ja, das erlaube ich mir hier zu sagen – immer noch in den Anfängen. Auch die Musikpflege befasst sich noch nicht hinreichend mit der Musik in Großbritannien in der Zeit zwischen 1820 und 1880 – Nicholas Temperleys Dissertation von 1959 war ein wichtiger Anfang, und es ist mehr als bedauerlich, dass sie seinerzeit nicht gedruckt wurde).
Die Theorien zur musikalischen Moderne unterscheiden sich durchaus – die Autorin der vorliegenden Studie geht von Tobias Janz’ Zur Genealogie der musikalischen Moderne (Paderborn 2014) aus, die wiederum zu Teilen auf Carl Dahlhaus aufbaut. Um diese Theorie etwas besser zu verstehen, sei aus dem Klappentext von Janz’ Buchveröffentlichung zitiert: ‘Die musikalische Moderne ist mehr als eine musikhistorische Epoche. Ihre Einheit ist nicht die eines Stils, sondern die eines Prozesses und einer Periode, in der die musikalische Kunstkommunikation zunehmend reflexiv wird. Das Buch unternimmt vor diesem Hintergrund den Versuch, den Modernebegriff als komplexen musikhistorischen Grundbegriff neu zu interpretieren. Es geht darum, die musikalische Moderne nicht als etwas Vergangenes und historisch Abgeschlossenes zu denken, sondern nach der lang zurückreichenden Herkunft der intellektuellen und sozialen Voraussetzungen der musikalischen Kultur der Gegenwart zu fragen.’
Da der Begriff der Moderne im rein praktischen Sprachgebrauch anderweitig gebräuchlich und je nach Perspektive auslegungsfähig ist, erweist sich Janz’ Konzept als häufig nur problematisch anwendbar. Gleichzeitig erschienen in den 1910er- und 1920er-Jahren zahlreiche Publikationen zu ‚Contemporary’ oder ‚Modern British Composers’. Im Gespräch mit dem Rezensenten gestand der amerikanische Musiktheoretiker Walter Frisch bereits 2016 zu, dass etwa für weite Teile von Max Regers Schaffen sein rund zehn Jahre zuvor entwickelter Begriff des ‚historicist modernism’ nicht recht passen wolle. Die Versuche, die Wandlungen in der Musikgeschichte seit der Romantik angemessen zu benennen, mögen punktuell zutreffend gewesen sein, ließen sich aber nicht selten durch einen erweiterten Datenbestand als nicht belastbar oder allgemeingültig entlarven.
Dorothea Hilzinger hat an der Universität der Künste Berlin studiert, die vorliegende Arbeit ist ihre 2022 abgeschlossene Doktorarbeit zum Dr. phil. ‘Modern British Symphonies’ – da dachte der Rezensent zunächst an jene Komponisten, die im 20. Jahrhundert tatsächlich Umwälzendes geleistet haben – Michael Tippett, Robert Simpson, Andrzej Panufnik, Peter Maxwell Davies, Humphrey Searle oder viele andere, meinethalben auch Komponisten der jüngeren Generationen (im Gebrauch des Begriff ‚modernism’ wie in Philip Rupprechts British Musical Modernism: The Manchester Group and their Contemporaries (Cambridge 2015). Doch schon das eine lesbare Wort auf der Buchcoverillustration führt uns in die Zeit um 1900/1910 – zu Hubert Parrys fünfter Sinfonie (Symphonic Fantasia). Vielmehr bewegen wir uns im Bereich von British Music and Modernism, 1895–1960 (hrsg. von Matthew Riley, Abingdon 2010) und David Lambourns Dissertation Cambridge 1988 Modernism in British Music 1900–1922.
Hilzingers Ansatz führt Janz’ Konzept fort, versteigt sich aber zu Äußerungen wie: ‘Ausgangspunkt musikalischer Selbstreflexion ist die musikalische Form’ (S. 40). Identitätsdiskurse rangieren, so ist es im gegenwärtigen Forschungsdiskurs weit verbreitet, wesentlicher als die Erkundung der Persönlichkeit des Komponisten, ihrer jeweiligen Klangsprache oder der historischen Kontextualisierung der jeweiligen Werke in ihrem Schaffen. Schon 1912 betonte Ralph Vaughan Williams: ‘Who wants the English composer?’ (The R.C.M. Magazine 9/1). Es ging schon ihm um die Individualität des jeweiligen Beitrags im kulturellen Erbe. Hilzingers Ansatz zieht ergänzend postkolonialistische und internationalistische Konzepte bei, versammelt etwa in dem Band Decentering Musical Modernity. Perspectives on East Asian and European Music History (hrsg. Tobias Janz & Chien-Chang Yang, Bielefeld 2019). Dass Musik in Großbritannien bis 1918 nicht zuletzt kolonialistisch zu verstehen ist, wird hierbei merkwürdigerweise nicht einmal am Rande angesprochen: der besondere Fall, der sich aus der Sinfonie in a-Moll von Samuel Coleridge-Taylor ergäbe, wird nicht einmal in den Werkbetrachtungen herangezogen. Ungenaue Terminologie finden wir auch sonst – etwa wirft Hilzinger die Royal Academy of Music und das Royal College of Music als ‚Royal Schools of Music’ in einen Topf (ohne die anderen Lehrinstitutionen zu erwähnen). Mit großer Sorgfalt erkundet sie einige Aspekte der Lehrtätigkeit Stanfords, Parrys und Corders – zieht aber nicht hinreichend deren kompositorischen Ergebnisse heran, die gerade in den Fällen RCM/RAM dezidiert unterschiedlich ausfielen, konzeptionell wie auch von ihrer ideellen und ideologischen Ausrichtung.
Für den zweiten Teil ihrer Arbeit hat Hilzinger elf Werke von neun Komponisten ausgewählt, entstanden in dem Zeitraum 1880–1915. Eines hiervon (Gustav Holsts Cotswolds’ Symphony von 1900 als Beispiel einer ‚Pastoral symphony’) blieb bewusst ungedruckt (ähnlich wie Rutland Boughtons Oliver Cromwell von 1904, mit dem sich Hilzinger anderswo befasst hat – ihr Vortrag von 2016 wurde veröffentlicht in Die Tonkunst 18/2, 2024, S. 193–207). Werke ‚für die Schublade’ musiktheoretisch aufzuladen, besonders ohne Berücksichtigung auf das weitere Schaffen der Komponisten oder andere vergleichbare Gattungsbeiträge, ist mindestens problematisch, ungünstigstenfalls grob fahrlässig. So gelingt der Autorin ein Verständnis der durch eine poetische Idee gebundenen Sinfonie tatsächlich durchgängig nicht – die Cotswolds Sinfonie bzw. Vaughan Williams’ London Symphony werden als Manifestationen eines ‚Environmental Modernism’ gedeutet, Cowens Scandinavian Symphony wird als ‚transnationale’ Auseinandersetzung eines gebürtigen Jamaikaners mit Norwegen – ohne die Lebenskonzepte der Urheber hinreichend zu berücksichtigen (Cowens nächste komponierte Sinfonie war eine Welsh Symphony). Stanfords Irish Symphony wird als ‚nationaler Beitrag’ (S. 234) gedeutet basierend auf dem Uraufführungsprogrammtext, der aber nicht von Stanford verfasst wurde; die Stanford-Biografien von Jeremy Dibble und Paul Rodmell finden keine hinreichende Berücksichtigung. Hilzinger unterscheidet Stanfords irische Herkunft und mithin seine Sinfonie kategorisch von den anderen auf Länder oder Landschaften bezogenen Sinfonien anderer, da Schumann kein Rheinländer gewesen sei, Mendelssohn kein Schotte oder Italiener. Dass Granville Bantocks Hebridean Symphony in diesem Zusammenhang keine Erwähnung finden kann, ist nur selbstredend, würde doch die Verwendung von Volksmelodien als Stilmittel in der Sinfonik (die wir bereits von Beethoven kennen – siehe James Travis, Celtic Elements in Beethoven’s Seventh Symphony von 1935) mithin umgedeutet werden müssen.
Besonders problematisch ist Hilzingers Auseinandersetzung mit Vaughan Williams’ Sea Symphony, wird sie doch, eher als Versatzstück denn als seriöser Forschungsgegenstand, McEwens Solway Symphony, Somervells Thalassa Symphony und Bantocks Hebridean Symphony zur Seite gestellt. Dass Hilzinger die analytische Literatur zu den Werken wenig genau erkundet hat (Bantock, Vaughan Williams), führt sie zu Fehlschlüssen und von anderen übernommenen Positionen, statt sich hinreichend selbst in die Materie einzuarbeiten. Interessanterweise fällt auch der Begriff des Exotismus an keiner Stelle – dabei sind ja gerade Programmsinfonien häufig bewusst Evokationen ‚fremder Länder und Menschen’ (und keineswegs immer im kolonialen Sinne).
Stanfords Siebte Sinfonie, Parrys Symphonic Fantasia und Elgars Erste Sinfonie werden auf ihre Formprozesse und die ihnen „innewohnenden selbstreflexiven“ Momente hin betrachtet. Dass während des Komponierens selbstreflexive Momente von zentraler Bedeutung sind, ist ein weiteres theoretisches Konstrukt, das der Musik übergestülpt wird – wer selbst schöpferisch komponiert hat, weiß, dass im Moment der Werkgenese das Selbstreflektive und selbst die Reflexion über Formales eher unterbewusst und untergeordnet von Bedeutung sind.
So gründlich Teile ihrer analytischen Einlassungen sind (andere sind – wohl auch aus Platzgründen – eher kursorisch gehalten), so bedauerlich ist Hilzingers teilweise erstaunliche Ignoranz wichtiger Traditionslinien, die bei der Diskussion der Thematik mitgedacht werden müssen. Eine musiktheoretische Arbeit ersetzt nun einmal keine musikhistorische Forschung, sondern sollte erst aus dieser heraus erwachsen. Die analytischen Ausarbeitungen sind zwar vielfach gut gelungen, aber ohne tatsächlichen Erkenntnisgewinn zu dem, was ‚Modern British Symphonies’ ausmacht oder was ‚Modernity’ tatsächlich ausmacht (zwischen ‚modernism’ und ‚modernity’ wird durchgängig nicht konsequent unterschieden). Damit landen wir schlussendlich in weiten Einlassungen der Spekulation, nicht selten bedingt durch Unkenntnis von Fakten. Der Rezensent hätte gerne gelesen, was die Autorin über Komponisten zu sagen hätte, die in seiner Perspektive tatsächlich starkes Innovationsmaterial in die britische Sinfonik einbrachten – etwa William Wallace, Bernard van Dieren, Havergal Brian oder John Foulds, die Hilzinger nicht einmal eine Randnotiz wert sind. Dass – nachdem der Veröffentlichungstermin um ein knappes halbes Jahr verschoben hatte – dem gedruckten Buch ein Register fehlt, zeugt auch sonst von dem wenig praktischen bzw. praxisorientierten Zugang der Autorin.
Inhaltsverzeichnis
Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 10.02.2025