Martin Trageser: Millionen Herzen im Dreivierteltakt. Die Komponisten des Zeitalters der „Silbernen Operette“. – Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020. – 314 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-8260-6924-6 : € 34,80 (brosch.)
Auf einen internationalen und kommerziellen Höhenflug katapultierte Franz Lehár 1905 mit seiner Lustigen Witwe die nach Wiener Blüte unter Johann Strauß & Co. mittlerweile fade dahinwelkende Operette. Auf deren vormals „goldene“ Ära folgte hiermit eine „silberne“, wie eine NS-angehauchte Zeitgenossenschaft nicht ohne abwertende Konnotation formulierte. Angespielt wurde damit nicht zuletzt auf die unter den komponierenden wie textenden Autoren führend vertretenen Juden. Gehalten hat sich die Schematisierung bis heute: Zu deutlich klaffte der stilistische Graben zwischen den Altvorderen ab Jacques Offenbach und den moderneren, mondäneren und sentimentaleren Lehár-Verwandten oder zeitgleich in anderen Lokalfarben und Spielarten erfolgreichen Kollegen. Auch fixiert man den Endpunkt der silbernen Phase in ihrer hegemonialen Form um 1940. Konzentriert sich die Fachliteratur – angeführt von den Monographien des Theaterwissenschaftlers Stefan Frey – bevorzugt auf die Protagonisten des Metiers, haben Befassungen mit der Silber-Ära als Epochenphänomen bislang Seltenheitswert. Martin Trageser hilft dem nun ab mit einem Spektrum von fast zwei Dutzend Komponistenporträts und rahmender Einordnung. Aufhorchen lässt allerdings eine Nuance des Untertitels: Hier geht es nicht allein um die genuin Silbernen, sondern um die Fachvertreter ihres Zeitalters. Zumal Trageser über die kaum allzu silbrigen Chansons von Marcellus Schiffer in Würzburg promovierte, dürfte dies kaum verwundern. Aber was prägte nämliches Zeitalter historisch, politisch, wirtschaftlich und mental am brachialsten? Der Weltkrieg – fatalerweise in zweifacher Ausführung. Mögen die titelgebenden Millionen Herzen im Dreivierteltakt ein reines Fest der Sinnenfreude und champagnerseligen Walzerträume verheißen, so zwingt den Leser alsbald ein verstörendes Panorama hurrapatriotischsten Marschgeschmetters und pathetischster Vaterlandsbeschwörung zu beklommener Desillusionierung.
Angeregt von Robert Stolz‘ populärem Kleinem Gardeoffizier, interessierte Trageser zunächst die Haltung der Autoren und ihre Verarbeitung des Ersten Weltkriegs im Operettenschaffen. Dank interessanter Charaktere und biographischer Fakten verlagerte sich letztlich der Fokus auf 23 kompakte Lebens- und Werkbeschreibungen, die in neuartiger Perspektive die Rolle des Militärs in den Werdegängen und eben den Konnex mit dem Ersten Weltkrieg, gegebenenfalls auch das Schicksal im Zweiten unter die kritische Lupe nehmen. Und so schwört gleich Tragesers Vorwort – bei aller Operettenleidenschaft seit Kindertagen – auf eine Tour de Force durch deutlich kriegsgraue Flecken im sonst so farbenprächtigen Reigen zwischen Fin de Siècle und der nicht zuletzt von NS-Barbareien verschuldeten Operettenregression ein. Ins Bewusstsein gelangt ein wenig beachteter Dreischritt der Operettenproduktion nach Kriegsausbruch 1914: zunächst Theaterschließung, ab Oktober Sujets mit handfestem Patriotismus, gefolgt von deren Verschwinden ab 1915 infolge Kriegsüberdruss des Publikums bis hin zu pazifistischen Tendenzen ab 1918.
Zwar tritt in allen Einzelartikeln die Facette Krieg und Militär ungewohnt markant hervor. Keineswegs aber übergeht Trageser das Essentielle und Individuelle jeder Persönlichkeit, jedes schöpferischen Eigenprofils, verschreibt sich substantiell auch weniger dem musikanalytischen Zugriff im engeren Sinne. In den Fokus rücken exemplarische Plots und ausgedehnte Zitate von Gesangstexten, Pressestimmen und autobiographische Statements. Dass nicht nur der Kenner und fachlich Interessierte mit Spannung und Kurzweil den Höhen und Tiefen folgen wird, verdankt sich einer lebendigen, allgemeinverständlichen, auch leger und empathisch aufgefrischten Diktion, die von Tragesers belletristischem Gleis mit Kurzgeschichten und Kinderbüchern profitiert. Oft leiten halbfiktional rekonstruierte Episoden und Erlebnisse, die eine Innenschau in meist nostalgisch bewegten Situationen skizzieren, in den chronologischen Ablauf ein. Nach ähnlichem Muster blitzen immer wieder liebevoll erzählte Anekdoten und Schlüsselmomente auf.
Zu Recht, da Zentrum der Goldenen wie der Silbernen Ära, nimmt Abteilung I zur Wiener Operette mit über 150 Seiten gut den halben Raum ein. Und etwas unverhofft macht der wohl finale Nestor jener goldenen Meister den Anfang: Carl Michael Ziehrer, der als letzter k.u.k. Hofballmusikdirektor mit dem Todesjahr 1922 parallel zur silbernen Zeit noch auf musikalisches Gold setzte, durch den Ersten Weltkrieg Stellung und Einkommen verlor, aber aus triftigen Gründen in Tragesers Kontext passt: seinen nicht wenigen Kriegsliedern, vaterländischen Tongemälden und Musiken zu frühen Blüten des jungen Mediums (Propaganda)film. Übertragen lässt sich ein exemplarischer Befund auf die Attitüde mancher Kollegen an der Donau und auf verbündeter Seite: „Der Text ist typisch für die Kriegszeit. Selbst Gott wird instrumentalisiert, der Österreich und Deutschland sozusagen den Auftrag zum Krieg gibt. Den Menschen wird suggeriert, dass sie von Feinden umzingelt sind, von ihnen angegriffen wurden und ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als sich zu verteidigen. Der Krieg ist gerecht und somit steht außer Frage, wer ihn gewinnen wird.“ (S. 19) Mit Franz Lehár (gemischte Kriegsgefühle im Liedzyklus Aus eiserner Zeit), Oscar Straus – „was er vom Militär und von Kriegen hielt – nämlich nichts“ (S. 65) – und dem mit Heiteren deutschen und österreichischen Soldatenliedern eher begrenzten Kriegstribut leistenden Leo Fall (hier besonders schockierend: das Schicksal seiner jüdischen Familie unterm NS-Regime) folgt eine Phalanx der silbernen Granden mit Erfolgen in Wien wie in der späteren Operettenmetropole Berlin. Unter „Zwischen Kriegsverweigerung und Anpassung“ (S. 94) resümiert Trageser wertvolle Erkenntnisse zu den seinerzeit hochpopulären, momentan einer wünschenswerten Wiederentdeckung harrenden Georg Jarno und Leo Ascher. Als nächstes subsumiert, da sie alle vier ein als Der Kriegsberichterstatter jubilierendes Schaustück musikalisch beliefert hatten, ein Unterkapitel völlig unterschiedliche Naturen wie Edmund Eysler (konservativ dem Wiener Idiom verhaftet), den frühzeitig auf Amerika setzenden und als Jude nach Nazischikanen auch dort verstorbenen Bruno Granichstaedten, den einst zwischen den Operettenepochen produktiven Charles Weinberger und den auch politisch seine Heimat verehrenden Böhmen Oskar Nedbal.
Wieder detailreicher werden für zwei Œuvres die Umschwünge von affirmativer Kaiserverehrung mit Kriegsbejahung hin zu rückblickend geläuterten Friedensplädoyers diskutiert: einmal bei dem von Kabarett über Im weißen Rössl bis zum Fast-Musical wandlungsfähigen Ralph Benatzky, last not least mit Robert Stolz, „letzter Wiener“ infolge biblischer Lebensspanne, dank Welterfolg in Film und Schlager zugleich ein erster Grandseigneur der kommerziellen Unterhaltungsindustrie.
Plakativer als manchem Operettenfreund lieb und bekannt, zerren militaristische und nationalistische Suaden in den Kriegsstücken der an die Silberzeit andockenden Berliner Operette (Kapitel II) am unbedarften Nerv. Bei aller begründeten Wertschätzung für den Prinzipal Paul Lincke bleibt festzuhalten, dass dieser sich bei Kriegsausbruch ab 1914 „bereitwillig in den Dienst der Propaganda“ (S. 177) stellte. Die deutsche Meereswacht, Fräulein Kadett oder Stahl und Gold appellierten, trotz absehbaren Verlusts, an den deutschen Durchhaltewillen. Zwar stieg Linckes jüngerer Kollege Walter Kollo, als „diese Themen nicht mehr ankamen“, „aus den unpopulär gewordenen patriotischen Stücken aus“ (S. 196). Zuvor aber vertonte er 1914 kanonendonnernde Kriegsrevuen wie Immer feste druff und Extrablätter, die, in gängiger Operettenlexikographie geflissentlich übergangen, anhand von Ablauf, Dramaturgie und Versen dankenswert ungeschönt aufs Tapet kommen. Zur Reflexion über mögliche Schuld und Verantwortung, vor allem im Vergleich zur zweiten Katastrophe, hilft ein wiedergegebenes Zitat aus der Autobiographie des ebenfalls gewürdigten Sohns Willi Kollo: „1914 war man noch unschuldig, man wusste noch von nichts, man durfte solche Sachen, die der allgemeinen Volksstimmung entsprachen, noch schreiben. Aber wo mein Vater entschuldigt war, durfte ich es nicht mehr sein, denn ich war wissend.“ (S. 208-209) Wie bei Walter Kollo sang auch in Jean Gilberts einschlägigen Werken Claire Waldoff, mit dabei Fritzi Massary oder Paul Linckes Freund Guido Thielscher. Nur kurz kommt, weil schöpferisch weniger kriegsbezogen, der hoch bemerkenswerte Eduard Künneke zur Sprache.
Als „jüdischer Antisemit“, dem mit dem Schwarzwaldmädel zwar eine Paradeoperette im Sinne der NS-Kultur gelang, trotz aller seiner Regimetreue indes eine tödliche Gestapohaft nicht erspart blieb, war Leon Jessel laut Trageser bereits für den Ersten Weltkrieg „Feuer und Flamme“ (S. 238). Und wie Lincke und Gilbert bestückten der im Kabarett verwurzelte Rudolf Nelson und vor allem der operettennähere Victor Hollaender bis 1914 die legendären Jahresrevuen des Metropol-Theaters, bevor auch sie ihre je eigenen Kriegstöne fanden.
Emmerich Kálmán als Hauptexponenten der Silbernen Ära und Lehár-Konkurrenten holt Trageser nach, indem er ihm und Paul Abraham an Stelle III ein Ungarn-Kapitel widmet. Für den Kundigen zu erwarten, aber nicht weniger überraschend und instruktiv, steht bei Kálmán sein regulär marginal dokumentiertes, seinerzeit dagegen als erfolgreichste Wiener Kriegsoperette florierendes Gold gab ich für Eisen im Fokus. Abraham, Jahrgang 1892, mit seiner Synthese der Stilistiken Ungarns, Wiens, Berlins und Amerikas komplettiert – gleichwohl von tragischem Emigrantenlos ereilt – das Silberpanorama genregeschichtlich.
Wie sich Silberne und Berliner Operette veränderten, markiert im kurzen Schlusskapitel zur „Blechernen Operette“ des Dritten Reichs den Übergang zur Operettendämmerung. Zunächst drängten Film- und Jazzeinflüsse zur Revueoperette. Mit den Nazis dann der Garaus: „Die Erklärung ist einfach. Kaum einer der in den vorherigen Kapiteln vorgestellten Komponisten oder Textdichtern war arisch.“ (S. 304) Man griff zurück auf älteres Repertoire oder akquirierte Ersatzkomponisten unterschiedlicher künstlerischer Qualität (von höherer: Nico Dostal) und NS-Gesinnung. (Nachtragen ließen sich aufgrund ihrer Prominenz etwa noch Ludwig Schmidseder oder Walter W. Goetze.) Den vermeintlichen Tod der Operette verortet Trageser entsprechend in den Nachwirkungen der NS-Maßnahmen und ihren Folgen in der Nachkriegszeit: „Spätestens ab den 1960er Jahren wurde die Operette, weil es keine Neuerungen gab und man die Werke ab 1933 von jeglicher Kritik und von sexuellen Anspielungen befreit hatte, als spießig angesehen und vom amerikanischen Musical verdrängt.“ (S. 308)
Einstimmen kann man vorbehaltlos in Tragesers Einladung zu forcierter Entdeckungsreise. Vor einer uneingeschränkten Lektüreempfehlung wäre noch dringend eine grundlegend korrigierte Neuauflage anzumahnen: Fehlende Kommata, differierende Schreibungen identischer Eigennamen, unpräzise Literaturtitel bis hin zu falschen Librettistenangaben in den Werkverzeichnissen tangieren die Toleranzgrenze. Weiter aufwerten ließe sich das auf Auswahl beruhende Literaturverzeichnis durch Stefan Freys Kálmán- und seine überarbeitete Lehár-Biographie, Eugen Semraus verdienstvolle Arbeit zu Robert Stolz oder Sabine Müllers umfassende Dissertation zu Eduard Künneke. Sagte doch auch Nico Dostal, dass es, wie ihn das Vorwort zitiert, in der Silbernen Operette „sehr viel ‚Gold‘“ (S. 10) gibt.
Andreas Vollberg
Köln, 16.11.2020