Köchel-Verzeichnis (KV): Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von W. A. Mozart / Ludwig Ritter von Köchel. / Hrsg. von Neal Zaslaw, im Auftrag der Internationalen Stiftung Mozarteum vorgelegt von Ulrich Leisinger. Neuausgabe – Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2024. ‑1.392 S.: Notenbsp.
ISBN 978-3-7651-0300-1 : Einführungspreis bis 31.12.2024: € 459, danach € 499 (geb. in Schuber)
Vorübergehend könnte es so sein, dass der leidige Hinweis „KV deest“ nicht mehr angewandt zu werden braucht, weil alle echten, durch Autografen beglaubigten vollständigen Werke W. A. Mozarts, darüber hinaus alle Fragmente und Abschriften von anderer Hand, die Mozart nur zugeschriebene Stücke enthalten, und verschollene Stücke in diesem jetzt vorliegenden neuen Köchel-Verzeichnis aufgenommen und behandelt sind. Das ist schon mal ein Vorteil, der durch die Neuausgabe des nach seinem Urheber Ludwig von Köchel benannten Werkverzeichnisses Mozarts, die bewusst nicht als 7. Auflage des alten Verzeichnisses auftritt, bewirkt worden ist. Man hat nun einfach 95, bisher noch nicht mit KV-Nummern versehene, zwischenzeitlich bekannt gewordene Werke aufgenommen, indem man sie an die letzte bisher gültige Köchel-Nummer angehängt hat. Wie lange die Zeitspanne währen wird, in der dieser Zustand anhält, ist ungewiss. Ob die Art, wie diese 95 Werke nun verzeichnet sind, angemessen ist, ist eine weitere, noch zu behandelnde Frage.
Die Bearbeiter dieses neuen Köchel-Verzeichnisses geben vor, einerseits, was den Grundstock betrifft, die, wenn es wahr wäre, wirklich beste aller möglichen Entscheidungen getroffen zu haben, indem sie behaupten, bei den als echt klassifizierbaren Werken auf die früheste der in den verschiedenen Auflagen vergebenen Nummern, also hauptsächlich auf die der ersten Auflage des Köchelverzeichnisses zurückgegangen zu sein und trotz etlicher Datierungsmängel, die Ludwig Köchel unterliefen, die Stammzahlen wieder hergestellt, d.h. den von Alfred Einstein und seinen Nachfolgern von der 3. bis zur 6. Auflage veranstalteten Schlamassel beseitigt zu haben. Die alpha-numerischen Ungetüme, die durch Ergänzungen und Einschübe entstanden waren, sollen nun nicht mehr zu finden sein. Diese Bereinigung ist, wie sich bald zeigen wird, nur inkonsequent durchgeführt worden.
Die Bearbeiter haben andererseits, was die Zusätze zum alten Grundstock und den früheren Anhängen betrifft, die denkbar schlechteste Entscheidung getroffen, indem sie meinten, das chronologische Verzeichnis, das mit Mozarts letztem Werk, dem Requiem mit der Nummer 626 endet, sozusagen über Mozarts Tod hinaus fortsetzen zu können, mit einem Sammelsurium von Kompositionen, die in letzter Zeit entdeckt wurden, darunter auch Werke aus der Kindheit und Jugend Mozarts, die hier mit hohen Nummern jenseits der 626 firmieren: ein erster Missstand. Zweitens: Während Ludwig Köchel es vertretbar fand, nicht sehr viel mehr als sieben eigens genannte Werke in den Hauptteil aufzunehmen, zu denen es damals kein Autograf Mozarts mehr gab, deren frühere Existenz aber durch andere Dokumente gesichert war, erlauben sich die Bearbeiter des neuen Köchel eine ziemlich starke und weitgehende Vermischung von als echt erwiesenen und nur zugeschriebenen oder gar verschollenen Werken in der Nummernfolge ab 627 vorzunehmen, wodurch die früheren strengen Kriterien für die Aufnahme in den Hauptteil aufgegeben sind. Auch die ab Nummer 627 erneut einsetzende chronologische Anordnung der Zusätze kann die Missstände nicht beseitigen. Sicherlich wäre es besser gewesen, auch das neue Köchel-Verzeichnis mit der Nummer 626 enden zu lassen und alle Zusätze in einem differenzierten Apparat von Anhängen (Fragmente, Bearbeitungen, Selbstparodien, weitere entdeckte, als echt nachweisbare Kompositionen, zugeschriebene Kompositionen etc.) unterzubringen.
Man hat zwar, so scheint es, einiges, aber nicht alles, was möglich gewesen wäre, weder aus der Geschichte des Köchel-Verzeichnisses selbst, noch aus der Misere anderer Werkverzeichnisse oder willkürlicher Vergaben von Opuszahlen gelernt. Paul von Waldersee hat in der 2. Auflage des KV von 1905 zwar auch zehn Nummern getilgt, weil sich erwiesen hatte, dass die unter ihnen angeführten Werke entweder unecht oder in anderen Werken enthalten waren, und er hat elf Nummern durch Einschübe mit Buchstabenergänzungen hinzugefügt, weil sich die Echtheit aufgefundener Werke beweisen ließ, er hat aber auch besonders in den Anhängen Erweiterungen vorgenommen. Erst Einstein hat dann durch Umstellungen und Umnummerierungen versucht, die Datierungsfehler Köchels zu revidieren und die neu aufgefundenen Werke wie auch die Fragmente in den Hauptteil, mit alphanummerischen Zusätzen markiert, zu integrieren, damit aber eine bis heute andauernde Verwirrung gestiftet.
Es wäre vermutlich besser gewesen, die Bearbeiter des neuen Köchel hätten aus diesem Desaster auch gelernt, dass man den einmal geschaffenen Grundstock nicht nur unangetastet lassen sollte, dem sie nur scheinbar entsprochen haben, sondern ihn auch, da er chronologisch definiert war und auch geblieben ist (obwohl das Wort chronologisch aus dem Titel des Verzeichnisses gestrichen wurde), nicht mit nicht mehr chronologisch integrierbaren Ergänzungen fortschreiben kann.
Auch aus den Missgeschicken anderer Werkverzeichnisse hätte man lernen können. Wie langwierig und träge es sein kann, unangemessene Werk-Katalogisierungen in der praktischen Musikwelt rückgängig zu machen, zeigen die Annoncen der Werke Mendelssohns, bei denen die „Freunde des Verewigten“ meinten, an die von Mendelssohn selber vergeben chronologischen Opuszahlen bis Nummer 72 weitere anhängen zu müssen. Es werden wohl noch Jahrzehnte vergehen, bis man auf Programmzetteln, gemäß dem klärenden Werkverzeichnis Mendelsohns von 2009, seine zweite Sinfonie („Reformation“), die des jungen Erwachsenen, nicht mehr als Sinfonie Nr. 5 op. 107 (obwohl er nur vier Sinfonien geschrieben hat) oder seine sinfonische Kantate „Lobgesang“ nicht mehr als Sinfonie Nr. 2 angeboten bekommt. Hier beim neuen Köchelverzeichnis hat man aber genau die fragwürdige Methode, Werke des Knaben mit einer Nummer in den Sechshunderten zu präsentieren, erneut und willentlich herbeigeführt und damit erneut eingebürgert.
Von den vier Anhängen (A, C, G und H) trägt der Anhang C eine missverständliche Wortbildung im Titel: „Fehlzuschreibungen“. Es ist das Wesen einer Zuschreibung, dass über ihren Status, echt oder unecht zu sein, nicht entschieden werden kann. Wäre ihre Unechtheit erwiesen, wäre sie dann keine Zuschreibung mehr, sondern etwas irrtümlich oder vorsätzlich Unterschobenes (wie es auch kein nur Zugeschriebenes mehr wäre, wenn seine Echtheit zwischenzeitlich erwiesen werden konnte). Nun glauben die Bearbeiter tatsächlich, über „falsche Zuweisungen“, wie sie das nennen, entscheiden zu können. Das betrifft z. B. auch die Mozart zugeschriebenen und als Mozart-Werke publizierten und landauf landab als solche gespielten vier Streichtrio-Einleitungen zu und sechs Streichtrio-Bearbeitungen von dreistimmigen Fugen Sebastian und Friedemann Bachs, von denen immerhin drei Präludien Eigenkompositionen des Bearbeiters sind (bisher KV 404a, jetzt Anh. C 21.02). Eigentlich hätten die Bearbeiter im Zusammenhang mit dieser und anderen Werknummern unter der Rubrik „Ausgaben“ oder „Publikationen“ eine neue Kategorie einführen müssen: Neue Mozart Ausgabe (NMA) deest. Man nennt aber den Ergänzungs-Band der NMA, in dem diese Werke erschienen sein sollen oder erscheinen werden. In der Internet-Präsentation des neuen KV erlaubt man sich den üblen Scherz, das Erscheinungsjahr mit 2099 anzugeben, wohl ein Synonym für den Sankt Nimmerleinstag. Auf die Begründung dafür, warum es sich hier um eine „falsche Zuweisung“ handeln soll, warten wir natürlich alle gerne bis 2099. Wäre es nicht besser gewesen, erst einmal die NMA fertigzustellen, um sich dann auf sie als Publikationsort aller im KV verzeichneten Werke beziehen zu können, wenn man schon meint, die NMA als einzige Referenz angeben zu müssen?
An Ausgaben und Publikationen der Werke Mozarts gibt es in diesem neuen KV nämlich nur noch die NMA. Das lässt darauf schließen, dass es in Zukunft zwischen dem KV und der NMA eine privilegierte, exklusive Sonderbeziehung geben soll, die die symbiotischen Beziehungen innerhalb der Salzburger Mozart-Verwaltung noch enger zieht und nach außen hermetisch abriegelt. Man kann es natürlich auch so locker und leichtsinnig nehmen wie Christian Gohlke, der in seiner FAZ-Rezension meinte: „Durch Verweise auf die Neue Mozart-Ausgabe lässt sich jede Komposition problemlos ausfindig machen“ – soweit in der NMA vorhanden!, muss man da wohl hinzufügen. Dass die angestrebte Monopolisierung der Deutungshoheit auf die Salzburger Institution etwas Anmaßendes hat und mit entsprechender Selbstherrlichkeit vorgetragen wird, berührt unangenehm und schadet der Sache Mozarts – so weit, dass man fast geneigt ist, auszurufen: Pauvre Mozart! Vielleicht war es doch keine gute Idee, im 19. Jahrhundert in Salzburg ein Institut für Mozart zu gründen, in dem alles zentralisiert ist. Mozart hätte das sicher abgelehnt, Ludwig Köchel hielt sich übriges abseits.
Die symbiotische Beziehung zwischen NMA und KV hat auch noch einen anderen Nachteil: dass nämlich fragwürdige Festlegungen des einen Unternehmens vom andern übernommen und nun weiter in die Welt getragen werden. Ein Beispiel dafür ist die Ballettmusik zur Oper Idomeneo. Zwar hatte auch schon Ludwig Köchel für diese unselbständige Ballettmusik eine eigene Nummer (367) vergeben, denn sie war auch in einer eigenen gebundenen Partitur überliefert. In der NMA wurde sie aber in dem Band mit anderen selbständigen Ballettmusiken publiziert, wodurch diese Ballettmusik als integraler Bestandteil der Oper verloren gegangen war, obwohl Mozart selbst ausdrücklich erklärt hatte, es sei „kein extra Ballet, sondern nur ein zur Opera gehöriges Divertißement“. Da alle Werke im neuen KV bestimmten Gattungen zugeordnet sind, erscheint auch hier die Ballettmusik zum Idomeneo unter den Ballettmusiken. Ludwig Köchel hatte in seinem Kommentar wenigstens noch darauf hingewiesen, dass das Ballett mit Mozarts Idomeneo eng und zwingend mit „den verwandten Sätzen in der Oper“(KV, 1. Aufl. S. 303) verbunden war. Eine editorische und aufführungspraktische Integration dieser fünf Ballettstücke in den Ablauf der Oper steht noch aus und wird durch die Art, wie sie als selbständige Ballettmusik im neuen KV präsentiert wird, weiter behindert.
Davon, dass man – wie es in der Verlagswerbung heißt ‑ „zurück zu den Ursprüngen“, d.h. zurück auf das erste Köchel-Verzeichnis gegangen sei, kann gar keine Rede sein. Es wird mächtig hin und her, rein und raus geschoben, weitere Fragmente hinein (weil man sonst bei schematischer Anwendung dieser Kategorie auch die c-Moll-Messe und das Requiem herauswerfen müsste), die Bearbeitungen heraus, viele Werke von zweifelhafter Echtheit, wie besonders die Pariser Bläser-Concertante (KV 297b) sind aber seltsamerweise geblieben, andere, weniger verdächtige Werke mit dem Prädikat „falsch zugewiesen“ entfernt worden. Dann sind die Pasticcio-Konzerte (bisher KV 37 und 39-41) herausgenommen und mechanisch als Bearbeitungen in den Anhang A verwiesen worden. Nun war bisher unbestritten, dass es unter den Sätzen dieser ersten vier Klavierkonzerte Mozarts immerhin einen originalen Satz gibt und dass der Grad der Bearbeitung fremder Sonatensätze durch den 11-jährigen Komponisten sehr hoch war und die hier vollzogene gekonnte und schöpferische Verwandlung in zwischen Solo und Tutti konzertierende Stimmen das Vorbild für Mozarts gesamte spätere konzertante Praxis war. Es fand hier also nicht nur ein schematischer Herauswurf aus dem Hauptteil des KV statt, sondern auch eine ästhetische Degradierung zu einer bloßen Bearbeitung, die dem künstlerischen Wert dieser Werke nicht angemessen ist. Das Gleiche gilt (und noch verstärkt, weil hier Mozarts Überwindung barocker Formprinzipien noch deutlicher ist) für die drei Klavierkonzerte KV 107 nach Klaviersonaten von Johann Christian Bach, auch sie sind in den Anhang verwiesen. Dies kann nur dazu führen, dass diese Werke noch weniger bis gar nicht mehr gespielt werden. Man hat überhaupt den Eindruck, dass man im neuen KV glatte Lösungen für offene Fragen anstrebt. Denn immer noch wird beispielsweise so getan, als sei die Akteinteilung in Mozarts Operetta Zaide original.
Ob sich das neue Köchel-Verzeichnis durchsetzen kann, ist zweifelhaft, ob man ihm das wünschen sollte, auch. Warum sollte man die Pasticcio-Konzerte nun bei den Nummern: Anh. A 7-9 und Anh. A 16 suchen, finden und spielen? Der Rezensent jedenfalls wird diese Nummern sein Lebtag nicht benutzen.
Diese Rezension konnte nicht anhand der gedruckten Ausgabe, sondern nur anhand der verkürzten Online-Version und der Präsentation auf der Homepage des Verlages verfasst werden, da es dem Verlag verständlicherweise nicht möglich war, der bescheidenen Internet-Plattform info-netz-musik ein Exemplar zur Verfügung zu stellen. Eine Kritik des neuen KV auf dieser Plattform sollte damit aber nicht völlig ausfallen müssen. Ob das Urteil durch Einsicht in ein ausgedrucktes Exemplar in einer der haltenden Bibliotheken anders ausfallen könnte, wird sich später einmal sagen lassen.
Peter Sühring
Bornheim 31.10.2024