Walcher, Marga: Carl Millöcker. Liebe und Leidenschaft des vergessenen Komponisten /… love and passion of the forgotten composer. – Wien, Bohmann 2011. – 256 S.: Abb.
ISBN 978-3-99015-010-8 : € 39,90
Dass gerade Carl Millöcker (1842-1899) heute mehr vergessen sein sollte als viele andere Operettenkomponisten, oder das Genre im allgemeinen, das sei dahingestellt. (Wir reden nicht über Johann Strauß und seine Fledermaus oder über Franz Lehár und seine Lustige Witwe, die immer noch regelmässig aufgeführt werden). Die Operette als musikdramatische Gattung war insbesondere ein Kind ihrer Zeit, und als die alte Welt im Ersten Weltkrieg zugrunde ging, erlitt auch die heitere Wiener Operette einen endgültigen Schlag. In den zwanziger Jahren nahm die Operette mit Einverleibung verschiedener Stilelemente der zunehmenden urbanen Unterhaltungsmusik teilweise eine andere Richtung oder sie wurde vom amerikanischen Musical in den Schatten gestellt. Der Zweite Weltkrieg bedeutete den Todesstoss für die europäische Operettenkultur, da viele ihrer Kulturträger, die als Komponisten, Textdichter, Regisseure, Produzenten und Darsteller tätig gewesen sind, Juden waren, die entweder von den Nazis ermordet wurden oder ins Exil flüchteten.
Das Jahrzehnt von 1874 bis 1884 war die Glanzperiode der Wiener Operette. Drei Meister, die alle auch innerhalb weniger Jahre von 1895 bis 1899 starben, trugen ihre Riesenerfolge: Franz von Suppé mit Fatinitza und Boccaccio, Johann Strauß mit der Fledermaus und Eine Nacht in Venedig und Millöcker mit dem Bettelstudenten und Gasparone. Im deutschen Sprachraum fanden bis 1895 nicht weniger als 1.000 Aufführungen des Bettelstudenten statt. Als Kind in Schweden beeindruckte mich sehr Jussi Björlings Ich hab’ kein Geld, bin vogelfrei mit seiner in schwedischer Sprache ausgezeichneten Diktion und seinem unvergleichbaren Spitzenton am Ende.
Suppé, von Jacques Offenbach und seinen satirischen Pariser Operetten beinflusst, wurde der grosse Neuerer der Wiener Operette. Strauß war der grossartige Walzerkönig und Millöcker ein hervorragender Meister des Couplets. Es ist interessant zu sehen, wie diese vom Volk geliebten österreichischen Komponisten mit ihrer gemütlichen “Volkstümlichkeit” später bei den Nazis für vorbildliches Deutschtum standen. Im Fall Strauß mit sogar Urkundenverfälschung, um seine jüdische Abstammung zu verschweigen.
Ich vermute, dass heutzutage die Operettentradition in Deutschland lebendiger ist als in meiner Heimat, Schweden. Den Bettelstudenten und die Dubary hat man wenigstens in den sechziger und siebziger Jahren in Malmö und Göteborg erleben können, und vor fünfzehn Jahren hat eine Operettengesellschaft den Bettelstudenten unter einfachen Bedingungen in Stockholm aufgeführt. Die Operettennostalgie wird heuzutage vor allem von CD-Labels betreut, wenn nicht deutsche Operettenspezialisten wie Volker Klotz und Stefan Frey mit ihren gediegenen Publikationen die Fahne des Genres hoch halten.
Als Sohn eines weniger mittellosen Goldschmieds in Wien wollte Millöcker zuerst Flötenvirtuose werden. Ziemlich früh wurde er von Suppé protegiert und war auch einige Jahre als Kapellmeister und Komponist von musikalischen Possen in Graz und Pest tätig, ehe er beim Theater an der Wien engagiert wurde. Der internationale Durchbruch gelang ihm erst ziemlich spät in seiner Karriere mit dem Bettelstudenten und war das Resultat einer ungewöhnlich gelungenen Zusammenarbeit mit dem Textdichter Richard Genée und dem grossen Bühnenstar der Wiener, dem unwiderstehlichen Komiker und Sänger Alexander Girardi. Der Erfolg des Bettelstudenten war riesig und versetzte Millöcker aus bis dahin bescheidenem Lebensstandard in ökonomischem Wohlstand. Auch wenn Millöcker in den folgenden Jahren noch einige Erfolge erleben konnte, besonders zwei Jahre später mit Gasparone, war keiner davon mit dem des Bettelstudenten vergleichbar.
Marga Walcher erhebt für ihre zweisprachige Biographie (deutsch/englisch) mit prachtvoller Bildausstattung ausdrücklich keinen wissenschaftlichen Anspruch. Ein Leser, der mehr Analyse von Millöckers Tonsprache, Stileinflüssen und musikalischen Besonderheiten erwartet, ist besser bedient mit z.B. Klotz’ Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst (2004), das wenigstens Bettelstudent, Gasparone und Der arme Jonathan durchgreifend behandelt – oder mit der unentbehrlichen Piper Enzyklopädie des Musiktheaters, die noch Auskunft zu dreien von Millöckers ingesamt zwanzig Operetten gibt.
Walcher bietet jedoch ein gediegenes und fesselndes Panorama von Millöckers Leben und Zeit, mit Fokus auf die Stadt Wien, wo während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Abriss der alten Stadtmauer, dem Bau der Ringstrasse, dem entstehenden Liberalismus aber auch der zunehmenden Armut eines immer grösser werdenden Proletariats grosse Veränderungen stattfanden. Der Text wird durch viele schöne Photos und farbige Faksimilia von Musikdrucken ergänzt, ebenso wie durch interessante Ansichten von Fachleuten (ein Musiker, Dramaturg und Dirigent) über Millöcker und die Operette als Gattung. Zitate aus zeitgenössischen Rezensionen und Sekundärliteratur werden mit Quellenhinweisen angegeben. So auch Millöckers erst seit kurzem zur Verfügung stehenden, oft zärtlichen Briefe an seine zweite Gattin, die viel jüngere Lina Hofschneider, die ein persönliches Nahbild des sympathischen Komponisten vermitteln.
In Ausblicken erfährt der Leser, was z.B. Schriftsteller wie Karl Krauss und Hermann Broch über die Operette als Gesellschaftsphänomen dachten, ebenso was die Operette für “das Verständnis des Anderen” (oft der Slawen und Magyaren) im damaligen, multikulturellen Wien bedeutete.
Ein Werkverzeichnis – zwar unvollständig für den, der beabsichtigt, das musikalische Gesamtwerk Millöckers in Angriff zu nehmen – schliesst das schöne Buch ab.
Vielleicht ist der Fokus auf das Triumvirat Suppé-Strauss-Millöcker etwas einseitig. Man kann sich fragen, wo z.B. Carl Zeller und sein weltberühmter Vogelhändler ins Bild kommen. Diese Operette ist überhaupt kaum erwähnt, obwohl sie während Millöckers Tätigkeitsjahren auch einen beispiellosen Sensationserfolg 1891 erfuhr. Der Vogelhändler, der oft im gleichen Atemzug wie der Bettelstudent von der Nachwelt erwähnt wird, wurde ja auch am Theater an der Wien uraufgeführt. Und auch in dieser Operette hiess der charismatische Bühnenheld und Publikumsliebling Alexander Girardi.
Henry Larsson
Stockholm, 30.04.2012