Leo Kestenberg: Briefwechsel. Zweiter Teil. Briefe von und an Paul Bekker, Briefe aus der Prager und Tel Aviver Zeit / Hrsg. von Dietmar Schenk – Freiburg: Rombach, 2012. – 468 S.: Abb. (Gesammelte Schriften ; 3.2)
ISBN 978-3-7930-9610-8 : 78,00 (geb.)
Mit dem zweiten Band innerhalb der dritten Abteilung der Gesammelten Schriften Leo Kestenbergs (1882-1962) hat Dietmar Schenk hiermit den seine Sammlung abschließenden Teil der Briefwechsel Kestenbergs mit wichtigen Zeitgenosse(inne)n vorgelegt. Wie der vordere und Hauptteil des Bandes (S. 25–160), die Briefe an Paul Bekker (1882–1937) und in leider sehr viel geringerem Umfang auch Briefe Bekkers an Kestenberg aus den Jahren 1919–1937, zeigt, sind diese Briefe zeit- und musikgeschichtlich mindestens so bedeutend wie der im ersten Band abgedruckte Briefwechsel Kestenbergs mit Georg Schünemann, aber auch wie der andernorts veröffentlichte Briefwechsel zwischen Bekker und Franz Schreker. Durch den frühen Tod Bekkers in den USA wurde diesem über die Wirren des Exils durchgehaltenen Gedankenaustausch ein jähes Ende bereitet, wie er durch die erzwungene Flucht Kestenbergs 1938 aus Prag nach Palästina sicher auch hätte vorerst abgebrochen werden müssen.
Die Briefe zeigen, wie reich die Möglichkeiten der Entfaltung einer neuen, demokratischen Musikkultur nach 1918 in Deutschland gewesen wären, hätten einerseits die tradierten und über die Revolution geretteten Machtverhältnisse, aber andererseits auch die durch die demokratischen Reformen ermöglichten Abstimmungen des künstlerischen Personals der staatlichen und städtischen Kulturinstitutionen nicht viele visionäre Neuerungen verhindert. Die Belegschaft der Berliner Staatsoper wählte nicht den von Kestenberg favorisierten Bekker, sondern Richard Strauss und Max von Schillings zu ihren neuen alten Vorgesetzten. So konnten die von Kestenberg und Bekker in Berlin beabsichtigten musikpolitischen Reformen auf dem Gebet des Musiktheaters erst durch die spätere Gründung der Kroll-Oper ansatzweise verwirklicht werden. Allerdings ohne Bekker, der inzwischen in Wiesbaden ein festes Engagement als Operintendant hatte. Bekker, gegen dessen antitraditionalistische Visionen sich auch die polemischen Angriffe Hans Pfitzners gerichtet hatten, betrachtete als sein Hauptbetätigungsfeld die Reform des Opernbetriebs, auf den Kestenberg als Referent für Musikerziehung im Preußischen Kultusministerium wenig Einfluss hatte, ließ sich aber auch auf viele musikpädagogische Fragen, die Kestenberg umtrieben, ein und wirkte mit Gutachten, z.B. für die Berufung Arnold Schönbergs an die Berliner Akademie der Künste, für die Verwirklichung und institutionelle Förderung von neuer Musik.
Obwohl Kestenberg die zionistische Bewegung und das damit verbundene Bestreben, dass Juden unter sich bleiben und sich nur für sich mit ihrer Kultur beschäftigen sollten, aus einer europäischen und weltbürgerlichen Perspektive ablehnte, verschlug es ihn nach Tel Aviv. Dies geschah aus Sicherheitsgründen und weil ihn, den erfahrenen Organisatoren, ein Angebot erreicht hatte, das Palestine Symphony Orchestra zu leiten. In Tel Aviv verbrachte er den Rest seines Lebens bis 1962, war dort administrativ und künstlerisch lehrend tätig und fand auf eine fast orthodoxe Weise zu den Wurzeln des Judentums in der Religion zurück. Seine im dritten Teil der Sammlung dokumentierten Versuche, von dort aus wenigstens brieflich mit seinen in der ganzen Welt verstreuten alten Freunden in Verbindung zu bleiben, sind anrührend und zeigen den willensstarken und mutigen Charakter dieses von den Idealen der Demokratie und eines humanen Sozialismus beseelten Kulturpolitikers. Ihm wurde wohl langsam deutlich, dass die von ihm angestrebten Reformen in Europa bereits historisch geworden waren und sich nur noch rudimentär öffentlich zur Sprache bringen ließen. Umso herzlicher und intensiver klammerte er sich an seine alten Beziehungen und versuchte eine gewisse modifizierte Wiederbelebung alter Konzepte im Nachkriegseuropa.
Über alle diese Dinge geben die hier versammelten Briefe Kestenbergs eindringliche Auskunft, sie sind von Dietmar Schenk in mühevoller Kleinarbeit aus deutschen, österreichischen, US-amerikanischen und israelischen Archiven zusammen getragen worden, was als ein großes Verdienst anzusehen ist. Die Einführungen, Anmerkungen und editorischen Berichte sind erfreulich instruktiv und geben den nötigen Hintergrund für den interessierten Leser.
Peter Sühring
Berlin, 20.5.2012