Schönberg Handbuch [Georg Beck]

Schönberg Handbuch / Hrsg. von Andreas Meyer, Therese Muxeneder und Ullrich Scheideler. – Berlin/Kassel: Metzler/Bärenreiter, 2023. – 516 S.: Abb.: Notenbsp.
ISBN 978-3-476-05964-2 (Metzler), 978-3-7618-2093-3 (Bärenreiter): € 99,99 (geb; auch als e-Book)

Wenn zum 150. Geburtstag einer epochemachenden Künstlerpersönlichkeit ein 500-Seiten-Handbuch erscheint, sind die Erwartungen naturgemäß hoch. Herausgeber Andreas Meyer, Therese Muxeneder, Ullrich Scheideler sind sich darüber bewusst und zeigen sich doch im gleichen Atemzug erkennbar bemüht, eben diese Erwartungen zu dämpfen. Unumwunden startet ihr Vorwort mit dem Einbekenntnis, dass „es gar nicht so leicht fällt, den Stellenwert Schönbergs in der Gegenwart und den historischen Ort eines ihm gewidmeten Handbuchs zu bestimmen“. Was in etwa darauf hinausläuft, dass man zur Gratulation erscheint, weiß, wem man gratuliert, aber nicht wozu. Eine Verlegenheit, die sich durchzieht. Zwar gibt es vielversprechende Ansätze zur Horizontbildung – Muxeneder selbst versammelt eine stattliche, wenn auch kaum vollzählige Liste der „Gesprächspartner jenseits der Musik”, Sabine Feist und Steven J. Kahn reflektieren auf die zentrale Exilerfahrung – doch Folgerungen für die offene „Stellenwert”-Frage hat das nicht. Nach der eröffnenden, 77 Schönberg-Jahre minutiös durchnehmenden Zeittafel, wird die Frage, wer dieser Arnold Schönberg denn nun gewesen ist, schlicht und ergreifend delegiert. Noch vor der eigentlichen monographischen Entfaltung erteilen die Herausgeber mit Hermann Danuser einem alten Fahrensmann das Wort, überlassen mithin einem Schönberg-Gratulanten den Vortritt, der in „Arnold Schönberg – ein Charakterbild der Moderne” tatsächlich noch einmal auszusprechen wagt, was im Poststrukturalismus, es sind, man weiß, man wagt es nicht zu sagen, die Verfallsjahre des Geistes, erfolgreich dekonstruiert, im akademischen Betrieb vollends geschreddert wurde: Existenz und Möglichkeit eines „schöpferischen Genies“ wie nicht zuletzt das „Vermächtnis einer politisch engagierten Kunst“. Um so etwas machen die Handbuch-Architekten einen Bogen. Der Anspruch an noch jeden Biographen, sagen zu sollen, wer, was einer gewesen ist, ist bestenfalls verborgen eingelöst, erscheint schemenhaft, wie hinter einem Vorhang. Leben und Werk lösen sich im Schönberg-Handbuch auf, werden überschrieben mit Lebenswelten und Werke. Was im Klartext heißt: Es gibt viel zu sagen. Wie es alles zusammenhängt, ist schwer zu bestimmen. Einen Jubilar zu besichtigen, alles zu versammeln, was er wann, wo, mit welchem Echo von sich gegeben hat, was in der Schublade geblieben ist, ist eine Seite. Die eigentümliche Verlegenheit von Schönbergs Opernfigur Mose bleibt den Herausgebern deswegen nicht erspart: Sie haben die Worte. Es fehlt ihnen das Wort.

Trittsicher sind die Autoren immer dann, wenn es ans Werkanalytische geht. In dieser Hinsicht bleiben keine Wünsche offen. Nur, dass solcherart Materialakkumulation für die „musik- und zeitgeschichtlich interessierten Leserinnen und Leser”, die das Handbuch an erster Stelle adressiert, kaum beglückend sein dürfte. Vielmehr sprechen hier doch „arrivierte Forscher” zu ebendenselben. Schnell schält sich in der Lektüre ein Muster heraus: Ist die Werkanalyse abgeschlossen, ist auch der Artikel zu Ende. Nicht nur bleibt, jenseits der Uraufführung, die nicht selten schlingenförmige, stockende Rezeption des jeweiligen Werks unerwähnt, es finden sich, von Ausnahmen abgesehen, auch keinerlei diskographische Angaben, was umso sträflicher ist als die Weiterbeschäftigung gerade auf Seiten der „interessierten Leserinnen und Leser” nun einmal daran hängt, ob eine (im Idealfall auch) kommentierte Schönberg-Diskographie konsultiert werden kann. Der erklärten „Vermittlungsarbeit der ästhetischen Erfahrung” hätte so ein Service mit Sicherheit Flügel verliehen. So bleibt ein blinder Fleck, und die Einsicht dämmert, woran dieses Schönberg-Handbuch laboriert – an der Crux der Kennerschaft. Jeden Baum ansehen, vermessen, den Wald darüber aus dem Blick verlieren.

Dabei wird der Horizont Schönberg hinreichend weit, detailtief entfaltet, somit im Prinzip alles bereitgestellt, um besagten „Stellenwert“ anzugeben, mit anderen Worten, ein künstlerisches Selbstverständnis zu konturieren wie es sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter der existentiellen Erfahrung von Vernichtung und Vernichtungsdrohung noch einmal hat artikulieren können. Antisemitismus, wohl ist es den Herausgebern bewusst, ist Grunderfahrung. Sehr früh schon, 1897, in der Nähe des Wohnsitzes pogromartige Übergriffe von Anhängern des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger. 1921 der Mattsee-Schock. Eine sich als „judenrein” erklärende Gemeinde im Salzburger Land fordert den sommerfrischenden Schönberg zum Verlassen des Ortes auf. 1933 dann der Verlust der Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste, woraufhin Schönberg im Pariser Exil zum Judentum zurückkehrt, um im amerikanischen Exil, unter Ignorierung der eigenen Verzweiflung – es gehört zu den staunen machenden, Bewunderung abnötigenden Umständen dieser Künstlerbiographie – noch einmal alles aufzubieten, um dem Verhängnis seinen Protest entgegenzustellen so wie das ein Émile Zola in der Dreyfus-Affäre getan hatte. Ein Name, ein Bezugspunkt, der im Schönberg-Handbuch fehlt. Doch was sollte das J’accuse!-Äquivalent zu Zola anderes sein, wenn nicht Schönbergs op. 46? Dafür allerdings müsste die Erkenntnis reifen, dass der Survivor from Warsaw nicht nur „Schicksal und Glauben der Juden ins Licht rückt” wie Cahn nach wiederum minutiös zusammengetragenen Analyse-Fakten, schwammig summiert. Warum die skandalöse Kontextualisierung des Werkes mit Beethovens Neunter Sinfonie seit den 1960-er Jahren freilich nicht an dieser Stelle, sondern unter “Systematische Aspekte” 200 Seiten später dokumentiert, wenngleich nicht weiter kommentiert wird, ist einfach nur verwirrend, unverständlich. Was Cahn angeht, möchte man so erweitern: Sieben auskomponierte Minuten legen den Finger in eine menschliche Wunde.

Perspektiven, die dieses Handbuch unterläuft. Dabei führen die Herausgeber ja doch sehr nachvollziehbar aus, dass dieser Arnold Abraham Schönberg, zur Welt gekommen am 13. September 1874 im zweiten Wiener Gemeindebezirk, „nie ‚nur‘ Komponist“, sondern dass er „Lehrer, Theoretiker, Bildender Künstler, streitbarer Autor und auch eine moralische Instanz“ gewesen ist, dass er weitaus mehr war als jener Tonsetzer, der der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts und ihrer Geschichtsschreibung eine völlig neue Gestalt gegeben hat mit Folgewirkungen bis ins 21. Jahrhundert. Neben seinem die Gemüter elektrisierenden, die Geister spaltenden kompositorischen Schaffen, hat derselbe Schönberg ein umfassendes literarisch-ästhetisches Werk gestellt, ist darüber hinaus als Bildender Künstler, als Maler und Karikaturist hervorgetreten und hat sich, als Reaktion auf sein erzwungenes Exil und seine Rückkehr zum Judentum, ebenso zeitdiagnostisch wie prophetisch, ebenso klar wie entschieden zu Themen im Umkreis von Judenverfolgung und jüdischer Staatsgründung geäußert, einige Dutzend Artikel, die der amerikanische Staatsbürger Arnold Schönberg (der U.S.-Pass war der einzige, den er je besaß) Jewish Affairs überschrieben hat. Einigermaßen fassungslos zitiert Hartmut Krones, im Projekt Schönberg-Gesamtausgabe Leiter der Schriften, den verzweifelten Sarkasmus, den der politische Autor Schönberg im Bewusstsein des Schreckens der Shoah, 1947 so zu Protokoll gibt: „Man muß auch die Menschenfresserrechte anerkennen. Sie beruhen auf der instinktmäßigen Erkenntnis, daß aus Blut wieder Blut und aus Fleisch wieder Fleisch wird. Es ist tragisch, daß den Menschenrechten die Fähigkeit, sich gegen Angriff und Vernichtung zu verteidigen, ebenso fehlt wie der Demokratie.“

In dieser Weise hat, unter den Exilierten, wohl nur noch Thomas Mann gesprochen, was auf die Architektonik des Handbuchs allerdings ohne Rückwirkungen bleibt. Dass Letzteres musikwissenschaftlich grundiert ist, sein muss, ist evident; warum es musikwissenschaftlich dominiert ist, nicht. Was 20 Autoren, qualifiziert durch „teils langjährige Forschungsarbeit zu Schönberg“, zu Wege gebracht haben, kulminiert in einem Dokument manifester Schönberg-Gelehrsamkeit. Was darüber hinaus möglich gewesen wäre, wird erst ganz am Ende klar. „Schönberg als Impulsgeber: Facetten seiner Rezeption in der Musik der Gegenwart” ist deswegen der persönliche Lieblingsartikel des Rezensenten, weil mit dieser schönen Idee des Musikwissenschaftlers Jörn Peter Hiekel, tatsächlich ein Fenster aufgeht und Luft einströmt, Luft von anderen Planeten. Berührend, dass der Reigen der Komponisten-Stimmen mit der des verstorbenen Wolfgang Rihm einsetzt. Wie überhaupt Rihm meines Wissens der einzige gewesen ist, der „Hitze”, „Freiheit”, „Formbewusstsein” bei Schönberg so luzide, so sprachmächtig hat anklingen lassen. Pures Vergnügen, die Reihe entlangzugehen und zu gewahren, wie dieser Arnold Schönberg, dem ein rüpelhafter Boulez meinte den Totenschein ausstellen zu dürfen, lebendig und wirksam geblieben ist. Was sich auftut hinter der populistisch geschwungenen Abrissbirne ist eine Bühne der Schönberg-Faszination.

Umso mehr verstärkt sich dann umgekehrt ein Eindruck von Biederkeit. Zunächst in der äußeren Gestalt. Was eigentlich hat dagegengesprochen, das Handbuch eines Künstlers, der im letzten Viertel seines Lebens zu einer Zweisprachigkeit in Wort und Schrift gefunden hat, auch zweisprachig anzubieten, zumal ja, und aus guten Gründen, gegen jedwede eurozentrische Schönbergiaden polemisiert wird? Warum daraus nicht selber den Schluss ziehen und die Internationalität im Erscheinungsbild sichtbar machen? – Nun, einiges spricht dafür, dass diese groß angelegte Würdigung insgeheim von einer anderen Dramaturgie regiert wird – der der Heimholung. Aufgerufen wird die Figur schon in Danusers Eröffnungsessay, insofern der postum von St. Helena in den Invalidendom zurückgeführte Napoleon als Parallele herhalten muss. Herausgeberin Muxender nimmt in ihrem Schlussaufsatz den Faden auf. Wiener Zentralfriedhof, 5. Juni 1974. Zum 100. Geburtstag werden die Urnen von Gertrud und Arnold Schönberg von Los Angeles nach Wien überstellt. Man hat, im Umkreis österreichischer Bundespräsidenten, sozialdemokratischer Politiker, Musiker, ein Ehrengrab eingerichtet. Dort, davor, spricht der Schönberg-Freund, Schönberg-Vertraute, Schönberg-Schwager Rudolf Kolisch. Eine Rede, die einen Widerspruch umkreist. Einerseits: „Wenn die Verantwortung für seine Verbannung doch einer anderen Sphäre angehört, so hat Österreich doch niemals eine freundliche Heimat für ihn bedeutet.” Andererseits: „Endlich hat er heimgefunden.” – Ist jetzt alles wieder gut? Einerseits ja, andererseits wohl kaum.
Zum Jubiläumsjahr wurde schoenberg150.at eingerichtet.

Georg Beck
Düsseldorf, 13.09.2024

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