Petr I. Čajkovskij und Nadežda F. fon Mekk. Briefwechsel Bd. 3: Briefe 1882–1890 [Kadja Grönke]

Petr I. Čajkovskij und Nadežda F. fon Mekk. Briefwechsel 1876–1890 in drei Bänden. Bd. 3: Briefe 1882–1890. Aus dem Russischen von Louisa von Westernhagen, Irmgard Wille und Lev Vinocour, rev. von Thomas Kohlhase und Lev Vinocour, hrsg. von Thomas Kohlhase. – Mainz u. a.: Schott, 2023. – 925 S.
ISBN 978-3-7957-1884-8: € 98,00 (Leinen)

„Vollendet ist das große Werk“, heißt es in Haydns Schöpfung. Ein ähnliches Freudenlied möchte man anstimmen angesichts der Tatsache, dass die dreibändige deutsche Gesamtausgabe des Briefwechsels zwischen dem Komponisten Petr Tschaikowsky und seiner Mäzenin Nadezhda von Meck jetzt komplett vorliegt. Nachdem 2020 Band 1 die Briefe der drei Jahre 1876 bis 1878 und 2021 Band 2 die drei Jahrgänge 1879 bis 1881 vereint hat, umfasst Band 3 nun die Briefe der neun Jahre 1882 bis 1890. Wie in den beiden vorausgegangenen Bänden kann man sich auch im krönenden Abschluss auf sowohl sprachlich gelungene als auch sachlich korrekte Übersetzungen verlassen und von einer Fülle an Zusatzmaterialien profitieren. Für die Sorgfalt, mit der die gesamte Edition erstellt wurde, spricht, dass die addenda et corrigenda für die Bände 1 und 2, die dem dritten Band beigegeben sind, nicht einmal eine Seite umfassen. Mit der Vollendung dieses Langzeitprojekts hat Herausgeber Thomas Kohlhase ein opus summum vorgelegt, an dem Musiker:innen, Musikfreund:innen, Bühnen, Orchester und die Wissenschaft künftig nicht vorbeikommen.

Die Vorarbeiten zu der deutschen Fassung der Korrespondenz zwischen dem russischen Komponisten und seiner Mäzenin begannen in den 1950er und 1960er Jahren, mitten im Kalten Krieg, als die Pianistin und Ausdruckstänzerin Louisa von Westernhagen auf der Basis der sowjetischen Tschaikowsky-Werkausgabe eine erste Übertragung anfertigte. Diese blieb Manuskript und liegt heute in der Bibliothek der Universität Tübingen (vgl. http://www.tschaikowsky-gesellschaft.de/index_htm_files/2-STUDIO.pdf, S. 162), an der Thomas Kohlhase Professor für Musikwissenschaft war und wo er 1993 auch die Tschaikowsky-Gesellschaft e. V. ins Leben rief. Die Publikation des vollständigen Briefwechsels Tschaikowsky/Meck war ihm ein Anliegen, seit er in der Begleitung von Louisa von Westernhagen einst die Sowjetunion besucht hat. Letztlich ist es für die Ausgabe allerdings von großem Gewinn, dass die Edition erst heute erscheint, da mehr als 200 Briefe erst nach der Jahrtausendwende entdeckt worden sind und Kohlhase zudem durch die regelmäßigen Kontakte der Tschaikowsky-Gesellschaft zum Museum und Archiv in Tschaikowskys letztem Wohnhaus in Klin die Möglichkeit hatte, seine Ausgabe auf der Basis der aktuellsten Forschungen herausgeben zu können. Denn in Russland entsteht zurzeit eine neue, sogenannte „Akademische Tschaikowsky-Gesamtausgabe“, in deren Rahmen auch der Briefwechsel mit Nadezhda von Meck neu gesichtet und in textkritischer Edition vorgelegt wird. 2016 hätte der Tod der Chefherausgeberin der Russischen Fassung zu unkalkulierbaren Verzögerungen für die deutsche Fassung führen können; an erster Stelle nach dem Inhaltsverzeichnis erfolgt daher der Dank an Anton V. Levachin und Lev Vinocour, die es Ende 2021 ermöglichten, „daß ein Typoskript der Brieftexte 1882-1890 zu den geplanten Bänden 4 und 5 der neuen russischen Gesamtausgabe des Briefwechsels noch vor deren Erscheinen für die Revision dieser Texte in Band III unserer deutschen Ausgabe zur Verfügung stand“ (S. V). Damit sind die Briefe der späten Jahre also auf Deutsch zugänglich, noch bevor die russische Edition abgeschlossen ist; die jetzt vollendete Ausgabe basiert textphilologisch aber dennoch auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand – ein schönes Beispiel für internationale Wissenschaftskooperation und für die friedliche Kraft von Kultur und Quellenforschung.

Über den Quellentext hinaus unterscheiden sich die beiden Editionen freilich grundlegend. Für die deutsche Gesamtausgabe war es Prämisse, dem Lesepublikum einen Fundus an Material zur Verfügung zu stellen, der weit über die Verbindung Tschaikowsky/Meck hinausgeht. Daher hat der Herausgeber überall dort sachdienliche Informationen und vor allem Auszüge aus weiteren Briefen aus Tschaikowskys Verwandten- und Bekanntenkreis eingefügt, deren deutsche Fassungen wohl noch auf Jahre hinaus ein dringliches Desiderat darstellen werden (leider!) und die auf diese Weise nun zumindest in Auszügen übersetzt sind. Im Ergebnis liest sich der Briefwechsel Tschaikowsky/Meck dadurch wie eine Biographie in Dokumenten, empfiehlt sich also auch als ein erster, umfassender Zugriff auf Leben, Werk und (musik-)historisches Umfeld des Komponisten.

Tschaikowsky war ein außerordentlich eifriger Briefpartner. Was er in den 14 Jahren zwischen 1876 und 1890 an Nadezhda von Meck schrieb, macht rein zahlenmäßig etwa 14% seiner Gesamtkorrespondenz aus – in der Intensität vergleichbar nur mit den Briefwechseln mit seinen beiden jüngsten Brüdern, den Zwillingen Anatoli und Modest, und mit dem Verleger und Freund Petr Jurgenson. Auffällig ist, wie sehr sich der Stil und auch die angesprochenen Themen im Kontakt mit Frau von Meck unterscheiden von den Briefen Tschaikowskys an die ihm maximal vertrauten Männer. Das liegt natürlich auch daran, dass Frau von Meck weiblich, eine Respektsperson und sein finanzieller Notanker war. Diese Ambivalenz zwischen Brieffreundschaft, gegenseitigem Vertrauen und Interesse sowie (auf Mecks Seite) Bewunderung bzw. (auf Tschaikowskys Seite) Abhängigkeit wird mit den Jahren zum Problem. Zu dem ewigen Rätsel, warum Frau von Meck den langjährigen schriftlichen Austausch im September 1890 beendet und der Komponist dieses Ende letztlich akzeptiert hat, legt der Herausgeber ein plausibles Nachwort vor, in dem er die hauptsächlichen Mutmaßungen hierzu referiert, befragt und weitere Quellen vorlegt.

Der rapide schlechter werdende Gesundheitszustand von Frau von Meck, der einen privaten Briefwechsel ohne Einschaltung eines Sekretärs unmöglich macht, die sinkende finanzielle Prosperität ihrer selbst und ihrer Kinder, das qualvolle Sterben des ältesten Sohnes, dessen Hilfe in Verwaltungsangelegenheiten nur unzureichend von seinen Geschwistern ersetzt wird, sind bekannt. Kohlhase vertritt zudem die These, dass sich der Briefwechsel „thematisch sowohl als auch persönlich [...] sozusagen erschöpft“ habe (S. 702). „Die Briefe verlieren an Spontaneität, wirken zuweilen gezwungen, [...] die Frequenz und der Briefe und ihr Umfang nehmen allmählich ab“ (ebd.), die Themen ändern sich, verengen sich auf familiäre und gesundheitliche Probleme, und Tschaikowsky, der durch seine Tantiemen und eine Pension des Zaren eigentlich ein wohlhabender Mann geworden ist, fällt es nicht leicht, seine trotzdem allfälligen Finanzprobleme mit Hilfe von Frau von Meck zu lösen und ihr dankbar sein zu müssen. Auch der Zeitfaktor mag eine Rolle spielen, da Tschaikowsky mehr und mehr vom Komponieren, Dirigieren, Reisen und von offiziellen Verpflichtungen in Anspruch genommen wird.

Diese durchaus auch im Stil der Briefe ablesbare Möglichkeiten, das Ende zu erklären, ergänzt Kohlhase durch ein Konvolut an Quellen, die sich auf den Abbruch des Briefwechsels beziehen, sowie durch eine Zusammenfassung von Tschaikowskys Testament, das er acht Tage nach dem endgültigen Ende der Korrespondenz verfasst hat. Damit erhält jede:r Leser:in die Möglichkeit, sich selbst eine Meinung zu bilden. Da der letzte Brief Frau von Mecks verschollen ist, bilden die Erinnerungen von Tschaikowskys Nichte Anna von Meck, die eher das seelische Leid der beiden Ex-Briefpartner hervorhebt, und Tschaikowskys Brief an Frau von Mecks Sekretär, in denen er die persönliche Kränkung, die er durch die simultane Einstellungen sowohl der finanziellen Unterstützung als auch der Briefe empfindet, zwei sehr unterschiedliche, innerlich aber doch zusammenhängende Akzente dieses diffizilen zwischenmenschlichen Problems. Tschaikowskys Brief an von Mecks Sekretär berührt durch seine Offenheit und Bitterkeit: „Es war mir notwendig, daß sich meine Beziehungen zu N[adezhda] F[ilaretowna von Meck] nicht im geringsten dadurch ändert, daß ich kein Geld mehr von ihr bekomme. Leider hat sich das wegen der ganz offensichtlichen Abkühlung N. F.s mir gegenüber als unmöglich erwiesen. Das Resultat davon war, daß ich aufgehört habe, N. F. zu schreiben, praktisch alle Beziehungen zu ihr abgebrochen habe, nachdem ich ihres Geldes verlustig geworden bin. Diese Situation erniedrigt mich vor mir selbst, macht mir jede Erinnerung daran, daß ich ihre Geldsendungen empfangen habe, unerträglich [...]. Vielleicht eben deshalb, weil ich N. F. nie persönlich kennengelernt habe, – erschien sie mir als das Ideal eines Menschen, [...] mir schien, eher würde die Erdkugel in Stückchen zerbröckeln, als daß sich N. F.s Beziehung zu mir ändert. Aber letzteres ist geschehen, und das stellt meine Ansichten über die Menschen, meinen Glauben an die besten von ihnen auf den Kopf, das trübt meinen Frieden und vergiftet jenen Anteil am Glück, den das Schicksal mir bestimmte. [...] Noch nie fühlte ich mich so erniedrigt, so in meinem Stolz verletzt wie jetzt“ [S. 704].

Im Versuch, sich selbst, sein Verhalten, seine Gefühle in Sprache zu fassen, setzt Tschaikowsky auch in diesem bitteren Schreiben fort, was seinen gesamten Briefwechsel mit Nadezhda von Meck durchzieht und was für ihn selbst, für sein Seinsverständnis und seine emotionale Gesundheit von unschätzbarem Wert ist: Ihr gegenüber öffnet er sich auf eine Weise, die er sich bei keinem seiner Freunde und Familienmitglieder erlaubt. Da die beiden Briefpartner räumlich auf Distanz bleiben, hat der sensible Komponist hier eine Chance, sich selbst zu modulieren und sich schreibend darüber zu vergewissern, wie er sein möchte und wie er wahrgenommen werden will. Dabei kann er auf die Sympathie und Unterstützung von Frau von Meck vertrauen, auch weit über ihre Hilfe bei finanziellen Engpässen hinaus. In ihren Briefen nimmt sie ihn wie selbstverständlich in ihre eigenen Sorgen und Freuden mit hinein, als sei er ein weiteres Mitglied ihrer großen Familie. Sie interessiert sich für alle Belange seines Lebens, Schaffens und seines Alltags. Und nicht zuletzt bietet sie ihm immer wieder intellektuelle Anregungen, indem sie mit ihm über Literatur, Musik und bildende Kunst korrespondiert. Die Themenpalette ist immens und für das Verständnis des Menschen und Künstlers Tschaikowsky unschätzbar wertvoll. Seine Einschätzung anderer Komponisten, seine politischen und sozialen Ansichten treten im Dialog – und gelegentlich auch im Dissenz – mit Frau von Meck plastisch zu Tage. Seine Reiseberichte erhellen nebenbei auch seine emotionalen Höhen und Tiefen, seine Interessen, seinen Bekannten- und Kollegenkreis. Seine herzliche Anteilnahme an den familiären Ereignissen im Hause von Meck zeugt von Empathie und Sympathie.

Es ist wohl kaum zu viel gesagt – und lässt sich an den drei nun vorliegenden deutschen Bänden im Detail nachvollziehen –, dass Frau von Meck für Tschaikowsky die Funktionen von Familienmitglied und seelenverwandter Freundin, Mutterersatz, Respektsperson, Therapeutin und Pädagogin in sich vereint. Den Briefwechsel mit ihr, in all seinen reichhaltigen Facetten, bezeichnet Kohlhase gesprächsweise sehr zutreffend nicht als „geschriebene Autobiographie“, sondern als „geschriebene Biographie“. Tschaikowskys Zeilen sind also stets vor dem Hintergrund eines schriftlichen Selbstentwurfs zu verstehen. Dass dieser – ebenso wie seine Kommentare zu anderen Menschen – über die lange Dauer des Briefwechsels hinweg nicht überall konstant bleibt, ist naheliegend und bietet interessantes Material für ein tieferes Verständnis des Menschen und Künstlers Tschaikowsky.

Eigentlich aber schärft sich das Bild, das Tschaikowsky in diesen Briefen von sich zeichnet und das man beim Lesen im Wechsel der Briefe und Gegenbriefe nuancenreich nachvollziehen kann, so recht erst im Vergleich mit seinen anderen Briefkontakten, sodass es dringlich zu wünschen ist, auch die Briefe an die Familie, an den Kollegen- und Freundeskreis und ganz speziell auch die nicht unproblematischen Briefe an seinen Verleger endlich in deutscher Übersetzung vorliegen zu haben. Für die Tschaikowsky-Forschung bleibt also noch viel zu tun – auch wenn mit der vorliegenden dreibändigen Edition ein wahrer Meilenstein geschafft ist.

Kadja Grönke
Oldenburg, im Juli 2024

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