Petr I. Čajkovskij und Nadežda F. fon Mekk. Briefwechsel 1876–1890 in drei Bänden. Bd. 1: Briefe 1876–1878 / Aus dem Russischen von Louisa von Westernhagen, Irmgard Wille und Lev Vinocour, rev. von Thomas Kohlhase und Lev Vinocour, hrsg. von Thomas Kohlhase. – Mainz u. a.: Schott, 2020. – 691 S.: Notenbeisp.
ISBN 978-3-7957-1847-3 : € 98,00 (Leinen). – Subskriptionsrabatt bei Bezug aller drei Bände
Ein opus summum braucht seine Zeit zum Reifen. Die erste ins Deutsche übersetzte Ausgabe des kompletten Briefwechsels zwischen Peter Tschaikowsky (1840–1893) und seiner Mäzenin Nadezhda von Meck (1831–1894), deren „Band Eins“ der Schott-Verlag hier vorlegt, war in den 1960er Jahren durch Louisa von Westernhagen begonnen worden – und konnte damals in keinster Weise vollständig werden. Denn in der Sowjetunion wurden die Originalquellen wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Wer Einsicht nehmen wollte in sowjetische Archive, musste Geduld, Vitamin B und nochmal Geduld mitbringen – und ein „njet“ mit einkalkulieren.
Auf Deutsch lag damals die 1900 und 1903 in zwei Bänden publizierte Übersetzung von Modest Tschaikowskys Biographie seines Bruders vor, die im Wesentlichen auf Brief-Auszügen an diverse Adressaten basiert (kommentierte Neuausgabe 2011 bei Schott als Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowskys). Außerdem gab es die 1938 aus dem Amerikanischen übersetzte romanhaft verbrämte Brief-Biographie Geliebte Freundin von Catherine Drinker Bowen und Barbara von Meck und Die Seltsame Liebe Peter Tschaikowskys und der Nadjeschda von Meck von Sergey Bortkiewicz. Die Bezeichnung „Briefausgabe“ verdiente keiner der Bände. Erst 1964 publizierten Hans Petzold und Ena von Baer im sozialistischen Leipzig eine Auswahlausgabe in einem Band (Teure Freundin. Peter Tschaikowskis Briefwechsel mit Nadeshda von Meck), die dem deutschsprachigen Lesepublikum einen schmalen Ausschnitt aus den über 1.200 Briefen zugänglich machte, die der Komponist Peter Tschaikowsky und seine Mäzenin Nadezhda von Meck einander in ihrer 14 Jahre währenden Briefbeziehung geschrieben haben. Dass jede Auswahl aber auch ein Weglassen und damit eine Deutung, eine Lenkung und Fokussierung bedeutet, erwies sich für das Tschaikowsky-Bild als Segen und als Fluch zugleich, denn diese Ausgabe war lange Zeit die einzige deutschsprachige Veröffentlichung, während Louisa von Westernhagens Übersetzungen in ihren persönlichen Unterlagen verblieben.
Auch nach dem Ende der restriktiven sowjetischen Archivpolitik floss noch viel Wasser die Wolga hinab, bevor ihr Projekt in andere Hände übergehen und weiter gedeihen konnte. In dieser Zeit ist das Tschaikowsky-Bild im deutschen Sprachraum gewaltig gewachsen – nicht zuletzt durch die Aktivitäten der 1993 gegründeten und seither fleißig forschenden und publizierenden Tschaikowsky-Gesellschaft. Eines der zentralen Vorhaben dieser Gesellschaft – und das Herzenskind ihres spiritus rector, Thomas Kohlhase – war die Fertigstellung und Veröffentlichung der Typoskripte von Louisa von Westernhagen. Doch der Wunsch, zum Textabgleich die Originalquellen heranzuziehen, blieb weiterhin utopisch. Bereits die Übersetzungen Louisa von Westernhagens basierten auf einer russischsprachigen Druckausgabe, nämlich auf der 1934–1936 in der Sowjetunion erschienenen dreibändigen Edition des Briefwechsels Tschaikowsky/Meck durch Wladimir Zhdanow und Nikolai Zhegin. Diese Ausgabe war zwar durch reichhaltige Kommentare erschlossen, aber aus weltanschaulichen Gründen zumindest partiell gekürzt, zensiert und damit unvollständig. Zwischen 1961 und 1977 erschien im Rahmen der sowjetischen Tschaikowsky-Werkausgabe eine weitere originalsprachige Edition – allerdings nur der Briefe Tschaikowskys. Sollte eine seriöse deutsche Publikation sich auf diese konzentrieren? Oder sollten die Schreiben der beiden Briefpartner nach jeweils unterschiedlichen Vorlagen ediert werden? Beides erschien unbefriedigend. Das mit viel Engagement und Zeit vorangetriebene deutsche Publikationsprojekt stagnierte erneut.
2007 kam in Russland dann der erste Band einer weiteren, nun nach aktuellen philologischen Kriterien erstellten Gesamtausgabe des Briefwechsels zwischen Peter Tschaikowsky und Nadezhda von Meck auf den Markt. Sie ist Teil einer neuen Akademischen Gesamtausgabe von Tschaikowskys künstlerischem und schriftlichem Nachlass, die derzeit ausgehend von dem Archiv in Tschaikowskys letztem Wohnhaus in Klin und in kollegialer Verbindung mit der Tschaikowsky-Gesellschaft erarbeitet und von den Verlagen MPI (Tscheljabinsk) und Schott (Mainz) vertrieben wird. Aufgrund des uneingeschränkten Archivzugriffs der Herausgeberin, Polina Vajdman (der langjährigen leitenden Archivarin in Klin), liegt damit erstmals ein gedrucktes Briefkorpus vor, das zum Fundament einer wissenschaftlich fundierten deutschen Übersetzung werden kann. Auch wenn der letzte Band der russischen Ausgabe wegen des Todes der Herausgeberin noch nicht erschienen ist und im Interesse der wissenschaftlichen Lauterkeit auch die deutschsprachige Gesamtausgabe erst dann vollendet werden kann, wenn die russische komplett vorliegt, ist es ein wichtiges Zeichen, dass Thomas Kohlhase und der Schott-Verlag jetzt den ersten der drei auf der Kliner Akademischen Ausgabe basierenden deutschen Bände auf den Markt bringt und das Erscheinen der Folgebände für Herbst 2021 und 2022 ankündigt.
Die Publikation ist am Format der bei Schott erscheinenden, von der Tschaikowsky-Gesellschaft herausgegebenen Reihe der Čajkovskij-Studien orientiert, doch nicht im hellen Signalrot ihrer bislang 17 Bände, sondern in edlem weinrotem Bibliotheksleinen mit Goldprägung und Lesebändchen (der finanziellen Unterstützung durch die Strecker-Stiftung Mainz sei Dank). Der Inhalt ist nicht weniger opulent, und er lässt von Herzen wünschen, dass nun bald auch die anderen Facetten des Briefschreibers Tschaikowsky in so kenntnisreich und genau edierten Ausgaben entdeckt werden können: die des Freundes und Vertragspartners im Briefwechsel mit seinem Verleger Jurgenson, die des Bruders im Briefwechsel mit seinen Geschwistern, die des Komponisten und Interpreten in seinen zahlreichen Schreiben in Bezug auf Aufführungen und Konzertreisen … (Hier machen die in den Online-Mitteilungen der Tschaikowsky-Gesellschaft veröffentlichten Korrespondenzen Lust auf mehr)
Doch die Entscheidung, mit dem Briefwechsel zwischen dem Komponisten und seiner Mäzenin zu beginnen, ist allemal eine weise, da diese Freundschaft zu den prägenden Konstanten in Tschaikowskys zentraler Schaffenszeit gehörte. Der erste Band dokumentiert die vielleicht spannendste Phase dieser Korrespondenz; und die Möglichkeit, beim Lesen die rasche, sehr intensive Entwicklung dieser Beziehung vollständig und chronologisch miterleben zu können, bereichert das landläufige Tschaikowsky-Bild immens. Zugleich rückt es Nadezhda von Meck als ebenso starke wie feinfühlige, gelegentlich dominante und dabei ebenso emotionale wie klar strukturierte Persönlichkeit ausdrucksmächtig an die Seite des von ihr geförderten Komponisten. In den Briefen geht es um Lebensfakten, um Musik und Literatur, doch auch um Alltagssorgen und um einen Austausch von persönlichen Befindlichkeiten – einen Aspekt, an den sich beide Seiten vorsichtig herantasten, bisweilen aber auch mit einer fast brüsken Offenheit hineinstürzen. Auf einer tieferen psychologischen Ebene liest sich der Briefwechsel dabei immer auch als ein Ringen um Selbstdefinition, Selbstpräzisierung und Selbstvergewisserung – ein Vorgang, der beide Briefpartner ganz offenkundig weit über ihr Schreiben hinaus gestärkt und gefördert hat. Zuweilen verwundert es, wie feinsinnig psychologisch Tschaikowsky Frau von Meck in seinem Sinne zu beeinflussen verstand – doch auch darüber, dass diese so kluge und so taktvolle Frau dies mit sich hat geschehen lassen.
Die vorliegende Übersetzung basiert zwar auf den Erstübertragungen von Louisa von Westernhagen, wurde dann aber durch Irmgard Wille revidiert und wesentlich erweitert, durch Lev Vinocour und Thomas Kohlhase mit den jeweils neuesten zugänglichen Brieftexten verglichen, weiter vervollständigt, und liegt nun in der Endredaktion durch Thomas Kohlhase vor. Dem Ergebnis merkt man die vielen Hände nicht an; sie ist zuverlässig und mit viel sprachlichem Feingefühl gemacht. Der Vergleich einer kurzen Passage aus dem Brief Nadezhda von Mecks vom 7./19. März 1877 (also ganz zu Beginn der Bekanntschaft) mag das verdeutlichen.
In Geliebte Freundin von Barbara von Meck lautet dieser Auszug, als deutsche Übersetzung aus dem Englischen: „Aber ein Mensch, der wie ich als Einsiedler lebt, kommt natürlicherweise zu der Einsicht, daß all das, was die Menschen gesellschaftliche Beziehungen, gesellschaftliche Gepflogenheiten, Anstandsregeln und so weiter nennen, nur leere Worte sind.“
Petzold und Baer übersetzen denselben Satz in Teure Freundin folgendermaßen: „Ein Mensch, der so zurückgezogen lebt wie ich, kommt logischerweise zu der Schlußfolgerung, daß gesellschaftliche Beziehungen, die Gepflogenheiten der großen Welt, Anstandsregeln und ähnliches nur Schall und Rauch sind.“
In der neuen Ausgabe heißt es: „[…], aber bei einem Menschen, der in solcher Askese lebt wie ich, kommt es logischerweise dazu, daß all das, was die Leute gesellschaftliche Beziehungen, weltmännische Reglements, Anstandsregeln usw. nennen, für ihn nur ein leerer Schall ohne Sinn wird.“
Während Geliebte Freundin vor dieser Aussage sogar einen Zeilenbruch setzt und Teure Freundin zumindest einen Punkt, folgt die Edition von Thomas Kohlhase dem langen Atem von Frau von Meck getreulich und benötigt für den kompletten Satz (um dessen abschließende drei Zeilen es sich hier handelt) achteinhalb Zeilen. Nur so werden auch die Untertöne deutlich, die diese Art des Schreibens transportiert. Denn in diesem Brief bekennt die Mäzenin hochemotional ihre Begeisterung nicht nur für den Komponisten, sondern auch für den Menschen Tschaikowsky und bittet ihn um eine Fotografie. Das entspricht zu einem so frühen Zeitpunkt einer Bekanntschaft damals zweifellos nicht den guten Sitten, und das Bild einer unkonventionellen Persönlichkeit, das Frau von Meck hier von sich entwirft, dient sicher auch dazu, eventuelle erotische Beiklänge dieser Bitte abzuwehren – allerdings auch nicht auszuschließen. Es ist also an Tschaikowsky, welches der mannigfachen Kommunikationsangebote in Text und Subtext er annimmt.
Solche Zwischentöne stellen eine immense Herausforderung dar. So wird beispielsweise die Formulierung „als Asket leben“ (im russischen Original: „zhiwjót askétom“) durch die Version „als Einsiedler leben“ (Geliebte Freundin) nicht vollständig erfasst, und die Formulierung „zurückgezogen leben“ (Teure Freundin) verfehlt in ihrer DDR-bedingten Areligiosität den Sinn vollständig. Die neue Ausgabe entpersonalisiert die Phrase zu „in Askese leben“, ist aber dennoch am nächsten am originalen Wortlaut. Hinter der Vermeidung der quasi-maskulinen Selbstzuschreibung Nadezhda von Mecks steht zugleich eine bewusste Grundsatzentscheidung, denn auch die wechselseitige Anrede der Korrespondenzpartner als „Freund“, die im Russischen problemlos sowohl an einen Mann als auch an eine Frau gerichtet sein kann, wird in diesem Briefband – nicht dem russischen, sondern dem deutschen Sprachgebrauch folgend – in Bezug auf Frau von Meck mit „Freundin“ übersetzt.
Erfreulich ist, dass solche Redaktionsentscheidungen im Rahmen dieses Bandes offengelegt werden, wenn man nur weiß, wo man sucht: Das vierte Unterkapitel des umfangreichen Vorspanns widmet sich detailliert dem Zustandekommen der Edition. Ohnehin besteht ein eindrucksvolles Plus dieser Briefedition in dem Kompendium an Informationen, die als Serviceleistung der Lektüre beigegeben sind. Sogar die Listen und Übersichten tragen den Stempel einer weit über das übliche Maß hinausgehenden herausgeberischen Großzügigkeit: Das Briefverzeichnis (mit Ort und Datum), Umrechnungen alter russischer Maßeinheiten und Währungen, ein anregendes (vom Herausgeber formuliertes) Stichwortverzeichnis zu Briefinhalten, Orten, Werken, Namen etc. machen den Gebrauch des Buches höchst komfortabel. Hinzu kommen ausführliche (und gleichzeitig vorbildlich komprimiert dargestellte) Kurzbiographien der Familienmitglieder Tschaikowsky und Meck und ihrer jeweiligen Verwandtschaftsbeziehungen sowie Informationen zu den wichtigen Freunden und Kollegen. Ein ausführliches Vorwort führt in die thematischen Facetten des Briefwechsels ein, gefolgt von einem biographischen und werkgeschichtlichen Überblick zu Tschaikowsky und einer hochspannenden Zusammenschau historischer Erinnerungstexte an Nadezhda von Meck.
Auch innerhalb der Briefübersetzungen selbst geht es nicht nur um den Schriftwechsel der beiden Protagonisten: Kursiv eingefügt sind Herausgeberkommentare und ergänzende Passagen aus Briefen an Dritte, die manche Vorgänge erst verständlich machen – oder aber dem Dialog zwischen Tschaikowsky und von Meck eine andere Facette hinzufügt. Hier bieten sich mannigfache Ansatzpunkt für das Entdecken, Vertiefen und Überdenken des bisherigen Tschaikowsky-Bildes – ganz zu schweigen von der kulturgeschichtlichen Breite, die diese kenntnisreich und punktgenau formulierten Kommentare aufschließen.
Auch die Fußnoten (etwa ab Mitte des Briefteils bereits mit vierstelligen Ziffern) sind wünschenswert reichhaltig und durch ihre weitreichenden Zusatzinformationen oft ebenso spannend zu lesen wie die Brieftexte. Zur Entschlackung des Anmerkungsapparats werden zudem, wo es in eckigen Klammern kurz und unmissverständlich möglich ist, reine Sach-Erläuterungen direkt in die Brieftexte eingefügt: Vornamen, die Auflösung von Kosenamen oder Abkürzungen, knappe Informationen zu einigen Personen sowie Werktitel und Opuszahlen. Als optische Lesehilfe dient die systematische Verwendung von Kursivdruck, Fettdruck, Majuskelreihungen, Sperrungen und unterschiedlichen Schriftgrößen – auch wenn die Serifen-Schrift in dieser Mannigfaltigkeit eine rechte Herausforderung für die Augen darstellt.
Weniger lesefreundlich sind dagegen jene Passagen, in denen Informationen innerhalb von Informationen in Klammern eingeschoben werden – die lateinisch transkribierten Buchtitel plus deutsche Übersetzung auf den Seiten LIII-LV etwa, oder die zahlreichen Zusatzinformationen hier und bei den Personenerläuterungen im Anhang. Doch anders ließ sich wohl kein Kompromiss finden zwischen der Fülle an Fakten und deren Verdichtung auf dem engen Raum eines einzigen Buches. Ohnehin zeigt sich sehr schnell, dass Thomas Kohlhase (seinerzeit Professor für Musikwissenschaft an der Universität Tübingen) alles andere als ein reiner Herausgeber ist, der die Übersetzungen gegengelesen und die Quellen überprüft hat: Das gesamte Konzept bis hinein die kleinsten Formalia und das generös ausgebreitete Zusatzwissen, das genau an den Stellen eingefügt wird, wo es am fruchtbarsten wird, lassen das kondensierte, komprimierte Wissen eines ganzen Forscherlebens in diesen Band einfließen. Nicht nur der Briefwechsel selbst, sondern auch seine Kommentierung und Aufbereitung sind ein Lesegenuss und ein Gewinn – egal an welchem Punkt der Annäherung an Tschaikowsky und seine Zeit sich die Leserin oder der Leser gerade befindet.
Zwei winzige Wermutstropfen hat diese Publikation allerdings doch: Zum einen wäre es schön, wenn die Notenpassagen, die Tschaikowsky in seine Briefe eingefügt hat, nicht im Anhang gebündelt, sondern direkt in die Briefe implementiert worden wären. Zum anderen – und das hat ganz und gar nichts mit dem Buch selbst zu tun – ist es traurig, dass der Schott-Verlag diese zentrale Publikation so wenig bewirbt. Sogar auf der verlagseigenen Homepage findet man unter dem Suchwort „Tschaikowsky Briefe“ nichts (stattdessen aber die Biographie von Modest Tschaikowsky), unter dem Stichwort „Tschaikowsky Meck“ ebenfalls nichts – und nur unter den Suchanfragen „Nadezhda von Meck“ (oder „Mekk“), „von Mekk“ (nur in dieser Schreibung) und „Kohlhase“ wird man fündig. Bescheidenheit in allen Ehren – aber auf diesen Band kann der Verlag so stolz sein, dass er ihn eigentlich an die ganz große Glocke hängen sollte!
Inhaltsverzeichnis
Kadja Grönke
Oldenburg, 22.02.2021