These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte [Michaela Krucsay]

These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte / Hrsg. von Juliane Streich.  Mit Ill. von Judit Vetter – Mainz: Ventil, 2019. – 344 S.: Abb.
ISBN 978-3-95575-118-0:  € 20,00 (brosch.; auch als eBook)

Gelegentlich kommt es vor, dass ein erster Eindruck revidiert werden muss; dass eine Verpackung oder auch ein Buchtitel zunächst eine bestimmte Erwartung hervorruft, man jedoch bald darauf realisiert, dass der Inhalt sich tatsächlich in eine ganz andere Richtung entwickelt. Dieser Effekt, mit dem – je nach Kontext – immer wieder auch bewusst gespielt wird, ist zwar in aller Regel bei Sachbüchern oder gar wissenschaftlicher Literatur aus gutem Grund ungern gesehen, sorgt aber manchmal auch für einen gewissen intellektuellen Mehrwert. Mit der von der kulturwissenschaftlich geschulten Journalistin Juliane Streich herausgegebenen Publikation These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte verhält es sich ähnlich: Sie wirkt – trotz des im Titel suggerierten universalistischen Anspruchs – mit knapp 140 Einzeldarstellungen ihrem Aufbau nach zunächst wie ein Lexikon der Frauen in der Popmusik. Wer das Buch dann tatsächlich im guten Glauben, sich ein neues Nachschlagewerk anzuschaffen, erwirbt, muss fast notgedrungen enttäuscht werden – beinhaltet es doch mitunter sogar Beiträge, die man in ihrer ausschließlich von kaleidoskophaften Assoziationssplittern bestimmten Gestaltung schon eher als eine Art „Anti-Lexikonartikel“ bezeichnen könnte, wie, um nur ein Bespiel zu nennen, jener zu Hildegard Knef von Jasper Nicolaison (S. 16-18). Auch der Anspruch, die „feministische Musikgeschichte“ zu durchstreifen, erweist sich zwangläufig als etwas überambitioniert. Blendet man dies jedoch aus und schafft es, mit einer gänzlich offenen Erwartungshaltung an die Lektüre heranzugehen, vermag man dabei durchaus die eine oder andere positive Überraschung zu erleben. Denn in der vielleicht größten Schwäche der von zahlreichen Autor*innen mit jeweils ganz unterschiedlichem Hintergrund gestalteten Beiträge liegt gleichzeitig der besondere Reiz, der von ihnen ausgeht: Sie sind, trotz ihrer beträchtlichen Bandbreite von tatsächlich lexikalisch-akademisch bis hin zu etwas wirr anmutendem Geplauder, von einem so unbekümmerten Individualismus getragen, dass man sich unwillkürlich mitten in die Gedanken- beziehungsweise Erfahrungswelt der einzelnen Autor*innen hineingesogen fühlt. Darauf sich einzulassen, muss man sich freilich bereit fühlen. Und auch dann noch lauern einige Fallgruben auf die ahnungslose Leserschaft, läuft man doch Gefahr, sich in dem fremden Bewusstseinsstrom zu verlieren – zumal gelegentlich für eine tatsächliche inhaltliche Nachvollziehbarkeit unabdingbare Grundkenntnisse zum jeweiligen Thema stillschweigend vorausgesetzt werden. Dieses Problem ist der Herausgeberin durchaus bewusst, von der die extrem pluralistische Sichtweise sowie die hinsichtlich der gendergerechten Sprache unterschiedliche formale Gestaltung resp. Schreibweise der einzelnen Beiträge im passend als „Intro“ titulierten Vorwort explizit angesprochen und verteidigt wird (S. 11f). Auch das seit langem kontrovers diskutierte Problem, ob eine zum etablierten Diskurs parallel erfolgende Nischengeschichtsschreibung langfristig zum Erfolg – das heißt, zum nachhaltigen Einschreiben der „Nischenbewohner*innen“ in das allgemeine Bewusstsein – führen kann, oder ob präexistente Grenzziehungen auf diese Art eher noch weiter gefestigt werden, thematisiert die Kulturwissenschaftlerin Streich: „Nun kann man darüber streiten, wie sinnvoll es ist, den Fokus auf Frauen zu legen, als wäre ,Frauenmusik‘ ein eigenes Genre, und ob es nicht viel besser wäre, in Zeitschriften, Büchern und anderen Publikationen weibliche Künstlerinnen ganz selbstverständlich mitzubehandeln. Klar! Sowieso immer! Hier geht’s aber um Einträge in die feministische Geschichte, und die erzählen wir mit Beispielen von Frauen.“ (S. 11) Dieses Argument ist genügt allemal, um den ausschließlichen Fokus auf Frauen* im vorliegenden Kontext ausreichend zu begründen, und so führen die grob nach Dekaden und innerhalb dieser feinchronologisch nach Erscheinen der ersten Single/LP gegliederten Beispiele, deren Auswahl bisweilen ebenso individuell und eklektizistisch anmutet wie ihre jeweiligen schriftlichen Darstellungen, von den „1940/50er“ Jahren bis in die eben erst vollendeten „2010er“.
Eine weitere Frage drängt sich auf: Verstellt die vielleicht allzu unmittelbare Perspektive den Blick auf die jüngste Geschichte, erschwert sie die Auswahl der Beispiele? Abermals mag man mit Pros und Contras argumentieren; doch auch sie können nicht wirklich angewandt werden auf These Girls, das die subjektiven Prioritäten, Sichtweisen und Stile eines  Autor*innen-Teams von Wissenschaftler*innen, Musiker*innen, Insider*innen und Enthusiast*innen mit völlig unterschiedlichen Zugängen auf die „feministische Musikgeschichte“ der Popular Music zu einem Feuerwerk der Eindrücke und Anregungen vereint. Manches doppelt sich, vieles fehlt, und einen roten Faden oder gar eine wissenschaftlich fundierte Auswahl der Protagonist*innen wird man vergeblich suchen. Gibt Streichs auch selbst anekdotisch geprägtes, in beinahe anarchistisch-humorvollem Grundton gehaltenes Vorwort jedoch als eine der zentralen Motivationen der Publikation an, mit ihr „Role Models vorstellen“ zu wollen (S. 9), wirkt dies eben dadurch umso glaubwürdiger und spricht die Lesenden auf Basis der eigenen Lebenserfahrungen und Emotionen möglicherweise unmittelbarer an als mit präzise strukturierten, aber trockenen Fakten.
Die am Ende des Buches versammelten Kurzbiografien all jener, die dazu einen Beitrag geleistet haben, erfüllen in diesem Zusammenhang nicht nur eine typische Konvention einschlägiger Publikationen, sondern sie ermöglichen es der Leserschaft, die in den einzelnen Artikeln wiedergespiegelte Autor*innenperspektive in ihren jeweils spezifischen Kontext einzuordnen und so, womöglich, besser zu verstehen (S. 331-338). Zusammen mit der auf Spotify angebotenen Playlist zum Buch eröffnet die Lektüre vielfältige Chancen, Mainstream mit neuen Ohren zu hören, vielleicht längst Vergessenes für sich wiederzufinden und ganz Neues zu entdecken. Kaum jemand wird „These girls“ in wenigen Tagen auslesen; bestimmt wird es niemand als Lexikon benützen. Es ist ein Buch zum Schmökern, zum Nachdenken und nicht zuletzt zum Fühlen, das man immer wieder einmal zur Hand nimmt und das einen über lange Zeit begleiten kann, wie eine alte Freundschaft oder ein Song aus früherer Zeit.
Inhaltsverzeichnis

Michaela Krucsay
Leoben, 20.07.2020

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