David Rothenberg: Stadt der Nachtigallen. Berlins perfekter Sound / Aus d. Amerik. übers. v. Silvia Morawetz – Hamburg: Rowohlt, 2020. – 255 S.: Abb. [Nightingales in Berlin]
ISBN 978-3-498-00156-8 : € 26,00 (geb.; auch als eBook und Hörbuch)
Wenn man das Buch dieses amerikanischen Philosophie-Professors und improvisierenden Jazzmusikers (Klarinettisten) zu Ende gelesen hat, fragt man sich, ob die ganze komponierte Musik des Menschengeschlechts nicht auch und gerade ein Zeichen für die tierische Natur des Menschen ist. Ja, auch der Mensch musiziert triebhaft und eigentlich nur um der Musik willen. In Verbindung mit seiner geistigen Natur schafft es der Mensch lediglich, Musik durch Wiederholung, Übung, Gedächtnis und Lernen eine bewusstere Stufe zu verleihen und sie bestimmten Regeln zu unterwerfen. Es gehört aber zu den erstaunlichsten Mitteilungen in diesem Buch die Einsicht, Tiermusik, speziell der Gesang der Vögel, Wale und Insekten, beruhe auf Lernen und Verfeinerung im Laufe einer Evolution von Millionen von Jahren. Da kann der Mensch mit seiner Musik, mit seinen Sonaten und Sinfonien, auch mit seinen Jazzimprovisationen quantitativ wie qualitativ nur noch ein I-Tüpfelchen draufsetzen. Viele menschliche Musiker wussten das schon und begaben sich in ein entweder nachahmendes oder mystisch dialogisierendes Verhältnis zu tierischer Musik, von Antonio Vivaldi bis Olivier Messiaen, um nur die bekanntesten zu nennen. In einen solchen Dialog einzutreten, d.h. zunächst davon zu träumen, dann zu ahnen und schließlich zu wissen, dass mit Vögeln, speziell mit der Nachtigall, in Echtzeit ein Konzert zu veranstalten wie ein gegenseitiges Nehmen und Geben ist oder zu hören, dass der singende Vogel bereit und fähig ist, mit menschlichen Musikern zu kommunizieren ‑ das ist die an vielen schönen Beispielen erläuterte und erhärtete Erfahrung, die in diesem Buch auf das Schönste und Beredsamste ausgebreitet wird. Um diese Erfahrungen zu machen, hat sich Rothenburg mit einer wechselnden Truppe neugieriger und begnadeter Musiker(innen) mit Gesang, Instrumenten und elektronischen Geräten in Berlin auf den Weg gemacht.
Auch dem Rezensenten war schon aufgefallen, dass die Vögel in seinem Garten, besonders kräftig und intensiv anfangen zu singen, wenn er Lärm macht, z.B. mit einem Rasenmäher, dass sie versuchen, den Krach zu übertonen, sich von ihm zu lauten Gesang animieren lassen. Bei Rothenberg kann man nun diese Erfahrung bestätigt und universalisiert finden, gerade auch die Nachtigall reagiert auf menschlichen Lärm mit Gesang, also sucht sie die Großstädte wie Berlin, um sich von ihrem Krach provozieren zu lassen und kräftig und pausenlos singen zu können – und sie wird ihn überleben, wie sie auch schon vor dem Auftauchen des Menschen auf diesem ursprünglich etwas leiseren Planeten etwas weniger gesungen hat. Auch singt sie in der Dunkelheit ausdauernder als der Mensch; wenn dessen Kraft zu musizieren nach Stunden schon erlahmt ist, singt sie unverdrossen weiter, auch diese Kränkung musste Rothenberg erfahren.
Dem Rezensenten war schon aufgefallen, dass Vögel besonders im Morgengrauen intensiv singen, und er hielt dies immer für eine freudige Begrüßung des Lichts an einem neuen Tag. Nun sagt Rothenberg seltsamerweise, dass dieser Gesang grundlos sei (8. These in „Elf Wege zur Tiermusik“, S. 208) ‑ genauso unerklärlich wie die Tatsache, dass gerade die Nachtigall nicht morgens, sondern nur nächtens singt. Auf den Nachtigallen-Gesang im nächtlichen Gebüsch eines Berliner Parks war der Rezensent von einer vogelkundigen Freundin aufmerksam gemacht worden. Das war aber an keinem der von Rothenberg genannten Orte ‑ weder im Treptower Park, noch in der Hasenheide, noch im Viktoriapark am Kreuzberg, noch am Gleisdreieck, noch an der Baerwaldbrücke, sondern im Park am Weinbergsweg in Mitte. Die Orte in Berlin lassen sich also ergänzen und erweitern.
Mehr als dem viel in Berlin unterwegs gewesenen Autor ‑ der bis auf eine Äußerung von Immanuel Kant über die Unnachahmlichkeit des Nachtigallen-Gesangs (S. 196f.) nur englischsprachige Literatur des 21. Jahrhunderts zu diesem Thema kennt und ansonsten nur europäische klassisch-romantische oder altorientalische Lyrik heranzieht ‑ bewusst ist, gibt es in der deutschen Philosophie eine antirationalistische Tradition, die schon im 18. Jahrhundert sehr intensiv auf die von Rothenberg gemeinten Phänomene zu sprechen kam. Johann Gottlieb Herder lieferte in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache eine genetische Erklärung der tierischen Kunstfertigkeiten und Kunsttriebe, und sein späterer Freund Friedrich Heinrich Jacobi stellte im Anschluss daran schon 1774 einige Betrachtungen dazu an, in denen er ‑ empirisch belegt ‑ den Tieren mehr als Sinnlichkeit und Instinkt zubilligte, nämlich auch Gedächtnis und Voraussicht. Herder aber erklärte, der Vogel singe nur, wie er auch niste, der Gesang sei ihm wie seine Sinne, Vorstellungen und Triebe angeboren, er singe von Natur aus. Das sei noch keine Sprache, die erst der Mensch vernunftbegabt erzeugen könne. Dass aber der instinktive Vogelsang eine Kunstfertigkeit sei, ließ er gelten. Und mit dieser Sangeskunst der Vögel, speziell der Nachtigallen, besonders in Berlin, und mit den Brücken, die diese Kunst zur menschlichen Musik, besonders zum Gesang, aber auch zur Musik mit Instrumenten schlägt, befassen sich Rothenbergs Erfahrungen und Reflexionen. Sie führen zu einem erweiterten Musikbegriff, der die Tiermusik mit einschließt und die Stellung des Menschen im Kosmos der Musik relativiert.
Tonaufnahmen zu den von Rothenberg erzählten Geschichten kann man auf der Webseite www.nightingalesinberlin.com aufrufen.
Das Buch wäre passenderweise besonders jetzt zu lesen, wenn die aus Äthiopien zurückgekehrten Nachtigallen im Berliner Frühling wieder anfangen, mit ihrem nächtlichen Gesang an besagten Stellen zu schlagen.
Peter Sühring
Bornheim/Berlin, 03.04.2021