Federica Marsico: La seduzione queer di Fedra: il mito secondo Britten, Bussotti e Henze. – Canterano: Aracne, 2020. – 300 S.: Abb., Notenbeisp.
ISBN 978-88-255-3875-5 : € 29,70 (kt.; auch als eBook)
Der antike Mythos von Phaidra, die ihren Stiefsohn Hippolytos begehrt, von diesem aber abgewiesen wird und auf Rache sinnt und sich schließlich selbst das Leben nimmt, hat in den Künsten bekanntlich reiche Resonanz gefunden. Die früheste erhaltene Dramatisierung ist wohl jene von Euripides, doch erst seit der Renaissance erhöhte sich die Zahl der nachgewiesenen szenischen Versionen erheblich; dazu gibt es eine große Menge an literarischen und musikalischen Umsetzungen. Schon im Barock und Rokoko wurde das Thema mehrfach auf die Opernbühne gebracht, u.a. von Francesco Vannarelli, Christoph Willibald Gluck und Jean-Philippe Rameau. Die Autorin des vorliegenden Buches (einer überarbeiteten Fassung ihrer Dissertation an der Universität von Pavia) verschiebt die Genese des Sujets bewusst in einen kurzen Anhang und konzentriert sich in der Tat auf drei musikalische Manifestationen aus der Hand homosexueller Komponisten des 20. Jahrhunderts: Benjamin Brittens dramatische Kantate Phaedra op. 93 für Mezzosopran und Kammerensemble von 1975, Sylvano Bussottis Oper Le Racine: Pianobar pour Phèdre (mit dem überschaubaren Instrumentarium Klavier, Celesta und Röhrenglocken) aus den Jahren 1979-80 (mit stark abweichender 2. Fassung sowie umgetitelter 3. Fassung Fedra 1988) und Hans Werner Henzes „Konzertoper“ Phaedra, die 2007 in Berlin ihre Uraufführung erlebte. Während Brittens Kantate sich auch wegen ihres knappen Umfangs großer Beliebtheit erfreut, sind die beiden anderen Werken international eher unbekannt geblieben. Immerhin findet sich Henzes Werk in zwei Soundfiles auf Youtube.
Federica Marsico unterteilt ihre Studie in zwei klar voneinander getrennte Teile unterschiedlicher Länge. Der erste, mit dem kurzen Untertitel „Premesse“ überschriebene legt die Grundlagen für eine „queere“ Lesart der Werke der drei Komponisten: Bei Britten fokussiert sie die „queere“ Perspektive nicht zuletzt auf Pädoerotik, Prüderie (gegenüber dem offen schwul gelebten Leben eines W. H. Auden) und der von Brittens Seite monogamen Beziehung mit Peter Pears, bei Henze auf „Effetti queer“ und die zunehmend literarisch überhöhende Sublimierung von Homosexualität, bei Bussotti auf mehrfach aufs Faunische rekurrierende Homoerotik, ehe sie die homosexuellen Implikationen verschiedener Mythen bei den drei Komponisten und des Phaidra-Mythos in Wissenschaft und Literatur diskutiert. Fast am Rande findet eine der Phaidra vergleichbare Persönlichkeit des Alten Testaments Erwähnung: Potiphars Weib, das sich dem keuschen Joseph nähert: Richard Strauss‘ Ballett Josephs Legende (1912-14) auf ein Libretto von Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal steht Georges Aurics Ballett Phèdre (1950) auf ein Szenario von Jean Cocteau in überraschender Weise äußerst nahe – Thema für eine andere Forschungsarbeit …?
Die ersten zwei von Marsico diskutierten Werke basieren auf Jean Racines Phèdre-Dramatisierung von 1676, die seit damals den Ausgangspunkt für den größten Teil der musikalischen Auseinandersetzung mit dem Topos bildete; nur Henze und sein Librettist Christian Lehnert beziehen sich ausführlich auf die Lesart des Euripides. Während in Brittens Phaedra die Narrative eher konventionell und in Henzes Oper umgekehrt eine starke Überhöhung erfolgt, spielt Bussottis umfänglicher Dreiakter mit Prolog und Intermezzo doppelbödig mit den Realitäten. In seiner ersten Fassung spielt das Werk in einer Pariser Pianobar, in der Phèdre (mit viel nackter Haut) als „Theater auf dem Theater“ in Szene gesetzt wird; in der Wiederaufführung 1986 spielt die Handlung nicht mehr in Paris, sondern in einem altem Haus am Mittelmeer, in dem Fedra lebt und in dem diesmal ein Ballett einstudiert werden soll (die 3. Fassung spielt in Athen und Paris). Gerade Bussottis Werk erfährt besonders ausführliche Würdigung (mehr als 70 Seiten im Vergleich zu jeweils rund 20 für Britten und Henze), dennoch muss sich der interessierte Leser eine Übersicht über die Rollen oder eine strukturierte Handlungsübersicht (nicht zuletzt wegen der drei stark voneinander abweichenden Versionen) zusammensuchen – erst spät wird klar, das Phaidra in der ersten Fassung, anders als bei Britten und Henze, nicht einem Mezzosopran, sondern einem Sopran zugewiesen ist. Wie bei Britten und Bussotti, ist Marsico auch bei Henzes Phaedra in der glücklichen Lage, die Werkentstehung aus der Feder des Komponisten reicher umgebender Korrespondenz ausführlich nachvollziehen zu können. Auch hier erfahren wir viel zur Genese des Werks und werden analytisch in die Komposition eingeführt; strukturell ist dieses Kapitel klarer gegliedert als jenes zu Le Racine. Marsico verknüpft Henzes Phaedra komponisten-biografisch nachvollziehbar mit der Oper Il re cervo, insbesondere durch die Figur des Hippolyt (gleiches erfolgte zuvor bei Britten in der Parallelisierung Phaedra-Lucretia); Henze erweitert die Deutungsmöglichkeiten, indem er die Jagdgöttin Artemis einem Countertenor zuweist. Marsicos Erkundung (die erste ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung sowohl mit Bussottis als auch mit Henzes Komposition) hat Hand und Fuß und eröffnet viele neue Blicke sowohl auf Bekanntes als auf noch nicht Berücksichtigtes.
Der musikwissenschaftliche Gender- und Queerness-Diskurs ist in Italien noch kaum etabliert, und gerade darum ist die erfrischende und selbstentwickelte Forschungsarbeit Marsicos umso erfreulicher, die auch dem nicht-italienischsprachigen Diskurs neue Impulse verleihen könnte. Vorausgesetzt natürlich, der Leser setzt sich hinreichend mit der italienischen Sprache auseinander.
Jürgen Schaarwächter
Karlsruhe, 17.04.2021