Carsten Wollin (Hrsg.): Einleitung und Kritischer Bericht zu Wolfgang Amadé Mozart, „Mailänder Variationen“. Thema und 12 Variationen in C-Dur für Clavier. Köchel-Verzeichnis deest. editio princeps nach der Handschrift der Lannoy-Sammlung im Landesarchiv Graz Hs. JJKF 40515 (L617/92). – Beeskow: ortus, 2024. – XXVIII, 14 S. (ortus organum ; 344)
ISMN 979-90-502352-57-9 € 18,00 (kt.)
Es gibt Kompositionen, die nur zugeschrieben werden können, also von zweifelhafter Echtheit sind, da für sie kein Autograph des Komponisten existiert. Diese kritisch zu edieren, über Herkunft der Quelle aufzuklären und die Echtheitsfrage zu diskutieren, ist eigentlich die Aufgabe von Editoren im Rahmen der Gesamtausgabe eines Komponisten, Rubrik: Zugeschriebene Werke. Leider bleiben die Herausgeber der in dieser Hinsicht noch unvollendeten Neuen Mozartausgabe (NMA) passiv, sodass Selbsthilfe angesagt ist. Manchmal kursieren von solchen nur zugeschriebenen Werken bereits jede Menge unkritischer Ausgaben, die auch schon öffentlich musiziert werden, und die kritische Edition innerhalb einer Gesamtausgabe müsste dieser Situation Rechnung tragen und Maßstäbe für die Beurteilung solcher Kompositionen anbieten. Auch im Falle Mozarts gibt es bis heute solche Kompositionen, die zwar eine Nummer des Köchel-Verzeichnisses tragen, aber noch nicht kritisch ediert sind und eine Lücke oder ein Desiderat innerhalb der Ergänzungsbände der Neuen Mozart Ausgabe darstellen (wie z.B. KV 404a, das sind die Mozart zugeschriebenen Streichtrio-Einleitungen zu und Bearbeitungen von dreistimmigen Klavierfugen Sebastian und Friedemann Bachs, Wien 1782).
Es gibt aber auch den anders gearteten Fall, dass eine zugeschriebene Komposition zwar in einer handschriftlichen Quelle als Abschrift eines zeitgenössischen oder späteren Kopisten existiert, sie der Forschung auch bekannt ist, aber trotzdem überhaupt noch nicht ediert ist, weder kritisch noch unkritisch, und meist auch noch nirgendwo öffentlich erklungen ist. Um solch eine Komposition handelt es sich im vorliegenden Fall, sie war bis vor kurzem dem alten Köchel-Verzeichnis der Werke Mozarts (6. Auflage 1964) unbekannt, ist aber seit dem 19.09.2024 ins neue Köchel-Verzeichnis unter der Nummer 659 als Werk zweifelhafter Echtheit aufgenommen worden. Wollin als erster Herausgeber dieser Mozart zugeschriebenen Variationenfolge für Klavier hat die vorliegende kritische Ausgabe vorgelegt, die zugleich als Spielausgabe dienen könnte und sollte, allerdings im neuen Köchel-Verzeichnis nicht als editio princeps erwähnt ist, weil offenbar nur die Ausgaben innerhalb der NMA etwas gelten. Es müsste dann aber heißen: NMA deest.
Eine nur zugeschriebene Komposition separat und ohne Zusatz unter dem Namen jenes Komponisten zu veröffentlichen, dem sie nur zugeschrieben ist und werden konnte ‑ wie hier geschehen – , so, als wäre es möglich, ihre Echtheit zu erweisen oder als sei sie schon erwiesen, ist heikel und eigentlich unkritisch. Würde sie in einem Ergänzungsband der NMA unter dem Titel „Zugeschriebene Werke“ erstmals veröffentlicht, so wäre die Lage eindeutig. Eine einzelne solcher Kompositionen aber ohne Zusatz zu publizieren, als wäre sie echt oder authentisch, ist wohl kaum als korrekt zu betrachten. Dass man sich angesichts der empörenden Passivität der Salzburger Mozart-Verwalter, die über einen endlos langen Zeitraum die Vollendung der Neuen Mozart Ausgabe verschleppen und unbekannte und bekannte, Mozart zugeschriebene Kompositionen nicht edieren, dazu entschließt, es in einzelnen Fällen, wie dem vorliegenden, einfach selbst zu tun, ist nur zu verständlich und als Initiative durchaus lobenswert. Der Herausgeber ist auch ein Fachmann und als Editionsphilologe ausgewiesen. Trotzdem ist an der Art seiner Begründung für seine Erstedition einer in Graz aufbewahrten Handschrift unter dem Komponistennamen W. A. Mozart, wie er sie in der Einleitung zu dieser Notenausgabe gegeben hat, einiges zweifelhaft.
Dass das Grazer Variationen-Manuskript eines unbekannten Schreibers etwas mit Mozart, speziell mit der Ballettmusik zu seiner Festa teatrale Ascanio in Alba, Mailand 1771, zu tun hat, gilt als unbestritten, seit der Mozart-Forscher und -Editor Wolfgang Plath 1964 nachgewiesen hatte, dass zwar nicht die vorliegenden Variationen, aber die Basslinie zweier Stücke (die Nummern 4 und 5) einer Folge von neun, früher in der Berliner Staatsbibliothek lagernden, heute vermissten, Mozart zugeschriebenen Klavierstücken mit der Basslinie zweier Stücke aus dem Ballo der Oper Ascanio in Alba, von dem nur die Basslinie überliefert ist, übereinstimmt. Ein weiteres Stück (das dritte) dieses von Alfred Einstein 1937 in seine 3. Auflage des Köchel-Verzeichnisses unter der Nummer „Anhang 207“ aufgenommenen Zyklus von Klavierstücken, der von Plath und Wollin in Gänze mit dem Ballo identifiziert wurde, ist nun wiederum identisch mit dem Themen-Satz der hier edierten Grazer Variationen.
Mit welch imposantem spekulativem Aufwand, welchen Vermutungen und Hochrechnungen es Plath zu gelingen scheint, einen angeblichen Nachweis dafür zu erbringen, dass nun auch der Themensatz des Grazer Variationen-Zyklus ein Teil einer Fassung des in Klaviersatz umformulierten, ehemals instrumental dargebotenen Balletts aus Mozarts Ascanio-Oper sein soll, kann man in seinem im Mozart-Jahrbuch von 1964 abgedruckten Aufsatz „Der Ballo des Ascanio und die Klavierstücke KV Anhang 207“ nachlesen.
Da Plath nun schon so kühn war, ein nur zugeschriebenes Werk wie die Klavierstücke KV Anhang 207 unter dem Titel „Ballettmusik aus Ascanio in Alba, KV 111“ in die Edition der echten Klavierstücke Mozarts in einen regulären Band der NMA (IX,27/2, Kassel 1982) aufzunehmen (man fragt sich, warum sie nicht gleich als ein Klavierauszug in den Band der Ballettmusiken aufgenommen wurde), wäre es nur konsequent gewesen, auch die ihm bekannten, Mozart zugeschriebenen Grazer Variationen damals gleich mit zu veröffentlichen.
Dass Wollin meint, Plath folgen und sich auf ihn stützen zu können, nur weil den selbstsuggestiven Spekulationen Plaths bis heute noch nicht widersprochen wurde, ist unvorsichtig und seltsam. Bis auf eine Korrektur von Sibylle Dahm, die immerhin ein Stück nicht Mozart, sondern Florian Deller (1729-1773) und einem Orpheus-Ballett des französischen Ballettmeisters Jean Georges Noverre (1727-1810) zuordnen konnte, ist zwar diesen Vorschlägen oder Festlegungen Plaths bisher nicht widersprochen worden, es ist ihnen aber auch nicht jeder gefolgt. Abgesehen davon, dass man Spekulationen schlecht widersprechen kann, außer indem man darauf hinweist (für den Fall, dass sie als Tatsachenbehauptungen auftreten sollten, was bei Plath verstohlen passiert), dass sie nur Spekulationen und nicht stichhaltig sind, ist doch der unhaltbare Charakter des angeblichen Nachweises von Plath mit Händen zu greifen. Wollin hätte also der Erste werden können, der Plath widerspricht, wäre er nicht selbst von dem Ziel getrieben, die Mozartsche Authentizität nicht nur des Themensatzes, sondern des ganzen Variationenzyklus zu behaupten oder anhand von stilistischen Indizien als Möglichkeit nahezulegen. Aber, um diese Behauptung und dieses Indizienverfahren nachvollziehen zu können, müsste man um so viele ungeschützte Ecken gehen und so viele Scheinschlüsse mitvollziehen, dass man sich sträuben muss.
Dennoch ist eine Echtheit dieser Klaviervariationen und ihre Datierung in das Umfeld der zweiten Mailänder Reise Mozarts 1771 nicht auszuschließen Das ist ja gerade das Wesen einer jeden nur zugeschriebenen Komposition, dass sie echt oder unecht sein könnte. Das zu entscheiden ist aber eigentlich nicht die Aufgabe des Editors, sondern das kann und sollte jeder Spieler dieser Stücke für sich entscheiden. Wenn er es denn kann – nun, da das Werk erstediert ist, kann er es, und das ist dem Editor zu danken.
In einer Hinsicht ist Wollin völlig zuzustimmen, er sträubt sich gegen die abschätzige, schulmeisterlich-pedantische Art, mit der die Qualität der möglichen Kompositionen des Jünglings Mozart von Alfred Einstein, Wolfgang Plath und Kurt von Fischer („unmozartisch“, „konventionell“ „nicht klaviermäßig“) verhandelt wird. Umso erstaunlicher ist, dass er die Unsitte der NMA, nicht das Original, sondern eine verbesserte Version abzudrucken, dass er also ihre Emendationen übernimmt, und sie als Lesarten bezeichnet, statt eigene Lesarten in einem Anhang zu produzieren und anzubieten, die das Original eventuell verbessern könnten.
Peter Sühring
Bornheim 19.09.2024