Wolf-Rüdiger Baumann und Claudia Saam: Ein Haus schreibt Geschichte. Berlin, Mommsenstraße 6.‑ Berlin: Transit, 2024. – 199 S.: s/w-Abb.
ISBN 978-3-88747-415-7 : € 24,00 (geb.)
Ein Haus im Berliner Westen, da, wo er am bürgerlichsten war und ist und sich illustre Gestalten des Bürgertums gerne niederließen und niederlassen: Ku’damm-Nähe, Häuser mit dekorativer Architektur und Ausgestaltung; Bequemlichkeit, Sicherheit und Ruhe ausstrahlend. Der Mensch muss wohnen – das wussten schon die alten Griechen, in der Gegend um die Mommsenstraße herum aber hatte und hat man auch eine Ahnung davon, wie zu wohnen sei. Wenn einer der Künstler und Intellektuellen aus dieser geld- und/oder bildungsbürgerlichen Sphäre sich einmal als Kritiker der Bürger benommen hat, so entpuppte er sich alsbald selbst als einer der letzten Bürger in einem positiven, kulturtragenden Sinn dieses soziologischen Begriffs, der ja kein Schimpfwort zu sein braucht. Eine gewisse gediegene Vorbildhaftigkeit haftet dieser Sphäre an, sie verkörperte Sitten und Gebräuche einer erstrebenswerten konventionellen Lebensweise, die man auch kultiviert nennen könnte. Die Geschichte eines solchen kultivierten Hauses zu schreiben, in der zudem erzählt wird, wie jene Lebensweise auch früher schon gefährdet war, nämlich dann, wenn sich Teile der Elite mit dem Mob verbündeten und Teile des Bürgertums, besonders solche jüdischer Herkunft, der Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt wurden, ist heutzutage, wo wieder die Reste bürgerlichen Anstands zu zerbröseln drohen, besonders interessant und wichtig. Weil es die schleichende Entwürdigung im menschlichen Umgang dokumentiert und zeigt, wie von einer entwürdigenden „Menschenbehandlung“, um ein Wort aus dem Wörterbuch des Unmenschen zu benutzen, schließlich zu Vertreibung und Vernichtung fortgeschritten wurde.
Manchmal hat man den Eindruck, dass selbst Landschaften der Natur oder besonders Stadtlandschaften oder einzelne neuralgische Punkte eines Ortes die Spuren geschichtlicher Eingriffe nicht verleugnen können und ihre Physiognomie auch später noch von grauenhaften Ereignissen geprägt zu sein scheint, es in die Atmosphäre solcher Örtlichkeiten für immer und unwiderruflich eingelassen zu sein scheint und es unterschwellig spürbar bleibt, was hier geschah – das unheimliche Gefühl beim Spazierengehen über Schlachtfelder.
Trotzdem können eben weder Bäume noch Steine detailliert erzählen, was ihnen und den Menschen neben und zwischen ihnen widerfuhr, was ihnen angetan wurde. Auch das Haus Nummer 6 in der Berliner Mommsenstraße kann nicht selbst erzählen, es kann bestenfalls bei Menschen, die es anschauen, betreten oder darin wohnen, wie die Autoren des vorliegenden Buches, Fragen aufwerfen, wie es sich hier mit wem wohl einmal gelebt haben könnte, welche Schicksale sich hier zutrugen. Diesen Fragen nachgegangen zu sein und sie aus heutiger Sicht bestmöglich beantwortet zu haben ist das große Verdienst dieser Hausgeschichte, von berufsmäßigen Kulturhistorikern geschrieben, die ihr Handwerk verstehen. Das Autorenpaar ist den einzig möglichen Weg gegangen, die das Haus betreffenden Dokumente und Akten, die Lebensbeschreibungen in Briefen und Erzählungen, auch der Nachfahren der ehemaligen Bewohner zu suchen, zu sammeln und auszuwerten. Und zwar nicht neutral, nur um Vergessenes und Unbekanntes zu vergegenwärtigen und letztlich eine Versöhnung mit der geschichtlichen Katastrophe zu bewirken, sondern durchaus, um die Wunden, die solche Häuser – auf den ersten Blick vielleicht unmerklich ‑ an sich tragen, aufzudecken und offen zu halten. Dabei – im Gegensatz zu manchem Zitat der betroffenen Bewohner – nicht sentimental geworden zu sein, ist eines der großen Vorzüge dieses nüchternen und doch betroffen machenden Buches.
Das Autorenpaar setzt einen gewinnenden literarischen Trick ein und lässt den Leser zusammen mit den ersten und späteren Bewohnern jeweils in das Haus einziehen, um die jeweils als neu erfahrene Wohnsituation und Lage in den einzelnen, sehr verschieden gebauten Wohnungen zu beschreiben und zu charakterisieren, um dann die Taten, die Werke und Betätigungen der eingezogenen Leute zu schildern. Unter ihnen gab es viele Theaterleute, Kritiker, Künstler und hohe Beamte, nach 1933 auch hochrangige Verbrecher des Nazireiches. Uns interessieren hier die Musiker. Unter ihnen der Dirigent und Komponist Leo Blech, dessen Leben und das seiner Familie in diesem Haus eine zentrale Gestalt und ein zentraler Gegenstand der Recherche und Beschreibung sind.
Natürlich geht es bei der hier vorgenommenen Darstellung nicht vorrangig um die von Blech dirigierte und komponierte Musik, sondern um seine privaten Lebensumstände, die Blech durchaus zu inszenieren und zu dokumentieren wusste, z.B. in zwei für seinen Sohn Wolfgang und seine Tochter Liesel angelegten Alben mit Fotos und Zeitungsausschnitten, die seine künstlerische und öffentliche Laufbahn und die private, häusliche Entwicklung seiner Kinder abbilden und kommentieren. Der Titel eines kaiserlichen Generalmusikdirektors an der Hofoper Unter den Linden, zu dem er 1906 auf Lebenszeit bestellt wurde, führte ihn 1911 in eine behagliche Wohnung im Gartenhaus der Mommsenstraße 6. Dieser Einzug und die folgenden Jahre bis 1938, als er dem Druck der Nazis weichen musste, seine nun nicht mehr lebenslange Stellung einbüßte und sich nach Riga verpflichtete, um von dort aus während des Krieges und nach der Besetzung des Baltikums durch Nazi-Deutschland aus großer Lebensgefahr nach Schweden zu exilieren, verlockten ihn schon oder noch in der Weimarer Zeit zu einer stolzen und etwas eitlen Bemerkung über Wohnen und schöpferisches Leben. Er meinte, dass nicht nur „die Gestaltung der Wohnung die Schaffenskraft beeinflusst, sondern dass vorher die Schaffenskraft sich die Wohnung gestaltet“ und resümierte: „ohne entsprechende Umgebung keine ungehinderte Schaffenskraft“. (S. 32) Blech musste selbst im weiteren Verlauf seines Lebens erfahren – betrachtet man seine Wohnung in Riga oder seine Westberliner Domizile in der Nachkriegszeit, als er zurückgekehrt und Generalmusikdirektor an der Städtischen Oper in der Kantstraße geworden war ‑, dass der Künstler auch in Wohnungen, die seiner Schaffenskraft nicht entsprechen mögen, weiter schöpferisch tätig sein kann und muss. Betrachtet man darüber hinaus die Lebens- und Wohnverhältnisse anderer Künstler, die nicht minder schöpferisch waren, und oftmals gezwungenermaßen oder freiwillig bescheiden und ärmlich lebten, so kann man Blech in seinem Loblied auf das Gutsituiertsein als Vorbedingung großer künstlerischer Leistungen nicht vorbehaltlos folgen. Man lese Stefan Zweigs wohlwollenden Bericht über die selbstgewählt einfachen Wohnverhältnisse der französischen Intellektuellen in Paris, auch noch vor dem Zweiten Weltkrieg.
Interessant in Bezug auf Blech und seine Familie (Ehe mit der Sängerin Martha Blech) sind einige Blicke auf seine Kinder Wolfgang und Liesel Blech, die ja auch – Wolfgang sogar in einer eigenen kleinen Wohnung im Gartenhaus – in der Mommsenstr. 6 wohnten: Wolfgangs Laufbahn als musikalischer Tontechniker und elektronischer Musikvertreiber, wie als Nachtschwärmer in Berliner Edellokalen, Liesels Karriere als Sängerin, beider Freundschaft mit den Dirigenten Leo Borchard und Herbert Sandberg. Gesellig ging es bei Blechs immer zu, auch hier ist die Dreiecksfreundschaft von Leo Blech mit dem Musikkritiker und ungläubigen Oper-Bewunderer Oscar Bie sowie dem um die Ecke wohnenden Komponisten Emil Nikolaus Freiherr von Reznicek eine typische Weimarer Konstellation.
Man könnte die Geschichte dieses bürgerlichen Hauses wahrscheinlich auch aus der Dienstmädchen-Perspektive erzählen (punktuell und marginal wird es hier sogar getan) und käme dann vielleicht noch auf ganz andere Seiten der Verhältnisse und Geschehnisse zu sprechen. Auch wäre es nicht schlecht, wenn einmal andere Historiker sich mit anderen Berliner Milieus und deren Häusern und Wohnungen beschäftigten. Wo und wie wohnten denn die Bildungsproletarier, die einfachen Leute, die um ihre Bildung kämpfen mussten, denen sie nicht in den Schoß fiel, die nicht den Weg in die beaux quartiers, die Viertel der Reichen und eine imperiale Lebensweise fanden und trotzdem die Schönheiten des Lebens und der Kunst suchten. Es gibt bereits Schilderungen der Vorstädte oder der Berliner Mietskasernen, in deren Hinterhöfen neben den Mülltonnen doch die Geranien blühen und die Sonnenuntergänge ihren milden Schatten werfen ‑ worauf Walter Benjamin, ein Abkömmling der Grunewald-Villen, dessen Wohnverhältnisse immer ärmlicher wurden, noch bestand, als er 1930 Werner Hegemanns Buch Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt besprach.
Albert Gessners „Mommsenschlösschen“, mit seiner verwinkelten inneren Architektur, seiner idyllischen naturnahen Bebauung, so wie es Baumann und Saam mit all seinen kontrast- und spannungsreichen historischen Verwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diesem reich bebilderten, chronologisch erzählten Bericht vorgestellt haben, steht für etwas anderes: für das Gefährdetsein und die Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, denn das Beklemmendste an diesen Schilderungen ist der schleichende Übergang, das langsame aber zähe Einsickern antihumaner Gesinnungen mitten hinein in eine scheinbar gesicherte kunst- und kulturaffine, gewaltfreie Existenz.
Peter Sühring
Bornheim, 24.08.2024