Musizieren für das Radio. 100 Jahre Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin / Hrsg. von Steffen Georgi, Sebastian Klotz [u.a.] – Würzburg: Königshausen & Neumann, 2023. – 220 S.: s/w-Fotos, Abb.
ISBN 978-3-8260-7920-7 : € 24,80 (brosch.)
Der erste Blick auf das Buch irritiert. Der zweite Blick verrät, warum: In der oberen Bildhälfte ist ein Orchester auf dem Podium der Berliner Philharmonie zu sehen, und an Stelle des Publikums, im Parkett, erkennt man dasselbe Orchester ein weiteres Mal, horizontal gespiegelt und stark abgedunkelt. Auch wenn sich der Sinn dieser Fotomontage nicht so recht erschließen mag: Die Rückseite des Buches ziert – nun eindeutig erkennbar – ein Foto der ersten Musikübertragung aus dem Vox-Haus im Oktober 1923. Dieses Datum, um genau zu sein, der 29. Oktober, ist Ausgangspunkt für die Konzeption des Buches – und Anlass für die Doppelthematik des Buches. Denn der Titel verweist auf zweierlei: Auf das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), dessen 100. Geburtstag hier gewürdigt wird, und auf das Musizieren im bzw. für das Radio.
Die Geschichte der Übertragung von Musik auf elektrischem Weg beginnt schon viel früher, mit dem Teatrophon: Über zwei Telefonleitungen übertrug die Société générale des téléphones ab 1881 Aufführungen aus der Pariser Oper – und dies bereits stereophon! 1909 gelang es dem amerikanischen Erfinder Lee de Forest, Carusos Stimme aus der Metropolitan Opera in seine Wohnung drahtlos zu übertragen; die erste kommerzielle Rundfunkgesellschaft in den USA wurde elf Jahre später gegründet, die BBC folgte 1922. In Deutschland wurde ab 1915, zunächst im Auftrag des Militärs, die erste Sendestelle in Königs Wusterhausen aufgebaut, zivile Nutzung stand nicht im Vordergrund. Die ersten kommerziellen Empfangsgeräte in den frühen Jahren des Radios waren teuer und die Jahresgebühr hoch, doch schon in den späten Jahren der Weimarer Republik entwickelte sich das Radio in Deutschland zu einem Massenmedium. Die erste Sendung aus dem Vox-Haus in der Potsdamer Straße in Berlin an jenem 29. Oktober, gleichzeitig der Start der Funk-Stunde AG Berlin, des ersten Rundfunksenders in Deutschland, brachte hauptsächlich Musik, und auch weiterhin spielte die Musik eine zwar immer wieder wechselnde, aber doch stets wichtige Rolle in den Programmen. Für die Musikübertragungen wurden anfangs jeweils spontan Musiker verpflichtet – damals nannte man solche Ensembles „Telefon-Orchester“ –, weil die Besetzung für jede Aufführung zusammentelefoniert werden musste. Erst im April 1925 wurde ein Klangkörper mit dem Namen „Berliner Funk-Kapelle“ vertraglich eingerichtet, aus dem später das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hervorging. Der runde Geburtstag des RSB steht somit auf etwas wackligen Beinen.
Mit Blick auf das Jubiläum wurde ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, dessen Team auf Initiative des RSB sich aus Lehrenden und Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin und der Hochschule für Musik und Theater Rostock zusammensetzte. Für die Präsentation der Forschungsergebnisse im Buch bildete sich ein Herausgebergremium aus dem Dramaturgen, Steffen Georgi, und der damaligen Orchesterdirektorin des RSB, Clara Marrero sowie drei Lehrstuhlinhabern der beiden Hochschulen (Sebastian Klotz, Arne Stollberg und Friederike Wißmann). Koordinatorin des Forschungsprojekts war Maria Rinnerthaler von der HMT Rostock. Die (inklusive des Vorworts) elf Beiträge stammen von Studierenden und Lehrenden beider Hochschulen. Hilfreich wären, mindestens im Falle der Studierenden, Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren gewesen, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Lehrstuhlinhaber sind auf den Webseiten der Institute auffindbar.
Zwei große Themenkomplexe stehen im Mittelpunkt des Buches, abgerundet durch einen Beitrag zur Diversität im Orchester und ein Interview mit dem derzeitigen Chefdirigenten, Vladimir Jurowski, der sich zu Repertoirefragen, insbesondere Neuer Musik, äußert und die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen der Institution Rundfunk und dem Orchester in den Raum stellt. Die ersten vier Beiträge (nach dem Vorwort) widmen sich dem Medium Radio und radiophoner Musik, weitere vier Beiträge stellen musikalische Themen und damit das Orchester in den Mittelpunkt. Die Themenauswahl hätte man sich auch anders vorstellen können, die Rolle des Rundfunks als Impuls- und Auftraggeber kommt – abgesehen von der Frühzeit – kaum zur Sprache, auch der Stellenwert von Neuer Musik oder von Musikfestivals wurde eher randständig behandelt. Dies mag mit der Konzeption als wissenschaftlicher Arbeit zu tun haben, welche teils eng umkreiste Themen und Einzelaspekte aufgreift – ein Grund dies auch, weshalb die Gründungsjahre einen unverhältnismäßig breiten Platz einnehmen. Eine mehr als Festschrift angelegte, vom Orchester herausgegebene Publikation („75 Jahre Rundfunk-Sinfonieorchester“), die die Stationen der Orchestergeschichte dokumentierte, war 1998 erschienen, sie wird im vorliegenden Buch nur einmal kurz erwähnt.
Die Beiträge des Sammelbandes sind allesamt gut recherchiert, flüssig und gut lesbar formuliert. Der einleitende Beitrag von Friedrike Wißmann, Professorin an der HMT Rostock, diskutiert die konträren Schubkräfte, denen das Medium in den frühen Jahren ausgesetzt war: Technische Innovation und Traditionsverbundenheit arbeiten noch, wie in den bekannten Bildern der um das Radio versammelten Familie, Hand in Hand, weitaus komplexer indes ist das Spannungsfeld von musikalischer Innovation und gesellschaftlichem Aufbruch, wie die Autorin anhand dreier für das Medium Radio entstandener Werke von Max Butting, Kurt Weill (in Zusammenarbeit mit Bertolt Brecht) und Hanns Eisler aufzeigt. Der Kritik Brechts, ein fortschrittliches Medium für unterhaltende Zwecke einzusetzen, setzt Weill die Forderung entgegen, traditionelles Repertoire neben das Neue zu platzieren, Eisler wiederum bringt die soziale Komponente ins Spiel, er fordert Musik für ein breites Publikum.
Die zwei folgenden, sehr instruktiven Beiträge (beide versehen mit nützlichen Anhängen) von Tim Martin Hofmann und Katharina Sophie Diestel greifen das Brecht-Weillsche Lehrstück Der Lindberghflug noch einmal auf. Aspekte der Opernübertragung und der Einrichtung von Funkfassungen stehen hier im Fokus: Schon bald nach Beginn der Sendetätigkeit, im Oktober 1924, wurden die ersten Übertragungen von Opern aus der Staatsoper realisiert und etwa zur selben Zeit fand die erste Ausstrahlung eines für den Funk eingerichteten Opern-Sendespiels von der Sendespielbühne im Vox-Haus statt. Dramaturg und Aufnahmeleiter in einer Person war Cornelis Bronsgeest, eigentlich Bariton an der Staatsoper, der bis 1933 ganze 373 Rundfunkproduktionen betreute. Die fehlende Bildebene (bei der Rundfunkübertragung) musste auf unterschiedliche Weise kompensiert werden, etwa durch eigens eingerichtete Texthefte aber auch durch genuin radiophone Mittel. Gegen Ende der 1920er Jahre war die erste Blütezeit der Funkoper bereits Geschichte.
Die Anwendung radiophoner Mittel bedingte auch ein radiophones Hören. Das Spannungsfeld zwischen aufkommendem Experimentiergeist in den Anfangstagen des Rundfunks und kommerziellen Anforderungen ist Thema des spannenden Beitrages von Sebastian Klotz. Im Zentrum stehen hier die ersten Musikübertragungen im deutschen Rundfunk und wie das radiophone Hören auf unterschiedlichen Ebenen – im Gegensatz zum traditionellen Hören im Konzertsaal – neu kontextualisiert wurde. Dass die Übertragung von Musik im Rundfunk keineswegs der Hauptzweck des Mediums war – schließlich stand ja die militärische Nutzung seit den Tagen des 1. Weltkrieges im Vordergrund – ist einer von mehreren überraschenden Erkenntnissen, die der Beitrag vermittelt.
Der zweite Themenblock führt von den Anfangstagen des Rundfunks in die Gegenwart und rückt den Klangkörper, das Orchester, mit ausgewählten Interpretationen ins Blickfeld. Die Gefahr einer gewissen Willkürlichkeit ist in der Auswahl zweier Repräsentationsmusiken nicht gänzlich von der Hand zu weisen; repräsentativ für das Repertoire des Orchesters sind Wagners Meistersinger und Beethovens neunte Symphonie indes nur bedingt, die Sicht auf die Orchestergeschichte wird damit auf Schlaglichter reduziert. Doch im Detail sind die Aufsätze von Arne Stollberg und Marie Luise Voß sehr ergiebig; die Höranalysen des Meistersinger-Vorspiels interpretieren die sechs ausgewählten Einspielungen zwischen 1929 und 2011 vor dem Hintergrund der jeweiligen politischen Implikationen, Bewertungskriterien bezieht der Autor aus der Audioanalyse von Temporelationen. Marie Luise Voß berücksichtigt in ihrem Beitrag zu Beethovens neunter Symphonie die Rezeptionsgeschichte markanter Aufführungen mit und beleuchtet auf diese Weise die Stellung der Musik im Spannungsfeld ideologischer Vereinnahmung. Jonathan Jäger widmet seinen Beitrag dem – von Kennern sehr geschätzten – Dirigenten Hermann Abendroth, der zwischen 1953 bis zu seinem Tod 1956 das RSB als Chefdirigent leitete. Seine schwer zu fassende Persönlichkeit und in vielem ambivalente Haltung – bezüglich der Karrierestationen aber auch in seinem Umgang mit zeitgenössischer Musik –, werden vom Autor eindrücklich dargestellt (auch wenn im Beitrag einige Flüchtigkeiten hinsichtlich der Aufarbeitung der Rundfunkbestände stehen geblieben sind). Rezeptionsgeschichte ist schließlich auch Thema des Beitrags von Maria Rinnerthaler, die die schwierige Rolle des RSB als Aushängeschild der DDR – zwischen marxistisch-leninistischem Erbeverständnis und der Herausbildung einer nationalen Identität – anhand von Pressekritiken beleuchtet.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 22.07.2024