Noemi Deitz: Helen Buchholtz. Komponieren zwischen zwei Welten.– Köln: Böhlau, 2024. – 425 S.: Farb- u. s/w-Fotos, Notenbsp. (Europäische Komponistinnen)
ISBN 9788-3-412-52964-2 : € 49,00 (geb.;auch als eBook)
Die Musikwissenschaftlerin Noemie Deitz (*1991) promovierte 2021 über die Komponistin Helen Buchholtz (1877–1953). Das Leben und Wirken der Komponistin ist jedoch dermaßen beeindruckend, dass die Autorin ihre Forschungsergebnisse und Erkenntnisse zur Person zusätzlich drei Jahre später in eine Monografie verwandelt. Nachdem bereits einige Veröffentlichungen zu luxemburger Komponistinnen, insbesondere Helen Buchholtz und Lou Koster aus der Feder von Danielle Roster zur Verfügung stehen, liegt es nahe, dass Deitz sich diese zu Nutze macht und in etlichen Querverweisen, Vergleichen und Abgrenzungen zu den bestehenden Werken die Charakteristika ihrer Protagonistin herausschält. Helen Buchholtz ist geborene Luxemburgerin und wuchs als eins von fünf Kindern eines Unternehmers in Esch an der Alzette auf. Es ist anzunehmen, dass sie eine, für die damaligen Verhältnisse, gewöhnliche Allgemeinbildung genoss und in ihrer Familie auch Wert auf musikalische Bildung gelegt wurde, sodass sie zumindest in Klavier und Tonsatz unterrichtet wurde. Sie heiratete ihren Mann, den deutschen Arzt Bernhard Geiger (1854–1921) nachdem sie bereits durch den Tod ihres Vaters finanziell abgesichert war und zog nach Wiesbaden. Verwitwet zog sie schließlich nach Luxemburg Stadt, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachte.
Das Buch liest sich ein wenig wie ein Krimi, der den Lebenslauf und die Lebensumstände der Komponistin in spannender, jedoch sehr verständlicher Art vermittelt. Die Autorin präsentiert Kernereignisse aus Buchholtz‘ Leben, wie sie teilweise in Zeitschriften dokumentiert sind und stellt dann die entsprechenden, herausfordernden Fragen. Zum Beispiel führte Buchholtz ein Werkverzeichnis über ihre Kompositionen und bewahrte sie sorgfältig in Reinschrift auf, dennoch wurde kaum etwas davon publiziert. Welche Gründe kann es dafür gegeben haben? – Hier beginnen die Detektivarbeit und die Mutmaßungen entlang des lückenhaften Quellenmaterials.
Das facettenreiche Leben der Musikerin wird immer wieder im Kontext ihrer Zeit und Umgebung dargestellt. Somit bildet Noemie Deitz gleichzeitig die kulturhistorische Landschaft Luxemburgs im frühen 20. Jahrhundert ab. Vor diesem Hintergrund kristallisieren sich allmählich eine ganze Reihe an Alleinstellungsmerkmalen der Komponistin heraus, die bereits Grund genug wären ihr Leben in einer Monografie festzuhalten. Die Autorin besteht jedoch darauf Helen Buchholtz in erster Linie als Beispiel für die musikalischen Erträge eines bestimmten temporären oder lokalen Rahmens zu etablieren. Die Untersuchung ihrer Werke und das kommentierte Werkverzeichnis sind nicht als endgültiges Projekt gedacht, sondern sollen als Bezugspunkt für weitere Studien rund um die Werke anderer Komponisten und Komponistinnen oder spezielle Themen der Musik- und Kulturgeschichte Luxemburgs im 20. Jahrhunderts dienen.
Buchholtz‘ Leben wird besonders im Hinblick auf ihre Stellung als Frau in der damaligen Gesellschaft und auf die Umstände ihrer musikalischen Ausbildung betrachtet und wie sie später von Gleichgesinnten behandelt und in ihrem Schaffen kritisiert wurde. Die Fragen zum geschlechterspezifischen Umgang bleiben meist offen: Wäre ihr Werk anders rezipiert worden, wenn sie ein Mann gewesen wäre? Ein weiteres prominentes Thema ist der pro-luxemburgische Patriotismus rund um die Kriegsjahre. Inwiefern spiegelt sich Buchholtz‘ politische Haltung in ihren eigenen Kompositionen?
Auf den ersten Blick scheinen sich in der Komponistin viele Widersprüche zu vereinen. Sie lebte in Deutschland, vertonte aber luxemburgische, patriotische Gedichte. Sie war eine finanziell unabhängige Frau und damit außergewöhnlich im 20. Jahrhundert. Sie komponierte im Geist der Zeit und auch fernab davon. Lernt man sie jedoch besser kennen, machen genau diese Eigenschaften ihren besonderen Charakter aus.
Ob das Vorhaben der Autorin, Helen Buchholtz als Puzzleteil eines Diskurses zu behandeln, aufgeht, wird sich wohl erst zeigen, wenn die Forschung um das kulturelle Schaffen in Luxemburg weiter fortgeschritten ist. Diese Monografie bietet jedenfalls einen guten Nährboden für weitere Studien rund um die angesprochenen Themenfelder und ermöglicht weitere Verknüpfungen. Fest steht jedoch, dass die beschriebene Komponistin eine durchaus beeindruckende, wenn nicht sogar inspirierende Person war und ein Blick in ihre Biografie durchaus lohnenswert ist. Entsprechend ihrer Komplexität wird sie auch in diesem Buch sehr nahbar und doch mysteriös dargestellt.
Dominique Wagener
Köln, 30.05.2024