Petr I. Čajkovskij und Nadežda F. fon Mekk. Briefwechsel Bd. 2: Briefe 1879–1881 [Kadja Grönke]

Petr I. Čajkovskij und Nadežda F. fon Mekk. Briefwechsel 1876–1890 in drei Bänden. Bd. 2: Briefe 1879–1881. Aus dem Russischen von Louisa von Westernhagen, Irmgard Wille, Elena Poldiaeva und Lev Vinocour, rev. von Thomas Kohlhase, Elena Poldiaeva und Lev Vinocour, hrsg. von Thomas Kohlhase. – Mainz u. a.: Schott, 2021. – 838 S.: Notenbeisp.
ISBN 978-3-7957-1883-1: € 98,00 (Leinen). –  Subskriptionsrabatt von 15% bei Bezug aller drei Bände

Nachdem inzwischen eine Handvoll Rezensionen zu Band I des ersten vollständig ins Deutsche übersetzten Briefwechsels zwischen Peter Tschaikowsky (1840–1893) und seiner Mäzenin Nadezhda von Meck (1831–1894) erschienen ist (u.a. auch auf info netz musik), liegt nun pünktlich im Editionsplan der zweite Band vor. Erneut dem Format der bei Schott erscheinenden, von der Tschaikowsky-Gesellschaft e. V. herausgegebenen Reihe der Čajkovskij-Studien angepasst, aber, wie sein Briefwechsel-Vorgänger auch, in edlem weinrotem Ganzleinen und Hardcover gebunden, ähneln die beiden Bände einander wie Zwillinge: äußerlich und konzeptuell zum Verwechseln ähnlich, innerlich aber zwei durchaus selbständige Charaktere.
Wieder bietet der Anhang ein umfangreiches, den Inhalt und die Briefthemen optimal erschließendes Stichwortverzeichnis, das – wunderbarer Service! – nicht nur den zweiten, sondern auch noch einmal den ersten Band mit erfasst, sowie ein ebenfalls beide Bände erschließendes Werk- und Namensregister. Warum auf S. 766f. ein Informationstext zum Abbruch der Korrespondenz präsentiert wird, der eigentlich erst für den Schlussband des Briefwechsels sinnvoll erscheint, leuchtet ebensowenig ein wie in Bd. I, wo derselbe Text unter anderer Überschrift nachzulesen ist (Bd. I, S. 629f.). Das ausführliche Literaturverzeichnis dagegen erweist sich aufgrund der verwendeten Siglen als hilfreiche Dopplung zu Band I.
Aus Bd. I übernommen sind zudem die Erläuterungen „Zur Edition“ (Bd. II, S. XIV-XVIII, entsprechend Bd. I, S. LVI-LX) einschließlich der erhellenden Anmerkungen zu Währungen, Maßen, Temperaturen und postalischen Fachbegriffen; lediglich der Hinweis, dass das Buch den Rechtschreibregeln vor der Reform von 1996 folgt, entfällt (gilt aber gleichwohl auch für Bd. II).
Die umfangreichen Informationen zu den Protagonisten und ihrem Briefwechsel und zu älteren Briefeditionen aus Band I werden im II. Band nicht wiederholt – ebensowenig wie das Register der Orte, an denen Tschaikowsky komponiert hat, und die Synopse der unterschiedlichen Werkverzeichnis-Nummern seiner Kompositionen.
Wie im I. Band sind die aus den Briefen neugesetzten Noten leider separat in den Anhang verbannt, und auch die inhaltlich strukturierende Verwendung unterschiedlicher Schriftgrößen und Drucktypen aus Bd. I wird im Folgeband weiterverwendet – mit dem Bonus der optische Lesehilfe und dem Malus des unruhigen Schriftbilds. Doch wird auf diese Weise visuell optimal verdeutlicht, was Brieftext ist, was Herausgeberkommentar und was aus Briefen an Dritte erläuternd eingefügt ist. In Verbindung mit den zahllosen Fußnoten-Kommentaren tut sich erneut ein staunenswertes kulturgeschichtliches Panorama auf, für das man dem Urheber, Thomas Kohlhase (Gründer der Tschaikowsky-Gesellschaft e V. und seinerzeit Professor für Musikwissenschaft an der Universität Tübingen), nicht genug danken kann. Sein sensibles Gespür dafür, wo Kommentare und Ergänzungen nottun, und die trotz aller Komplexität stets klar nachvollziehbare Informationsdichte betten die Kommunikation von Tschaikowsky und seiner Mäzenin in ein facettenreiches Ganzes ein: gelebtes Leben in seiner reichhaltigsten Fülle.
Dass Briefübersetzung und Kommentierung trotz der komplexen, in der Rezension zu Bd. I ausführlich erläuterten Entstehungsgeschichte der Edition zuverlässig und mit viel sprachlichem Feingefühl gemacht sind, tut ein Übriges, um dieses Buch einschränkungslos zu empfehlen. Da es unmöglich ist, den individuellen Sprachduktus der Briefpartner in der Übersetzung beizubehalten, ohne bei der Lektüre eine Menge Vorwissen vorauszusetzen, hat sich der Herausgeber offenbar entschieden, der optimalen Verständlichkeit das Primat einzuräumen und dabei auch ein stilistisch feinpoliertes Ebenmaß zu präferieren: „Ich kann dabei aber nicht umhin, mein Bedauern [darüber] auszudrücken, daß Sie sich nicht für die Wintermonate irgendwo bei Nizza niedergelassen haben!“ schreibt Tschaikowsky am 5./17. Januar 1879 (Brief 284; S. 7) an Frau von Meck. Durch die Herausgeber-Einfügung wird aus der spontanen Korrespondenz ein ausgewogenes Stück Literatur – ganz abgesehen davon, dass zugunsten der deutschen Stilhöhe das vielsagende Komma zwischen „irgendwo“ und „bei Nizza“ entfällt. Damit verschwindet auch der ungesagte Wunsch, die Freundin möge den Winter womöglich etwas mehr in seiner Nähe verbringen, da er sich zu jener Zeit am Genfersee, die Mäzenin dagegen in Wien aufhielt. Doch wie gesagt: Eine Übersetzung, die neben der Verständlichkeit zugleich die persönliche Sprachverwendung und die Unter- und Zwischentöne dieser Korrespondenz ins Deutsche bringen wollte, ist zum Scheitern verurteilt, und die Lösungen, die Thomas Kohlhase und sein Übersetzungs-Team gefunden haben, sind genau bedacht und konsequent gehandhabt.
Noch einige Anmerkungen zum Korpus der edierten, kommentierten und durch ergänzende Materialien plastisch zum Sprechen gebrachten Briefe! Das einleitende Verzeichnis nennt 430 Schreiben, also deutlich mehr als im I. Band, der 281 Briefe enthielt. Ging es im I. Band um die Korrespondenz von nur zwei Jahren (plus zwei Schreiben vom Dezember 1876), umfasst der vorliegende Band die Korrespondenz aus drei ereignisreichen Jahren. Damit ergibt sich ein rein rechnerischer Schnitt von ca. 140 Briefen pro Jahr, doch ist der Höhepunkt mit rund 200 (206 und 196) Schreiben 1878 und 1879 erreicht, während 1880 und 1881 „nur noch“ 126 bzw. 107 und im ersten Jahr sogar lediglich 73 Briefe gewechselt werden. Trotz der knapp 150 Seiten Mehrumfang ist der neue Band aber erstaunlicherweise kaum dicker als sein Vorgänger – oh Wunder verlegerischer Kunstfertigkeit!
Während die Korrespondenz des Jahres 1879 noch unmittelbar von Tschaikowskys Eheschließung und den dadurch ausgelösten Turbulenzen geprägt ist, gelangt der Komponist 1880 zunächst in emotional ruhigeres Fahrwasser, steuert dann aber bereits unaufhaltsam auf die nächste große Lebenskrise zu. Parallel zu seinen vergeblichen Scheidungsversuchen quälen ihn die die Krankheit seiner geliebten Schwester Alexandra und die Eskapaden seiner Nichte Tatjana, deren Verhalten ihm den Aufenthalt bei der Familie mehr und mehr verleidet. Schon am 21. April 1879 (3. Mai, Brief 342; S. 117) berichtet Tschaikowsky „von den Sorgen […], die mir manchmal der Gesundheitszustand meiner Schwester einflößt.“ Detaillierte Beschreibungen der Krankheitszeichen, vor allem aber der Ängste, die diese bei der Familie und dem stets mitfühlenden Komponisten auslösen, weichen dem Bild einer infolge der Behandlung durch Morphine ausgelösten Sucht und Abhängigkeit, die auch seiner Nichte Tatjana und seinem Lieblingsneffen Vladimir das Leben zerstören (vgl. Anm. 624, S. 121). Tschaikowsky nimmt das in seiner innigen Verbindung zu der Familie seiner Schwester nicht nur emotional sehr mit, sondern es quält ihn auch aus anderen Gründen: Die Sorge hindert ihn am konzentrierten Komponieren (und damit am Geldverdienen), und als seine Nichte unverheiratet schwanger wird und sich ihm anvertraut, hilft er ihr auch finanziell mit einer Intensität, die er sich eigentlich nicht leisten kann.
In dieser Phase der kumulierenden Probleme empfindet er den Austausch mit Nadezhda von Meck nicht mehr ausschließlich als Bedürfnis, sondern offenbar gelegentlich auch als zeitraubend. Am 9./21. Juni 1879 berichtet er seinem Bruder Modest von einem acht Seiten langen Brief seiner Mäzenin mit der wiederholten Einladung, wieder einmal in ihrer Nähe zu wohnen: „Nun, wie soll man nicht böse sein auf eine so vortreffliche, kluge Frau, wenn sie sich ungeachtet all meiner Andeutungen hartnäckig weigert zu begreifen, daß ich nicht als der geheimnisvolle Unbekannter fast neben ihr wohnen möchte. Bei ihr sind – wie absichtlich – einige Konservatoriumsschüler, die mich sehr einengen würden, und ihre ganze Familie ist vollzählig versammelt. Wie kann sie nicht begreifen, daß all das unangenehm und schwierig ist“ (S. 156f.).
Dass ihm seine Unlust zugleich ein schlechtes Gewissen gemacht haben dürfte, macht die Sache nicht einfacher – zumal Tschaikowsky durchaus auch Ansprüche an den Briefwechsel stellt. Am 10./22. Februar 1879 beklagt er sich bei seinem Bruder Modest: „In letzter Zeit hat sie ganz aufgehört, mir zu schreiben – unter dem Vorwand, daß sie Kopf- und Augenschmerzen habe, daß sie nicht schreiben könne. […] Ich glaube, daß sie es einfach leid geworden ist, die Korrespondenz zu führen“ (S. 56f.). Auch der hypothetische Interessenverlust seiner Mäzenin zählt zu den Ängsten, die die schwierigen Jahre in diesem Briefband begleiten.
Nadezhda von Meck zeigt sich in ihrer Korrespondenz als eine Frau von vielseitigen Interessen. Fragen der Landwirtschaft vertieft sie ebenso wie Berichte aus ihrem Familienleben. Sie erzählt von ihren Reisen, ihrer Lektüre, ihren Konzertbesuchen. Gesundheit bzw. Krankheit ist auch bei ihr immer wieder Thema, ebenso wie Weltanschauung und Lebensüberzeugungen. Sie schickt Tschaikowsky Rezensionen ins Ausland, teilt seine zwiespältigen Überlegungen in Sachen Ehescheidung, nimmt Anteil am Tod seines Vaters und schmiedet schon 1879 mit dem „lieben, unvergleichlichen Freund“ (S. 3 et passim) den Plan, dass ihr Sohn Nikolai in einer noch fernen Zukunft eine der Töchter seiner Schwester heiraten möge (was 1884 tatsächlich geschieht). Ein schwärmerischer Tonfall paart sich mit einer klaren, fast nüchternen, rationalen Weltsicht, wohlbegründeten ästhetischen Urteilen und immer wieder mit Fragen und Anregungen, die den Briefwechsel voranbringen und von Tschaikowsky zumeist sorgfältig beantwortet werden.
Man mag angesichts der Masse der Briefe und der Vielzahl der Themen vielleicht fragen, ob es tatsächlich notwendig sei, den Briefwechsel komplett zu lesen. Da aber jede Auswahl immer auch die Wahrnehmung beeinflusst, lenkt und fokussiert, ist es in jedem Fall ein Gewinn, dass diese Korrespondenz jetzt endlich in ganzer Fülle in einer zuverlässigen Ausgabe vorliegt. Auf der Basis dieser Edition kann das Tschaikowsky-Bild einen Zugewinn an Sachbezogenheit, an Kontextualisierung und – ja, auch an Sympathie gewinnen. Denn letztlich ist es doch recht tröstlich, dass der Künstler Tschaikowsky an den Widrigkeiten seines Lebens nicht gescheitert, sondern gewachsen ist. Der aufstrebende Komponist, dessen musikalische Sprache mit der Nadezhda von Meck gewidmeten Vierten Sinfonie und der parallel zu seinen Eheplänen entstandenen Oper Eugen Onegin (also den Hauptwerken in der Zeit des I. Briefbandes) voll ausreift, sucht und findet nun in den Partituren der Jahre 1879 bis 1881 eine gewachsene Sicherheit des künstlerischen Ausdrucks und neue Inhalte: Die Oper Die Jungfrau von Orléans, die Zweite Sinfonie, das Zweite Klavierkonzert, die Ouvertüre 1812, das Capriccio Italien, die Serenade für Streichorchester und das Anfang 1882 vollendete Klaviertrio sind Werke des rastlos Reisenden, der trotz seiner lebensprägenden Sorgen, Irrungen und Wirrungen in sich die Kraft sieht, als Komponist und Künstler der Welt etwas zu sagen zu haben. Und diese Botschaft wäre ohne die finanzielle Unterstützung und vor allem ohne das nicht nachlassende Interesse seiner Mäzenin sicher anders ausgefallen. Insofern schafft die Lektüre des Briefbandes – auch – ein hohes Maß an Dankbarkeit und Respekt gegenüber den beiden Korrespondenzpartnern.

Kadja Grönke
22.11.2021

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