Hans-Klaus Jungheinrich: Eine kurze Geschichte der Oper. In 35 Bildern / Mit einem Nachwort von Wolfgang Molkow. 2., erw. Ausg. – Hofheim am Taunus: wolke, 2021. – 292 S.
ISBN 978-3-95593-254-1: € 26,00 (brosch.)
Einen schmerzlichen Verlust an der Spitze der deutschen Musikkritik und –essayistik bedeutete 2018 der plötzliche Tod des legendären Hans-Klaus Jungheinrich, Jahrgang 1938. Von 1968 bis 2003 brillierte der zuvor in Dirigieren und Komposition ausgebildete Musikenthusiast im Feuilleton der Frankfurter Rundschau mit an Sachkunde und Sprachkunst unvergleichlichen Rezensionen quer durch die deutsche Opern- und Klassiklandschaft, veröffentlichte bis zuletzt als freier Autor Bücher und Essaybände, mit deren Brisanz (Unser Musikjahrhundert), Kreativität (Der Musikroman. Ein anderer Blick auf die Symphonie) und Aktualität (Monographien u.a. zu Hans Werner Henze, Helmut Lachenmann oder Rolf Riehm) er sich an vorderster Front der zeitgenössischen deutschen Musikschriftsteller etablierte.
Posthum gelingt ihm mithin das methodisch kaum Realisierbare: ein stimmiges Panorama der faktisch ungreifbaren Kunstform Oper, hervorgegangen aus einem kommerziell erfolgsschwachen Konvolut namens Hohes C und tiefe Liebe. 33 Versuche (k)einen Opernführer zu schreiben anno 2010, das er heranzog zur Umarbeitung in einen 49 Betrachtungen starken „Doch-Opernführer“ spezieller Natur, der in vorliegender Form letztlich unvollendet blieb. Nichts Einschlägiges zur Neuausgabe fand sich, so Peter Mischung editorisch, im Nachlass, dafür jedoch zwei Texte, dank derer der zeitliche Bogen einen mächtigen Stützpfeiler auf Seiten der Moderne erhielt.
Die im Titel annoncierte Kürze birgt in Wahrheit etwas Vertieftes, hoch Anspruchsvolles, intellektuell Forderndes. Klar: Der weltweite Opernbestand ist selbst in mehrbändigen Enzyklopädien nicht komprimierbar. Dass im Umkehrschluss eine integrative „kurze Geschichte der Oper“ nicht auf der Strecke bleibt und sich „auch das bewusst Fragmentarische eines geheimen enzyklopädischen Zuges nicht erwehren“ (S. 18) kann, markiert den besonderen Reiz: Querbezüge, Vergleiche, Rück- und Ausblicke, Spekulatives und Aktuelles rund um Genese, Struktur und Rezeption eines Opernexempels erschließen das Phänomen Oper quer durch die Jahrhunderte – Mut zur Lücke mit Steilvorlage für den imaginativen Blick aufs große Ganze.
Die Waage halten sich populäre Stücke und weniger geläufige, vor 1900 und danach komponierte, schließlich deutsch- und anderssprachige. Befürchtungen einer durchgehenden lexikalischen Textschablone entkräftet der konsequente Vergleich, da Jungheinrich souverän Schematismen umgeht. Prinzipiell herausdestillieren lässt sich eher eine variierbare Konstellation aus allgemeingültigen Grundaspekten (literarische Vorlagen, Entstehung, Handlung, musikalische Strukturmerkmale und Stilistik, Rezeption, politische Kontexte) und individuellen schriftstellerischen Kunstgriffen wie anekdotischen Einstiegen, spezifischen Text- oder Musik-Details, gattungsgeschichtlichen Exkursen, thematischen Vergleichen aus Musik, Literatur, Philosophie, auch sachbezogenen persönlichen Erlebnissen und ironischen Brechungen. Dies alles präsentiert mit einer rhetorischen Allgewalt, die nicht nur stoffliche Fülle und inhaltliche Prägnanz zu wohlproportionierten Einheiten zwingt, sondern homogen auch immense Arsenale von geisteswissenschaftlicher Terminologie und gehobener Essayistik zu einer individuellen Diktion verquickt.
Monteverdi und der Reformator Gluck machen den Anfang. Vielsagend etwa rangiert Mozarts Zauberflöte als „ein etwas komplexeres (und dabei dramaturgisch gehörig verwackeltes) Kasperletheater für Kinder und kindliche Erwachsene, gesättigt mit ‚Volksvermögen‘ (im Sinne vom Peter Rühmkorf), und (…) in einer langen Reihe volkstümlicher Attraktionen stehend, also Erbe und Pate von signifikanten Wiener und sogar Weimarer Sujets (…).“ (S. 35). Nach Beethovens Fidelio folgen Wagner mit den Meistersingern und Verdi mit Rigoletto nur scheinbar in vereinzelnder Unterrepräsentation. Gerade der Bayreuther ist für Jungheinrich leitgedanklich präsent als überzeitlicher Maßstabsetzer (auch rückwirkend etwa in Relation zur Erlebniszeit in Händel-Opern) und Impulsgeber wie für die mit je einem Opus gewürdigten Peter Cornelius (Der Barbier von Bagdad) und Hugo Wolf (Der Corregidor), die sich durch komödiantische Sujets oder – wie Engelbert Humperdinck mit kunstschöner Unglücksverklärung in den Königskindern – Märchenstoffe von Wagners Mythologien absetzten. Nicht weniger dezidiert im Kontrast zu Wagner erhellt Jungheinrich die Spezifik von Modest Mussorgskis epischem Volksdrama Boris Godunow, dessen Historienrealismus oder klangliche Idiomatik er frappierend bei so divergierenden Unikaten wie Gershwins Porgy and Bess oder Messiaens Saint François d’Assise als Referenzgröße heranzieht.
Unter den Gewürdigten seien in Auswahl genannt: zweimal Puccini, dreimal Richard Strauss (Wolfgang Molkow honoriert im Nachwort das beim Avantgarde-Verfechter Jungheinrich überraschende Plädoyer), je einmal Offenbach, Bizet, Tschaikowsky, Janáček über Pfitzner, Schoeck, Schönberg, Berg bis Reich und Riehm, nicht zuletzt Henze (diesmal im Überblick). Mit leichterer Feder serviert Jungheinrich in hier nachgedruckten Erinnerungen von 2013 seine Frankfurter Opernerinnerungen. In den Kapiteln war ein weiteres Phänomen zum Leitbegriff geronnen: der Fortschritt im Materialästhetischen. Hier gipfelnd in Helmut Lachenmanns alles Konventionelle überwindendem Mädchen mit den Schwefelhölzern, beflügelt er Jungheinrichs optimistischen Ausblick: „Solange es Theater gibt, die Werke wie diese sich und ihrem Publikum zum Prüfstein machen, ist die Opernkultur noch am Leben.“ (S. 250) Und dies trotz mancher Bedenken, die das weithin bürgerliche Traditionskulturgut für „gerne funktionalisiert als probates Repräsentations-Medium” (S. 13) befinden, zwecks Entmusealisierung gleichwohl gut aufgehoben wissen beim Regietheater.
Andreas Vollberg
Köln, 17.11.2021