Hokuspokus Hexenschuss. Engelbert Humperdinck nach 100 Jahren. Begleitpublikation anlässlich der gleichnamigen Ausstellung 2021 / Hrsg. von Gundula Caspary (Stadtmuseum Siegburg) und Christian Ubber (Musikwerkstatt Engelbert Humperdinck Siegburg) – Lohmar: ratio-books. 2021– 192 S.: Notenbsp., Abb.
ISBN 978-3-96136-103-8 : € 19,80 (kart.)
Nach der Biographie soll nun das Begleitbuch zur Humperdinck-Ausstellung vorgestellt werden. Sie wurde zwar nur in Humperdincks Geburtsstadt Siegburg gezeigt und von zwei Institutionen dieser Stadt (dem von Gundula Caspary geleiteten Stadtmuseum und der von Christian Ubber geleiteten Musikwerkstatt, die Humperdincks Namen trägt) vorbereitet und gestaltet, erhielt aber durch die Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Bonn, dem SiegfriedMuseum Xanten, dem Museum und Forum Schloss Homberg, der Hochschule für Musik und Tanz Köln ‑ also Institutionen aus Städten, in denen Humperdinck längere Zeit lebte und wirkte ‑ einen weder nur lokalen noch alle Lebensorte abbildenden, sondern einen regional rheinischen Charakter. Darüber hinaus erhält dieser Band durch Zusammenarbeit mit der Klaviermanufaktur Steingraeber in Bayreuth, bei der sich Humperdinck selbst schon seine Instrumente besorgte, einen historisch erweiterten überregionalen Bezug. Wo sonst als von Bayreuth aus nahm auch Humperdincks lebenslange Freundschaft mit Richard und Cosima Wagners Sohn Siegfried ihren Ausgang – auch dieser Lebensstation oder Affäre ist ein Beitrag gewidmet.
Innerhalb der Artikel und Essays, die sich unter den Kapitel-Überschriften: „Biografie“, „Lebensstationen“, „Werk“ und „Humperdinck persönlich“ gruppieren, werden hier Exponate aus der Ausstellung sowie weiteres reiches Bildmaterial als Illustrationen, welche die historischen Erzählungen und Interpretationen anschaulich flankieren, wiedergegeben. Nach einem gerafften biografischen Überblick gelingt es Christian Ubber, zunächst Humperdincks gesamtes Leben schlaglichtartig zu beleuchten, wobei es kaum zu vermeiden ist, dass es sich auf eine Zeit vor und eine nach Humperdincks „Durchbruch“ mit der Märchenoper Hänsel und Gretel wie um einen Dreh- und Angelpunkt seines Lebens aufspaltet, denn so war es wohl auch gewesen. Ein Vorteil dieses einführenden und zugleich zusammenfassenden Beitrags ist es aber, jenseits davon die ganze Erlebnisvielfalt dieses Musikers zu umreißen, von seiner gediegenen Ausbildung, über seine weltmännische Reiselust, sein innerdeutsches Wanderleben bis zu seinem späteren Hang zu Idylle, deutscher Gemütlichkeit, auch zu chauvinistischer Überheblichkeit und militaristischen und antisemitischen Entgleisungen sowie zu ruhiger Lehrtätigkeit in Frankfurt und schließlich in Berlin. Abhängigkeit und Loslösung vom Übervater Wagner werden richtig bewertet und das Eigentümliche seiner Musik ausreichend geschildert und betont. Die Namen einiger berühmter Dichter mancher der von Humperdinck als kleinere Vorlagen benutzten Texte hätten genannt sein dürfen, immerhin war es sogar Heinrich Heine im Fall von Die Wallfahrt nach Kevlaar oder Ludwig Uhland bei Das Glück von Edenhall. Die Fülle seiner verschiedenartigen, zahlreiche Genre bedienenden vokal-instrumentalen Kompositionen werden beschrieben und musikhistorisch eingeordnet. Gespannt wird man auf so dunkle, halb mysteriös und symbolistisch anmutende Werke wie die Schauspielmusik zu Das Mirakel von Vollmöller oder die sinfonische Dichtung Die blaue Frau nach Maeterlinck. Hier gäbe es für das Repertoire unseres Konzertlebens und für CD-Produktionen noch viel zu entdecken. Einige anderweitig bekannt gewordene Initiativen des Deutschen Symphonie Orchesters in Berlin lassen aufhorchen und zeigen, dass über das Humperdinck-Jahr hinaus neue Hörerfahrungen zu erwarten sind.
Ubber beschäftigt sich noch mit den überlieferten Resten der kompositorischen Anfänge Humperdincks in Siegburg, Köln und Paderborn und breitet bisher unbekannte oder unbeachtete Details dazu aus. Kurze, aber intime, auch photographische Einblicke in das Musikstudium zur Zeit Humperdincks am Kölner Konservatorium in der Wolfsstraße, als Ferdinand Hiller dort Direktor war, gewährt Heike Sauer. Wie eng mit Humperdincks Hilfe verknüpft die letztlich vergeblichen Versuche Siegfried Wagners waren, seinem Vater als Opernkomponist nachzufolgen und mit welchen ans Peinliche grenzenden familiären Allüren das einherging, schildert, zum Teil unfreiwillig, Peter P. Pachl. Wieder stark in familiäre Details eingreifende Schilderungen bietet Tim Michalak über die Lebensverhältnisse bei und mit der Familie im niederrheinischen Xanten, wohin es Humperdincks Vater beruflich gezogen hatte. Die Leiterin des SiegfriedMuseums im niederrheinischen Xanten, Anke Lyttwin, steuert einen illustren Beitrag über den besonders in Xanten lebendigen und groteske Formen annehmenden Nibelungen-Mythos und Siegfried-Kult zu Humperdincks Zeiten bei, muss aber eingestehen, dass Humperdincks ihn zwar miterlebte und er ihn auch beeindruckt haben dürfte, er aber in Humperdincks Schaffen keinerlei Spuren hinterlassen hat. Er hatte vielmehr seine Grals-Bruderschaft bereits in München hinter sich gebracht und war inzwischen mehr von Märchenstoffen und heiteren weltlichen Sujets fasziniert.
Ubber und Daniela Goebel informieren detailliert und bilderreich über die Bonner Episode Humperdincks mit ausführlicher Betrachtung und Dokumentation von dessen Tätigkeit für das Musikressort der Bonner Zeitung. Hier zeigt sich Humperdinck, wie später auch in Frankfurt, als pointierter Musikjournalist, Korrespondent und Förderer der nächsten Komponistengeneration. Humperdincks Ausflüge ins bergische Land, speziell seine Sommerfrischen im Homburger Land schildern Janna Leferink und Paul Kostial; wie er sein „Schlösschen“ in Boppard erwarb, einrichtete und bewohnte, erfährt man von Tim Michalak. Und als wäre dies alles noch nicht persönlich genug, gibt es noch ein das Buch abschließendes Kapitel „Humperdinck persönlich“, in dem Ubber über den Zechbruder und auch über den Beobachter, Hörer und Kritiker der Musik seiner Zeit mit seinen Vorlieben und Abneigungen, sowie Philipp Haug über die Gefallsucht, aber auch politische Fallsucht und Verführbarkeit zum Chauvinismus eines erfolgreichen, saturiert gewordenen Künstlers berichten. Das vorletzte Kapitel ist mit „Werk“ betitelt, liefert aber zunächst lediglich ein von Philipp Haug zusammengestelltes Panorama einiger Äußerungen von Zeitgenossen zu einzelnen Werken Humperdincks. Darin aber ist auch untergebracht der durch gesammelte neue Dokumenten und Erzählungen möglich gewordene erschütternde Bericht über das Schicksal der jüdischen Schauspielerin und Librettistin von Humperdincks Melodram und Oper Die Königskinder, Else Bernstein, von der Humperdinck wegen des anfänglichen Misserfolgs sich glaubte ziemlich schäbig distanzieren zu müssen indem er dem Stück 1897 einen „hebräischen Grabstein“ wünschte, was von der Autorin Birgit Kiupel beziehungsreich als ein Vorzeichen dafür gesehen wird, wie man in Deutschland anfing, sich bei Kooperationen deutscher Künstler mit Juden zu verhalten und umgekehrt dafür, „welchen Illusionen von Akzeptanz, Respekt und Gleichberechtigung deutsche Menschen jüdischer Herkunft hier aufgesessen (sind)“ (S. 155). Elsa Bernstein wurde nach Theresienstadt deportiert, überlebte in einem der „Prominentenhäuser“, in dem sie interniert war, und starb 83-jährig in Hamburg, nicht ohne einen geretteten Lebensbericht zu hinterlassen. Nachzulesen ist, wie nicht nur Humperdinck, sondern auch später noch weitere involvierte deutsche Zeitgenossen sich höchst unanständig verhielten.
Und so wird Humperdinck hier als ein Mensch in all seinen Widersprüchen und Ambivalenzen gezeigt – ein großer Musiker gewiss und ebenso gewiss kein schlechter Mensch, aber nicht gerade eine Identifikationsfigur – wozu auch? Identifizieren braucht man sich mit nichts und niemandem, wenn es um Musik geht.
Peter Sühring
Bornheim, 15.11.2021