Musik und Homosexualitäten. Tagungsberichte Bremen 2017 und 2018 [Matthias Guschelbauer]

Musik und Homosexualitäten. Tagungsberichte Bremen 2017 und 2018 / Hrsg. von Kadja Grönke und Michael Zywietz, mit einem Vorwort von Kadja Grönke und Michael Zywietz. – Hamburg: Textem, 2021. – 460 S.: s/w-Abb., Notenbsp., Tab.
ISBN 978-3-86485-259-6 : € 29,00 (Broschur)

Der weitgefasste Titel der Publikation – Musik und Homosexualitäten – ist im Hinblick auf die Heterogenität der darin enthaltenen 25 Beiträge äußerst passend gewählt. Immerhin vereint der Tagungsbericht musikwissenschaftliche Aufsätze rund um Biographien, Werke, Rezeption, Beziehungen und Inszenierungen von homosexuellen Personen mit nicht-musikwissenschaftlichen Essays aus den Bereichen Literaturwissenschaft und Romanistik. Um der Fülle an verschiedenen Beiträgen eine Form zu geben, entschieden sich die beiden MusikwissenschaftlerInnen und Herausgeber Kadja Grönke und Michael Zywietz dazu, die Aufsätze drei Bereichen zuzuordnen und das Buch so in drei Teile zu gliedern.
Im ersten Teil mit dem Titel „Musikwissenschaftliche Homosexualitätenforschung“ steht die Methodik und Fachgeschichte im Hinblick auf das Thema Homosexualität im Mittelpunkt. Von den fünf Beiträgen in diesem Teil scheint vor allem der allererste von Eva Rieger erwähnenswert, in dem die Autorin zuerst einen kurzen sozialgeschichtlichen Überblick über die allgemeine Thematik der Homosexualitätenforschung gibt, bevor sie sich einer bunten Auswahl von auf Homosexualität fokussierten Forschungsarbeiten im Bereich der Musikwissenschaft widmet. Hans-Joachim Hinrichsen geht am Ende des ersten Teils der möglicherweise versteckten Homoerotik in Franz Schuberts Musik und der Forschungsgeschichte zur Sexualität des Komponisten nach, die seit einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 Gegenstand von Spekulationen ist. Warum dieser Beitrag nicht bei den Fallbeispielen im zweiten Teil der Publikation zu finden ist, wie man vielleicht annehmen könnte, erklärt sich dadurch, dass Hinrichsen keine eigenen neuen Fakten hinsichtlich der Frage nach Schuberts sexueller Orientierung präsentiert, sondern vor allem dem kulturwissenschaftlichen Verlauf der Schubert-Forschung in Bezug auf dessen mögliche Homosexualität nachgeht.
Im zweiten und umfangreichsten Teil des Tagungsberichts finden sich 14 Fallbeispiele, in denen sich Forscherinnen und Forscher mit einzelnen Individuen der Musikgeschichte auseinandersetzen. Dabei ist der zeitliche Rahmen sehr breit gefasst: Angefangen bei einem Aufsatz von Michael Zywietz, der sich dem wegen Sodomie verurteilten franko-flämischen Komponisten und Kapellmeister Nicolas Gombert aus dem 16. Jahrhundert widmet, und endend bei Beträgen von verschiedenen Autorinnen und Autoren zu Leben und Werk von Hans Werner Henze im 20. Jahrhundert umspannen die Beiträge rund vier Jahrhunderte. Ebenso wie die Schlüsselfiguren sind die Fragestellungen und die Schwerpunktsetzungen der einzelnen Essays äußerst divers: Es finden sich etwa Beiträge zur Homosexualität in Opern von Ethel Smyth, Hans Werner Henze und Leonard Bernstein, überraschenderweise jedoch auch zur Homosexualität in Instrumentalwerken wie etwa der c‑Moll‑Sinfonie von Hugo Staehle und Henzes Klarinettenkonzert Le Miracle de la Rose. Etwas abseits des direkten Musikbezugs und näher am Bereich der Sozialwissenschaften (jedoch keinesfalls fehl am Platz!) sind der Aufsatz zur Wahrnehmung der homosexuellen Musikerin Smaragda Eger-Berg von Anna Ricke, die von Juana Zimmermann verfassten Einblicke in die Beziehung zwischen dem Komponisten Benjamin Britten und dem Sänger Peter Pears und dessen Einfluss auf Brittens Musik und der den zweiten Teil beschließende Essay von Bernd Feuchtner, der sich der angelasteten Homophobie Theodor W. Adornos widmet.
Der sechs Essays umfassende dritte Teil des Buches mit dem Titel „Manierismen“ rückt etwas von der Musik weg hin zu allgemeinen Überlegungen von Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern zum Manierismus, die sich jedoch ohne weiteres auch auf die Musik anwenden lassen. Im Gegenteil, diese Ausweitung der bei den Tagungen gehaltenen Vorträge (die nun verschriftlicht vorliegen) in nicht primär musikwissenschaftliche Gebiete war offensichtlich eine Bereicherung für die Autorinnen und Autoren der anderen Essays, da diese – so schreibt auch Kadja Grönke im Vorwort – den Blick auf das eigene Thema beeinflusste. Vermutlich liegt in dieser wechselseitigen Beeinflussung und der Anspornung, Theorien und Methoden aus anderen Disziplinen für die eigene anzunehmen, auch die durchwegs hohe und reflektierte Qualität der 25 Beiträge dieses Tagungsberichts, der sowohl für Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler als auch für musikinteressierte Laien leicht verständlich und daher zu empfehlen ist.

Matthias Guschelbauer
Wien, 09.11.2021

Dieser Beitrag wurde unter Adorno, Theodor W. (1903-1969), Bernstein, Leonard (1918–1990), Biographie, Britten, Benjamin (1913-1976), Eger-Berg, Smaragda (1886–1954), Gombert, Nicolas (1495–1560), Henze, Hans Werner (1926-2012), Komponist, Komponistin, Pears, Peter (1910–1986), Rezension, Schubert, Franz (1797-1828), Smyth, Ethel (1858-1944), Staehle, Hugo (1826–1848) abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.