Tōru Takemitsu. Globalisiertes Komponieren. Text, Kontext, Deutung [Georg Beck]

Tōru Takemitsu. Globalisiertes Komponieren. Text, Kontext, Deutung / Hrsg. von Markus Bandur / Rainer Schmusch. – München: edition text+kritik, 2024. – 635 S.: s/w-Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-86916-818-0 : € 49,00 (kart.; auch als eBook)

Der Blick auf den Inhalt stimmt erwartungsfroh. Der bedeutendste japanische Komponist des 20. Jahrhunderts in einem Sammel­band, der ihn selber zu Wort kommen lässt, der jedenfalls nicht aufgeht in musik­wissen­schaftlichen Sprechweisen, in diamantenen, über die Kunst geworfenen Begriffsnetzen wie Hegel das einmal fürs Verfahren der Meta­physik beschrieben hat. Stattlichen 600 Seiten haben die Heraus­geber eine Drei-Stufen-Dramaturgie einge­schrieben. Ein eröffnender, von einem takemitsu­affinen Autoren-Ensemble besorgter 200-seitiger analytisch-monographischer Studienteil liefert die notwendige Startenergie: Beiträge zu Toru Takemitsu, wobei hervorzuheben ist, dass ein ansehnlicher Teil der kompositorischen Hinterlassenschaft in diesem Band ausgespart respektive ausgelagert ist in einen Folgeband, der sich Takemitsus Filmkompositionen widmen soll. Eine Entscheidung, die unmittelbar einleuchtet, wenn man sich Takemitsus Kinoleidenschaft vergegenwärtigt, die ihn zu einem jährlichen Konsum von bis zu 250 Filmen animierte, was wiederum auf seine eigene Produktion zurückwirkte, worunter der Kurosawa-Soundtrack zu Ran am bekanntesten geworden ist.

Als zweiter Teil folgt auf gut 100 Seiten ein kommentiertes Werkverzeichnis, an dem Autor Rüdiger Albrecht, wie auch jüngst im Rahmen der Kölner Takemitsu-Buchpräsentation gebührlich hervorgehoben wurde, etliche Jahre gearbeitet hat. Ein Zeitraum für Forschung, für Recherche, der angesichts von 500 musikalischen Werken, die Takemitsu in rund 50 Jahren geschaffen hat, sehr angemessen erscheint. Beste Voraussetzungen für jede konzertierende Wieder- und Neuentdeckung dieses Komponisten.

Der Sammelband finalisiert in einen 300 Seiten-Schlussteil, der eine Auswahl erstmals auf Deutsch zugänglich gemachter Essays bietet: Texte von Toru Takemitsu. Dass gut und gern die Hälfte des Bandes Takemitsus Nachdenken über Musik im weitesten Sinne gewidmet ist, macht das Unterfangen auch zu einem eminent literarischen Lektüre-Erlebnis. Wer nicht schnurstracks zum Takemitsu-Experten promovieren will, beginnt hier, beim Flanieren, beim Aufrufen all dieser großen und kleinen Leuchtpunkte. Das Auge wandert über haikuartig-verrätselte, musikphiloso­phische, dann wieder klar strukturiert-monographisch angelegte Aufsätze, die Takemitsus Kompositionsgegenwart einfangen, seine Weggefährten porträtieren, seine ästhetischen Interessen formulieren. Mehr als 30 Titel, die mit dem Versprechen auftreten, Nähe zu stiften zu einem zeitlebens sensiblen, vielseitig interessierten, oft missverstan­denen Künstler, dessen Nimbus, gerade in Japan, ungebrochen ist wie im Band immer wieder versichert wird.

Die von einem deutsch-japanischen Autorenteam besorgte, mit größtmöglicher Sorgfalt erstellte Edition lässt keinen Zweifel daran, dass wir im Komponisten Takemitsu nicht zuletzt einem Schriftsteller begegnen mit klarem Bezug zur „japanischen Essay-Tradition des zuihitsu, die sich dadurch auszeichnet, aus der Konzentration auf konkrete Gegebenheiten poetische Reflexionen von umfassender Relevanz zu generieren”. Wer der Versuchung nachgibt und hineinspringt, wer sich, in Umgehung der Geschäfts­ordnung, treiben lässt, gleich hier mit der Lektüre beginnt, macht erste Bekanntschaft mit Takemitsus Stil, dieser sehr speziellen Mischung aus Fokussieren auf Einzelnes und einem gleitenden Abschweifen in Dies und Das, was an Proustschen Bewusstseins­strom denken lässt oder, es ist die andere Assoziation, ans festliche Streubild eines im Nachthimmel farbenreich aufgehenden japanischen Feuerwerks­körpers.

Gleich der erste Essay Meine Methode überrascht uns damit, dass das Methodische, die vermeintliche Sicherheit, die aus Folgerichtigkeit sich ergeben soll, komplett ausgehebelt wird: „Der Zug hielt am Bahnhof, Leute stiegen aus, Leute stiegen ein. Im beschleunigten Zug brachten die übertragenen Schwingungen den Menschen wieder etwas Ruhe.” Oder, um zu einer Miniatur zu springen, mit der die Essay-Sammlung abschließt – Zum Meer! gibt sich wie ein hingetuschter Federstrich, der einen Horizont öffnet. Darin einen Fingerzeig zu vermuten auf den Kompass dieses Komponisten, sein Denken, seine Innenräume, liegt auf der Hand. „Wenn es möglich wäre, dass ich einen so anmutigen, stabilen und starken Körper haben könnte wie ein Wal, würde ich im Meer schwimmen wollen, ohne West und Ost.” Eine Selbstauskunft, die so und ähnlich immer wieder erscheint. Eine Art roter Faden, auf den der Band auf seine Weise aufmerksam macht, indem in ihm Analytisches über Takemitsu immer wieder mit Mitteilungen von Takemitsu verlinkt ist. Wenn hervorgehoben wird, dass für Takemitsu „eine direkteÜbernahme traditioneller japanischer Musik nicht infrage kam”, dass er die Verbindung von „japanischen Volksweisen mit westlicher Sinfonik für misslungen hielt”, so geht das unschwer aus Takemitsus eigenen Äußerungen hervor – nur, dass der nach der äußeren Erscheinung klein, zierlich, unauffällig wirkende Musiker in diesem Punkt jegliche Leisetreterei unterließ. „Ich finde es widerwärtig, wenn man sich auf ein grobschlächtiges Konzept stützt, um sich hinter dem Banner eines Ethnicism sicher fühlen zu können. Eine einzigartige japanische Musik kann sich allein durch die Verwendung von Volksliedern nicht konstituieren. Komponisten sollten bei ihrer Arbeit nicht so amateurhaft verfahren.” Unterwegs mit Toru Takemitsu.

Wie Takemitsu selber verfahren ist in seinem Komponieren, dechiffriert der Band an verschiedenen Stellen, stets mit der erwähnten Verlinkung von Selbst- und Fremdaussagen. Ein Beispiel: Der Werkkommentar zu der durch einen Traum ausgelösten Orchester-Komposition A Flock descends into the Pentagonal Garden gibt sich bescheiden, trägt zusammen, was einerseits aus dem Mund Takemitsus, was andererseits im Umfeld der Werkentstehung gesichert zu erfahren ist. Den Rest überlässt der Band den detaillierten Selbstanalysen des Komponisten, niedergelegt in Traum und Zahl – Die musikalische Sprache. Ein Essay ebenso umfassend wie faszinierend in der Art wie Plastisches und Fantastisches hier auf Tuchfühlung geht.

Plastisch der Werktitel: das Bild des in einen Garten einfallenden Vogelschwarms. Einiger­maßen fantastisch die daraus abgeleitete Modulation: „Die Augen und Ohren der Menschen befinden sich auf gleicher Höhe. Das ist kein Zufall. Wenn es einen Gott gibt, hat er uns genauso erschaffen – Augen und Ohren. Vielleicht irre ich mich, aber liegen nicht zum Beispiel die Augen beim Kind tiefer als seine Ohren? Doch wenn es erwachsen wird, wandern seine Augen nach oben. Meiner Meinung nach befinden sich die Augen intelligenter Menschen tendenziell viel höher als ihre Ohren.” Eine Takemitsu-Spekulation, die dem Rezensenten während einer Busfahrt begegnete, in der ein vor ihm sitzendes Kleinkind Augenkontakt aufnahm. Zur Überprüfung der Takemitsu-These führte das leider nicht. Dem Probanden ward von der neben ihm sitzenden Mutter die Bommelmütze über beide Ohren gezogen. Der Kasus bleibt also einstweilen offen.

Wie überhaupt der Kasus Toru Takemitsu aufgrund seiner starken poetischen Grundfärbung, aufgrund der Haltung, jedes Besetzen oder gar Ausspielen von Gegensätzen strikt zu meiden, ebenfalls offen ist. Was nicht bedeutet, dass Takemitsu der Indifferenz, der belanglosen Spielerei das Wort geredet hätte. Im Gegenteil. Gegen die von ihm gerügte Ethnicism-Verliebheit seiner japanischen Komponistenkollegen bringt er die Durcharbeitungsforderung ins Spiel: „Es geht darum, herauszufinden, was man davon für nötig erachtet, und dieses sollte durchgearbeitet werden, und es sollte nicht wie ein Zwischenfall in die Partitur eingestreut werden. Weder Ost noch West gibt es mehr in der Kunst.” Womit es wieder da ist – das Statement eines Künstlers, der es bevorzugt, „im Meer zu schwimmen, ohne West und Ost”.

Eigentlich sollte man meinen, dass unser Kompass im Takemitsu-Kosmos damit hinreichend genordet ist. Umso erstaunlicher allerdings, dass das Anerkennen mit dem Erkennen letztlich nicht ganz Schritt hält. So sehr Mitherausgeber Rainer Schmusch in seinen Überlegungen glasklar dahingehend ist, dass die Musiksprache Takemitsus sich weder in westliche Tonaliät, in ein dodekaphones Reihen-Verfahren noch in die japanische Tradition einordnen lässt, so sehr drängt es ihn, hierfür das seit Christian Utz modisch gewordene Passpartout des globalisierten Komponierens einzusetzen und in den Titel des Bandes zu hieven. Eine Entscheidung, mit der Schmusch offenbar selber nicht ganz glücklich ist wie sein Verdacht belegt, dass Utz mit seinem sogenannten „interkulturellen Komponieren” einer „systematisierten Aufforderung zur Lange­weile” das Wort redet. In der Tat. Wenn Komponist sein irgendeine Bedeutung haben soll, dann einzig in der bestimmten Negation eines globalisierten, also eigenschaftslosen Komponierens.

Georg Beck
Düsseldorf, 13.12.2024

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