Ellinor Skagegård: Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik [Peter Sühring]

Ellinor Skagegård: Fanny Mendelssohns unerhörtes Gespür für Musik / Aus dem Schwedischen von Regine Elsässer – Berlin: Insel, 2021. – 237 S. (insel taschenbuch ; 4843)
ISBN 978-3-458-68143-4 : € 14,00 (kt.; auch als eBook)

Das ist gar kein „Roman“, wie es irreführend auf der vorderen äußeren Broschurklappe des etwas überformatigen Taschenbuchs gedruckt steht. Das Buch gehört wohl eher ins Genre der literarischen Biographie, und deswegen ist es auch nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht und wertvoll, dass die Autorin für die zahlreichen Situationen im Leben der Fanny Mendelssohn-Hensel, in denen Poesie, Zauber und kulturelle Konflikte walten, auch erzählerisch einen fürs Innenleben poetischen, für die soziale Sphäre phantasievollen Ton gewählt und gefunden hat. Es ist aber eine hohe Kunst, die man hier beherrschen muss, und die Autorin beherrscht sie nicht immer, vor allem da, wo sie vorgibt, bloß Tatsachen mitzuteilen. Nachdem für Felix Mendelssohn dem Biographen Heinrich Eduard Jacob im Jahr 1959 ein solch literarisches Kunststück zur Rehabilitation dieses bei den Deutschen verfemten jüdischen Musikers gelungen war (und kürzlich seine 4. Auflage erlebte), ist nun aus Schweden ein Gegenstück über Fanny zu uns gekommen, das bereits etliche vorhandene Darstellungen glücklich ergänzt und ihnen an literarischem Geschmack mindestens ebenbürtig ist. Skagegård will die von ihr porträtierte Künstlerin als Person und soziales Wesen verstehen und interpretieren, wie sie sagt ‑ andernfalls hätte sie dieses Buch auch nicht zu schreiben brauchen.
Es ist an nicht-wissenschaftlichen Biographien allerdings oft misslich, dass die einzelnen Zitate nicht aus den Quellen heraus nachgewiesen werden ‑ zumal hier, wo sich die Autorin wohl ausschließlich auf von ihr neu kompilierte Sekundärquellen, darunter auch romanhafte, stützt, die nur pauschal am Schluss des Buches verzeichnet sind. Darunter befinden sich deutsche, englische und französische Titel, von denen man nicht weiß, ob die Autorin sie in der jeweiligen Originalsprache gelesen hat und welchem Buch sie welches Zitat entnommen hat. Stichproben mussten ergeben, dass in den Originalquellen, z.B. in der Gesamtausgabe der Briefe von Felix Mendelssohn, manche als Briefstellen von ihm ausgegebene Sätze gar nicht enthalten sind. Woher hat Skagegård diese angeblichen Zitate? Dabei handelt es sich um wunderliche Äußerungen in heiklen Fragen. Ausgerechnet Fannys Schwester Rebekka, die sich gegen das christliche Namensanhängsel Bartholdy wehrte, sollte sich zu Felix brieflich despektierlich über einen jüdischen Verwandten geäußert haben, mit der Floskel, sie sei ja kein Judenhasser, aber…, worauf Felix zurückgeschrieben hätte: „Was meinst Du, wenn Du sagst, Du seist kein Judenhasser? […] Es ist wirklich nett von Dir, nicht auf Deine ganze Familie herabzusehen“ (S. 48). Hier hätte man doch gerne gewusst, wer so etwas kolportiert hat, denn diese Briefstelle gibt es nicht. Weder die Übersetzerin noch der Verlag scheinen sich die Mühe gemacht zu haben, solche Zitate anhand kritischer Ausgaben zu überprüfen und daraus wortgetreu zu zitieren. Wahrscheinlich hat man sie einfach aus dem Schwedischen übersetzt, es ist ja auch nur ein Roman.
Der deutsche Titel ist eine Erfindung der Übersetzerin, in allzu auffälliger und aufdringlicher Anlehnung an einen erfolgreichen dänischen Roman aus dem Jahr 1992 über ein gewisses Fräulein und dessen Gespür für Schnee. Im schwedischen Original lehnt sich der Titel (auf Deutsch: Für dich sollte Musik nur ein Juwel sein) an eine Briefstelle von Fannys Vater Abraham Mendelssohn an, wo er seiner vierzehnjährigen Tochter nahelegt einzusehen, dass Musik für sie, im Gegensatz zu ihrem Bruder, für den sie vielleicht ein Beruf werden, nur eine Zierde werden könne.
Skagegård mischt in von ihr beschriebene Lebenssituationen von Fanny Mendelssohn-Hensel oft übergangslos reine Imaginationen, bloße Vorstellung mit harten Tatsachen, über deren Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Realismus sie sich noch durch kritische Auseinandersetzungen mit ihren Gewährsleuten und deren Quellen vergewissert oder streitet. Und sie erwartet vom Leser, dass er diese plötzlichen Drehungen von einer Erzählsphäre und -perspektive in die andere hellwach mitmacht. Gleich die erste Szene zum Einstieg ins Buch spielt im Zimmer der 13-jährigen Fanny. Sofort assoziiert man falsch (ohne dabei von der Autorin außer durch die Erwähnung einer grünen Wand unterstützt zu werden) das berühmte Gemälde ihres Zimmers in der Leipziger Straße; es könnte aber, wenn überhaupt, nur ihr Zimmer auf der Neuen Promenade in der Spandauer Vorstadt gewesen sein, wo die Mendelssohns zu diesem Zeitpunkt noch bei der Großmutter mütterlicherseits, Bella Salomon, in eher engen und bescheidenen Verhältnissen wohnten, wie die Autorin auch weiter unten anschaulich schildert. Fannys eigenes Zimmer? Hier beginnt zudem schon eine eigenwillige und für die soziale Stellung dieses Mädchens ungeheuer wichtige Interpretation. Vielleicht war es so, dass sie ein Zimmer für sich allein hatte (vielleicht auch, dass ihr jüngerer Bruder Felix einmal zögerte, in es einzudringen und sie beim Übern zu stören), aber hier schwingt noch viel mehr aus der Emanzipationsgeschichte der Frauen kräftig mit: Hatte nicht Virginia Woolf behauptet, wenn eine fiktive Schwester Shakespeares ein eigenes Zimmer gehabt hätte, wäre vielleicht auch sie eine berühmte Dichterin geworden? Dass Fanny schon früh ein eigenes Zimmer hatte, konnte in Skagegårds Version offensichtlich nicht verhindern, dass sie ‑ obwohl gleich begabt und ihrem kleinen Bruder eine Lehrerin – die von ihr komponierte Musik verstecken musste und auch später kaum öffentlich präsentieren konnte. Gab es also im Berlin der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch andere Schranken als das fehlende eigene Zimmer? Eine solche Frage legt diese erfundene Szene nahe und sie wird durch Hinweise auf viele andere und weitere Umstände beantwortet, welche die künstlerische Entfaltung und allgemeine Bildung von Fanny einerseits fördern (Unterricht bei der Mutter, bei Marie Bigot in Paris, bei Ludwig Berger und Carl Friedrich Zelter in Berlin), andererseits blockieren (kaum Auftrittsmöglichkeiten, kompositorische Reduktion auf das Genre des Klavierlieds).
Die scharfe Beobachtungsgabe der Autorin und ihre Fähigkeit, weitreichende Schlussfolgerungen aus nebensächlich scheinenden Tatsachen zu ziehen, erweist sich gleich beim auf die erste Szene folgenden Rückgriff auf die Hamburger Verhältnisse in Fannys früher Kindheit. Warum denn wohl wohnte die Familie in Hamburg und nicht in Altona, wo es eine jüdische Gemeinde und eine Synagoge gab? Dass Abraham Mendelssohn als Sohn des berühmten jüdischen Aufklärers und Religionsphilosophen Moses Mendelssohn schon ein säkularer Jude mit profanen Humanitätsidealen war und seine Kinder zunächst areligiös erzog, ist für jene Art von Christentum, die später in Fannys und Felix’ Leben nach ihrer Taufe wirksam wurde, von großer Bedeutung und wird hier schon angedeutet. Umso unverständlicher ist es, dass die gleiche Autorin im folgenden Kapitel, das den Mendelssohns und dem Judentum gewidmet ist, davon spricht, dass Abraham „konvertiert“ sei und die konvertierte Fanny sich der strenggläubigen Großmutter gegenüber schuldig gefühlt haben könnte. Konvertieren kann man nur von einer Religion in eine andere. Fanny hatte aber keine Religion vor ihrer christlichen Taufe, und die Taufe wurde über sie verfügt, weil der Vater meinte, dass es nützlich und opportun sei, sich an die deutschen Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren und dass das Christentum noch am wenigsten seiner weltlichen Ethik widerspräche.
Beachtenswert ist auch der Hinweis Skagegårds auf den Unterschied zwischen den Bezeichnungen antijüdisch und antisemitisch, welch letztere erst gegen 1860 in Frankreich aufkam. Sie hätte aber auch noch dazusagen können, dass antisemitisch ein Begriff war und ist, der mit dem rassischen Begriff des Semiten aufkam und ursprünglich alle Völker des Vorderen Orients, also Araber und Juden umfasste, bevor er neuerdings auf die Juden eingeengt wurde, und es deswegen auch für die meisten Leute heutzutage so schwer ist, den aktuellen Antiislamismus, der nicht zwischen der Religion und deren politischem Missbrauch unterscheidet, sowie den Antiarabismus als eine Spielart des Antisemitismus zu erkennen.
Manches in dieser Biographie ist unklar formuliert („durch seine Ehe mit Lea ist er [Abraham Mendelssohn] jetzt ein ’privilegierter Jude’“, S. 24) oder ungenau beschrieben: nachdem betont worden war, dass Fanny schon früher als Felix selbständigen Musik- und Sprach-Unterricht erhalten hatte, wird gemutmaßt, ob Abraham nicht von seiner gebildeten Frau dazu überredet worden sei, Fanny an den Musikstunden von Felix teilnehmen zu lassen. S. 30). Sicherlich wird Madame Bigot die erste Lehrerin gewesen sein, die Fanny auf Beethoven verwies, aber dass Berger im Gegensatz zu Zelter dies dann in Berlin auch wieder und noch entschiedener getan hat, hätte wenigstens erwähnt werden dürfen, denn Zelters Kontrapunktstudien, denen auch von Skagegård so viel Gewicht beigemessen wird, waren zwar unerlässlich, in ihrer Einseitigkeit und Rückwärtsgewandtheit aber nicht nur förderlich. Dass und warum dann von den beiden „liebenswürdigen Kindern“ nur Felix und nicht auch Fanny bei Goethe vorspielen durfte, ist eine Pointe, die sie gebührend auszustellen weiß. Es gibt auch völlig unverständliche Sätze wie der: ein Lied von Felix „bestehe aus einfachen Klavierakkorden, die sich gelegentlich zu einer vierkantigen Vokalpartie verdoppeln“ (S. 35) – das verstehe wer will; es soll sich hierbei allerdings um ein indirektes Zitat des englischen „Mendelssohn-Experten Larry Todd“ handeln, hat somit wahrscheinlich zwei Übersetzungsstufen hinter sich, war aber dem Lektorat des Insel-Verlags offenbar nicht anstößig; auch hier wüsste man gern, wie das Zitat im Original bei Todd lautet.
Und so – in dieser Mischung aus gelungenen spekulativen Verallgemeinerungen und Spezifizierungen und einem Fischen in manchmal trüben Quellen ‑ geht es in den verschiedenen Kapiteln und Szenen des Buches weiter. Es wäre mühselig und anstrengend, hier alles auseinander zu dröseln. Als störend empfunden werden dabei nicht etwa die poetischen Ausschmückungen, die ja stets als solche kenntlich sind und nur selten sentimentale Ausrutscher darstellen, auch nicht die zahlreichen und größtenteils triftigen sozial- und kulturgeschichtlichen Hinweise und Interpretationen der Autorin, sondern nur manche vereinzelte falsche Tatsachenbehauptungen und zweifelhafte trügerische Zitate, die so auftreten als wären sie nicht-fiktional.
Die Liebe und die Konkurrenz zu ihrem als Berufsmusiker berühmt werdenden jüngeren Bruder Felix, geschildert als eine ihr Leben beherrschende Ambivalenz, gewinnt Plausibilität, das Gefühl, von ihm im Stich gelassen worden zu sein, schwingt stets unterschwellig mit, auch wenn dieser Vorwurf nie erhoben wird. Felix Mendelssohns Absturz angesichts von Fannys tragischem Tod kann man auch als ein seelisches Eingeständnis dieses Versäumnisses interpretieren.
Fanny Mendelssohns Gespür für Musik, um zum Kern dieses Lebensberichts einer Künstlerin zu kommen, wird mit viel Gespür für das Eigentümliche von Fannys Entfaltung, für das Steinige ihres Weges und ihre Wahl spezieller musikalischer Formen geschildert. Das Ringen Fanny Hensels um ihren Entschluss, wenigstens einen Großteil ihrer Lieder spät aber doch zu publizieren, gewinnt eine angemessen dramatische Darstellung. Der Rest ist ein bis heute skandalöser Weise immer noch nicht zusammengetragenes, gesammeltes, publiziertes, geschweige denn gespieltes Œuvre, wodurch Skagegårds aufregenden Andeutungen über Fanny Mendelssohns kürzlich wiederaufgefundene „Ostersonate“ für Klavier noch einer musikhistorischen, quellenkritischen Klärung bedürfen. Aber Fannys mutiges Fortschreiten vom Lied zur Kantate, vom Klavierstück zur Sonate, und zu den großen Kammermusikformen Klaviertrio, Klavierquartett und Streichquartett und die damit verbundenen inneren Kämpfe und Zweifel werden anrührend geschildert, wie auch die Leidenschaftlichkeit ihrer Musiksprache, ebenso wie ihre Neigung und Fähigkeit, ein musikalisches Repertoire zu entwickeln und ganze Konzertserien, jene berühmten Sonntagsmusiken in der Leipziger Straße, jahrelang zu leiten und in Berlin neben den großen Institutionen ein privates Domizil öffentlicher enthusiastischer Musikpflege zu inszenieren.
Dass Fannys an der Entwicklung der Gattung „Lied ohne Worte“ beteiligt gewesen sein soll, weil ihre liedhaften frühen Klavierstücke Felix dazu animiert haben könnten, diese Art von Charakterstücken zu kultivieren, kann als Erwägung stehen bleiben, die historischen Dokumente gehen in eine andere Richtung und verweisen auf eine Gemeinschaftsarbeit von Felix Mendelssohn mit Wilhelm Taubert, der als erster eine Sammlung „Minnelieder an die Geliebte für das Klavier“ veröffentlicht hatte. Davon war Mendelssohn so begeistert, dass er Taubert, zu dieser Erfindung gratulierte und sie zusammen mit seinen eigenen „romances sans paroles“ oder „songs for piano alone“ zu einer neuen Gattung der Musikgeschichte erklärte und Taubert mitteilte, „wie wohltuend es ist, einen Musiker mehr in der Welt zu wissen, der dasselbe vorhat und ersehnt und dieselbe Straße geht“.
Die Autorin weiß viel, spannt die Flügel ihres Wissens weit aus und bringt die Details unter den Bogen einer in sich weitgehend bis auf einige Stolpersteine stimmigen Erzählung. Das Rätselhafte und noch nicht Aufklärbare, wird nicht verschwiegen, das Erklärungsbedürftige einer möglichen Erklärung zugeführt, unter dem Vorbehalt, so oder ähnlich könnte es gewesen sein. Nur wer sich nicht zu interpretieren traut und seinen Lesern keine Interpretationen zumutet, wäre gegen Fehlschlüsse gefeit.
Die beigefügten Erläuterungen eines musikalischen Glossars sind manchmal nur halbrichtig, dienen aber trotzdem einer ungefähren Orientierung für eine(n) in den musikalischen Fachausdrücken noch ungebildete(n) Leser(in). Auch ist fraglich, ob Worte wie Arie oder Lied zu solchen erklärungsbedürftigen Fachausdrücken gehören. Man fragt sich aber, warum ein(e) solche(r) die Biographie einer Musikerin überhaupt lesen sollte und warum man ihn/sie davon abhalten will, sich in einschlägigen Musik- oder allgemeinbildenden Lexika sachkundig zu machen.

Peter Sühring
Bornheim, 21.09.2021

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