Franz Grothe: Die Frau meiner Träume / Hrsg. von Stefan Schmidl und Timur Sijaric. – Wien: Filmarchiv Austria, 2021. – XXVIII, 251 S.: Partitur, Vorw., krit. Bericht, Ill. (Filmmusik in historisch-kritischen Editionen ; 1)
ISBN 978-3-902781-87-1 : € 59,90 (geb.)
Historisch-kritische Partiturausgaben der großen Orchestermusik à la Beethoven, Brahms oder Mahler sind das Metier musikwissenschaftlicherNoteneditionen seit je. Populäreres – aber nur mit Meisterprädikat wie Johann Strauß‘ Fledermaus – gewann nach langem Schattendasein ebenfalls ein Wohlwollen der Renommierverlage. Denn unbestritten erweist es sich als ebenso ergiebig für vergleichende Quellenerschließung oder authentizitätsorientierte Aufführungspraxis. Einen enormen Schritt weiter, und das nicht nur in musikalischer Mission, geht eine neue Reihe des Filmarchivs Austria. Wohlgemerkt: eines Filmarchivs. Ausgangspunkt nämlich ist weder Oper noch Symphonie, sondern der Kintopp. Zurecht verweist die Schriftleitung auf die bisherigen Meriten der Filmforschung: Historie, Dramaturgie, Rezeption und das mediale Zusammenspiel wurden gründlichst untersucht. Und die Scores und Soundtracks? Unterbelichtet sind auch sie keineswegs. An Lexika zu Filmkomponisten, analytischen Passagen in Biographien oder Spezialuntersuchungen herrscht kein eklatanter Mangel. Einen Mangel aber, dem die Österreicher jetzt begegnen, verbucht das Angebot öffentlich zugänglicher Notentexte in wissenschaftlich kuratierter Partiturform. Bedienten die Ausgaben der Klassiker neben der Forschung auch die historisch informierte Wiederaufführung, schien letztere für Musik auf Zelluloid technisch unpraktikabel. Das volle Verständnis des Films im Sinne eines Auch-Gesamtkunstwerks aber bleibt defizitär ohne den Blick auf Genese und schriftliche Fixierung der Musik-Komponente.
Und mit dem genannten Schritt ins Populäre schließt das Filmarchiv auf zur aktuellen Musik- und Kulturwissenschaft, die sich interdisziplinär, endlich aber auch werkanalytisch und auf Augenhöhe, bis zur leichteren Muse von Operette über Schlager bis Rock/Pop vorbewegt hat. In einem überraschenden Coup also fiel die Wahl für Filmmusik in historisch-kritischen Editionen 01 mitnichten auf ein elitäres Unverständlichkeitswerk für Kleinstauditorien, sondern auf einen Kassenschlager par excellence: den sinnlich-farbenprächtigen Revuefilm Die Frau meiner Träume aus der deutschen UFA-Traumfabrik des Jahres 1944. Musik: Franz Grothe (1908-1982). Mag auch im Fall der seriösen Edition eines vermeintlich reinen Stücks U-Musik ein gewisser Legitimationsdruck nachhallen, liefern schon die diversen Vorwortverfasser Argumente, wie sie stichhaltiger kaum denkbar sind. Für die exponiert als Unterstützerin genannte Franz Grothe-Stiftung verweist Enjott Schneider auf anhaltenden Bedarf an vergleichbaren Untersuchungen und Ausgaben zur Film- und Unterhaltungsmusik der NS-Zeit, deren Odium auch Grothe zu schaffen machte. Und als Komponistenkollege schätzt er Grothes Kunstfertigkeit „im Spannungsfeld von Schlager, Jazz und symphonischem Anspruch“ (S. VI) sowie seinen profilbildenden Rang im Kontrast zwischen älterer Unterhaltungsmusik der Vorkriegszeit einerseits und revolutionäreren Tönen des Neuen Deutschen Films oder der Rock/Pop-Ära andererseits. Den Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit der Propagandaästhetik des Dritten Reichs begrüßt im Namen der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien auch Rosemarie Brucher, lobt zugleich die Herausgabe als Grundlage für die musikwissenschaftliche Analyse, die hiermit zumal den „Fragen der musikalischen Konstruktion von Geschlecht und ‚Exotismen‘“ wie auch den von den beiden Editoren betonten „Ambivalenzen aus politischer Affirmation und Subversion“ (S. VII) in Grothes Filmmusik nachspüren könne. In Verlegerfunktion kann das Filmarchiv Austria mit der Initialzündung zugleich die ausstehenden Folgebände der neuen Reihe, die weitere Fundstücke aus eigener Sammlung präsentieren wird, bewerben: Nach zahlreichen audiovisuellen und publizistischen Angeboten, die ihr Augenmerk traditionell der filmischen Inszenierung widmeten, erfolgt, so Joachim Loacker, nun der Schwenk auf „die wesentlichen Elemente eines Filmwerks“ – namentlich „Bild – Montage – Ton“, darunter die Musik als „essenzieller Faktor in der ‚Manipulation‘ des Publikums“ (S. VIII). Und Reihen- sowie Bandherausgeber Stefan Schmidl, Professor für Musikgeschichte an der Wiener Privatuniversität und neben Filmmusik erkennbar auch Experte für Repräsentations- und Imaginationsgeschichte, begründet die Auswahl des 1943/44 produzierten Marika-Rökk-Streifens mit der künstlerischen Qualität und kulturhistorischen Aussagekraft der Musik im deutschsprachigen Kino allgemein.
Dies alles formiert ein Potential, das also gerade hier als neu zu entdeckender Mehrwert von wissenschaftlich edierten Filmpartituren sinnfällig wird: „der lesende Mitvollzug simultan zum Verlauf des Films“ mit dem Effekt einer „Einsicht (…) in die Tiefenstruktur der Komposition sowie in die Interaktion der Musik mit dem bewegten Bild“, dem Begreifen der Musik „als Teil der filmischen Narration.“ (S. IX)
Beeindruckt folgt man Schmidl, wenn er anschließend im ausführlichen Kommentar über „Kontext, Struktur und Semantik von Franz Grothes Filmmusik“ (S. XI) informiert. Seine filmgeschichtliche Rubrizierung schließt er einleitend kurz mit jenem differenzierenden Moment, das Die Frau meiner Träume aus einer Flut an eindimensionaler Volk-und-Führer-Belobigung heraushebt: So lanciere sie wie auch der legendäre Münchhausen mit Hans Albers oder Der weiße Traum (beide 1943) diverse doppelbödige Kassiber an das offiziell bei Kriegslaune zu haltende Publikum, da diese „einerseits als propagandistisch-konformistischer Eskapismus, andererseits als (zwar nicht subversive, so doch ästhetisch-kritische) Reflexion ihrer Zeitgeschichte interpretierbar“ (S. XI) seien. Nicht von ungefähr reagierte Joseph Goebbels pikiert auf Frivolitäten, verlangte Nachdrehs und untersagte eine Bewerbung. Aber dank der Inszenierung durch den erfahrenen und mit Rökk verehelichten Georg Jacoby, einer Augenweide an prachtvollen Szenerien und Kulissen aus der Werkstatt des Bühnenbildners Erich Kettelhut und der meisterhaften Filmmusik Franz Grothes, „die“, so Schmidl, „den quasi-halluzinatorischen Charakter (…) entscheidend vermittelt hat“ (S. XI), zog Goebbels‘ Verdikt den Kürzeren. Die Frau meiner Träume schaffte es unter die kommerziell erfolgreichsten Zehn des NS-Kinos und hielt die Stellung bis in die Nachkriegszeit.
Im Abriss der übrigen Arbeiten des Erfolgsgespanns Grothe und Jacoby übergeht Schmidl keineswegs Grothes für die Liedtexte zuständigen Cousin Willy Dehmel. So prägnant wie möglich und so dezidiert wie nötig pointiert und klassifiziert er das simpel gestrickte Handlungsgerüst: Zwei Revueblöcke umrahmen eine Binnenhandlung, die auf dem mit Elementen des Film-Musicals verschmolzenen Screwball-Prinzip (Konflikt eines skurrilen Charakters mit einem gegensätzlichen Umfeld) beruht. Nach ihrem Auftritt in Die Frau ohne Herz ist der gefeierte Revuestar Julia Köster, gespielt von Rökk, des Bühnenbetriebs müde. Ihre Flucht vorm Direktor (Georg Alexander), der ihr mit Hilfe ihrer Zofe (Grethe Weiser) auf den Fersen bleibt, beginnt mit dem unglücklichen Verlust des Gepäcks. Und mitten in den verschneiten Alpen verlässt sie bei einem irregulären Stopp den Zug. Als der ohne sie weiterfährt, gelangt sie auf ihrer Odyssee in die Schutzhütte zweier Gebirgsbauingenieure – der eine, Erwin Forster (Walter Müller), zudringlich, sein Kollege Peter Groll (Wolfgang Lukschy) abweisend. Aber hinter Julias Scharmützeln mit Peter knistert’s uneingestanden erotisch. Nach vielem zeitfüllenden Hin und Her scheint die Vereinigung besiegelt, Julia will beim Direktor demissionieren und sich künftig zur treuen Ehefrau und Mutter bekehren. Aber nochmal kommt es zum Bruch. Zurück an der Bühne, brilliert sie in der Revue „Die Frau meiner Träume“. Diese choreographiert einen pittoresken Geschlechterkampf auf chinesische oder spanische Art, bis Julia mit ihrem Tanzpartner (Synchrongesang: Rudi Schuricke) zu ätherischen Harfenklängen in den siebten Himmel schwebt. Analog hierzu tut sie dies zum Happy End schließlich auch real mit Peter, der Freund Erwin nach anfänglichem Missmut doch noch ins Theater (Drehort: Berlins Metropol) gefolgt war. Die Domestizierung der mondänen Lebedame zur ergebenen Gefährtin des Mannes und Hüterin des heimischen Herds ist erreicht, der konservativen Ideologie Genüge getan. Teleologisch gehen Soundtrack, Revuemusik und intertextuell zitierte Grothe-Melodien – Ach, ich liebe alle Männer, dann volkstümelnd Hoch drob’n auf dem Berg – konform.
Bei der musiktypologischen Einordnung von Stil und Orchestration diagnostiziert Schmidl eine Distanzierung von vielerorts UFA-üblichen Hollywood-Adaptionen. Der Hintergrund allerdings bleibe letztlich Spekulation. Gegenüber Helmut Käutners Wir machen Musik (1942), wo im jazzigen Sound von Peter Igelhoff eine Synthese von Alt und Modern erreicht werde, sei es hier nach kurzer Konfrontation mit einer Stepptanznummer der Walzer, der final die Oberhand gewinne. In einem bestimmten Punkt bleibt der Wunsch eines auch bei der Leichten Musik philologisch Interessierten offen. Denn wenig konkret wird eine Einschätzung des Verhältnisses zwischen Grothes Komposition und der Instrumentierung durch den Wiener Filmkomponisten und –orchestrator Alfred Strasser (1895-1967). Sprich: Was ist Grothe, was Strasser? Inwieweit lässt es sich eruieren? Den maßgebenden Fahrplan für den rezipierenden oder analytischen Partiturleser entfaltet Schmidl vielmehr in den tiefblickenden Deutungen der filmmusikalischen Dramaturgie, die sich mit der Gliederung des Films in die rahmenden Revuesequenzen und die Binnenhandlung deckt. Die großangelegten Tanzvariationen über den lasziven ersten Hauptschlager In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine kulminieren in Revue 1 nach Apachentänzen und Geschwindmarsch laut Schmidl in einem ersten Wagnis: einem wirbelnden Cancan mit Allusion an den NS-verfemten Jacques Offenbach. In der Binnenhandlung, die, erst lange musikabstinent, primär extradiegetisch (also nachsynchronisiert, nicht handlungsimmanent) vertont ist, findet sich eine weitere Ambiguität im ebenfalls leitmotivisch fortgeführten Duett Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur grade aus – lesbar als „Appell (…), den Krieg im Sinn der herrschenden Ideologie fatalistisch zu akzeptieren“ oder als „Aufruf (…), auf ein Ende des Regimes zu hoffen.“ (S. XVII) Bei der Beschreibung dieser Erfolgsnummern wie auch des in der komplexen, exotistischen Schlussrevue dominanten Ich warte auf Dich profitiert Schmidl von instruktiven satz- und formanalytischen Vorarbeiten, wie sie etwa Mechthild von Schoenebeck im Grothe-Band der Reihe Komponisten in Bayern (Band 64) geleistet hat. Ansprechend ikonographisch flankiert wird der Textteil durch farbige Szenenfotos und Repros neben Schnappschüssen von Grothes Dirigat in Schwarzweiß.
Notenteil und kritischen Apparat verantwortet Mitherausgeber Timur Sijaric, wissenschaftlicher Mitarbeiter für Digital Humanities and Cultural Heritage an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und vielseitig aktiv in Sachen Filmmusik, Audiovisualität und Musik-Medialität. Es eröffnen: die Credits des originalen Vorspanns, eine Cue-Liste mit Synopse der Nummernlisten von Edition und Quelle sowie die Orchesterbesetzung deutsch und englisch. Der akkurat gesetzte Notentext selbst bietet 29 Nummern auf nicht weniger als 230 Seiten. Man entdeckt in Massen ganzseitige Tutti spätromantischer Opulenz oder Passagen folkloristisch-impressionistischer Färbung wie im Dialog beim Motorrad oder Am Mittagstisch (ein „Partitur-Rater“ könnte punktuell auf Bizet, Massenet oder Rachmaninow tippen) über kleinere Formationen (Klaviere im Radio, Streicher mit Harmonika und Gitarre in der Kantine) bis zum einstimmigen Trällern Rökks oder Pfeifen Lukschys, dazu: sieben gestrichene Passagen auf neun Seiten Anhang. Zu einem Kuriosum sui generis im Neuland Film gerät der kritische Apparat. Nach bewährter Editorenart referiert Sijaric differenziert die verwendeten Quellen (Hauptbasis: das originale Notenmaterial mit – leider nicht näher beschriebenem – Dirigierparticell), auch erhält jede Nummer ihre eigene Besetzungsangabe. Das Protokoll der Lesarten dagegen überrascht mit manch Filmspezifischem und Originellem wie den Differenzen zwischen Notentext und Soundtrack oder gliedernden Zeitangaben bei Taktzahlen, ja persönlichen Notizen des Arrangeurs Strasser zu Lebensmittelkarten.
Dank DIN A4 ließe sich aus der Frau meiner Träume womöglich auch dirigieren – aus einer zum Glück nicht nur erträumten, sondern handfest realen Partitur. Bitte weitere Traumerfüllungen!
Andreas Vollberg
Köln, 22.08.2021