Handbuch Konservatorien. Institutionelle Musikausbildung im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts / Hrsg. von Freia Hoffmann. – Lilienthal: Laaber, 2021. – 3 Bde., 871 S.: zahlr. Abb., Diagr. u. Tab.
ISBN 978–3–89007–911–0 : € 198,00 (geb.)
Musikhochschulen sind ein unverzichtbarer Teil der musikalischen Infrastruktur, an die wir uns gewöhnt haben und die doch nicht vom Himmel gefallen, sondern geschichtlich gewachsen ist. Wie viele Einrichtungen des kulturellen Lebens entstanden die Institutionen musikalischer Ausbildung im Kern im Laufe des 19. Jahrhunderts. Zwar sind die Konservatorien, die sich damals vielerorts im deutschsprachigen Raum gründeten, mit den heutigen Hochschulen strukturell nicht ganz deckungsgleich, doch stehen diese in Kontinuität zu jenen.
Ihre Geschichte ist in der Musikforschung allerdings nicht besonders beliebt. Der Gegenstand liegt an der Peripherie mehrerer Disziplinen: der historisch orientierten Musikwissenschaft, der Bildungsgeschichte und regionaler Historie. Auch wirkt sich aus, dass das Renommee musikalischer Ausbildungsstätten jedenfalls in Deutschland begrenzt ist. Musikerinnen und Musiker beziehen ihr Selbstverständnis eher auf einzelne Lehrer als auf die Schulen, die sie besucht haben. So erinnert man sich an die Vergangenheit der Musikhochschulen oft nur aus Anlass von Jubiläen.
Dabei liegen charakteristische Zeugnisse vor, mit deren Hilfe sich ihre Geschichte, sofern man Geduld mitbringt, gut erschließen lässt. Viele Konservatorien ließen Jahresberichte drucken, in denen die Grunddaten des Schullebens – Lehrpersonal, Studierende, Konzerte, Preisverleihungen, Studienbedingungen und anderes mehr – nüchtern, aber informativ bekanntgegeben wurden. Ferner entstanden immer wieder Diskussionen in den musikalischen Zeitschriften. Und wer tiefer eindringen will, stößt auf archivalische Quellen, das heißt auf Unterlagen, in denen sich administrative Angelegenheiten niedergeschlagen haben.
Einzelne Mongraphien aus jüngerer Zeit liegen vor. So hat Yvonne Wasserloos das Leipziger Konservatorium als ausstrahlungskräftiges Modell beschrieben (Das Leipziger Konservatorium der Musik im 19. Jahrhundert, 2004). Dietmar Schenk betont in seiner Geschichte der Berliner Hochschule für Musik die kunstpolitischen Ambitionen, die mit Preußens Konservatorium verknüpft waren (Die Hochschule für Musik zu Berlin, 2004). Einzelstudien wie diese sind in gewisser Weise punktuell; sie werden durch die Gesamtschau überwölbt, um die sich ein Projekt der European Science Foundation bemüht hat. Unter der Ägide von Michael Fend und Michel Noiray hat es im europäischen Rahmen übergreifende Gesichtspunkte wie den Einfluss des Pariser Conservatoire oder das Spannungsverhältnis zwischen privater Organisation und staatlicher Kontrolle herausgearbeitet (Musical Education in Europe. Compositional, Insitutional and Political Challenges, 2005). Begleitend zur Erarbeitung des hier zu besprechenden Handbuchs veranstaltete schließlich das Sophie Drinker Institut in Bremen 2019 eine Tagung, aus der ein interessanter Strauß von Beiträgen hervorgegangen ist (Konservatoriumsausbildung von 1795 bis 1945, hrsg. von Annkathrin Babbe und Volker Timmermann, 2021).
Mit dem anzuzeigenden Handbuch legt nun ein Team um Freia Hoffmann, der Leiterin des Sophie Drinker Instituts, eine Gesamtdarstellung vor. Die zeitlichen und geographischen Grenzen sind der deutschsprachige Raum, der im Fall der Konservatorien bis Prag und Straßburg reicht, und das 19. Jahrhundert, das übrigens nicht von vornherein bis 1914, zum Kriegsbeginn, verlängert wird. Schon aufgrund der politischen Zersplitterung des Deutschen Bundes, die in der föderalen Verfassung des Nationalstaats von 1879/71 fortwirkte, aber auch aufgrund der dezentralen Natur von Initiativen, die zur Gründung von Musikschulen führten, war die Landschaft der Konservatorien vielfältig. Wien, Leipzig und Berlin mögen in mancher Hinsicht hervorstechen, doch lässt sich die Geschichte musikalischer Ausbildung nicht von wenigen Standorten aus schreiben; dazu sind die Verhältnisse einfach zu komplex. So wurden neben den schon genannten Städten auch Dresden, Frankfurt am Main, Hamburg, Karlsruhe, Köln, München, Sondershausen, Stuttgart, Weimar und Würzburg einbezogen.
Die unhintergehbare Diversität, die sich schon in der breiten regionalen Streuung andeutet, versucht das Handbuch einzufangen und zugleich zu bändigen, indem es die ausgewählten sechzehn Musikschulen – in Berlin sind zwei angesiedelt – anhand eines einheitlichen Fragerasters abhandelt. Folgende Abschnitte sind in den Einzelgeschichten gebildet worden: Historischer Überblick, Finanzierung, Träger, Direktorium/Leitung, Gebäude und Konzertsäle, Studienjahr, Studienbedingungen, Prüfungen, Anzahl und Fächerwahl der Studierenden, Geschlechterverhältnisse, Lehrkräfte, Nebenfächer, Studieninhalte, Schülerkonzerte, regionale Besonderheiten und Profil (vgl. auch S. 12). Die Artikel, die viel Zahlenwerk enthalten, schließen mit Fächertabellen und Kurzviten des Lehrpersonals ab. Im dritten Band des Werkes werden zudem 28 Quellentexte aus der zeitgenössischen Literatur wiedergegeben. Das im Druck vorliegende Material wird auf der Website des Sophie Drinker Instituts noch ergänzt (siehe www.sophie-drinker-institut.de/kons-materialien).
Einleitend betont Freia Hoffmann, dass ein „Ranking“ der behandelten Konservatorien nicht beabsichtigt sei (S. 16). Man kann hinzufügen, dass nicht nur Hierarchisierung vermieden, sondern überhaupt zurückhaltend geurteilt wird. Großen Linien werden nicht präsentiert, keine markanten epochalen Bestimmungen vorgenommen und auch sonst interpretatorisch kaum Akzente gesetzt. Der Vorzug einer solchen Konzeption ist die gleichmäßige Abdeckung des Gegenstands. Wie es sich für ein Handbuch gebührt, besteht der Anspruch darin, die gewählte Thematik möglichst umfassend zu betrachten. Die vielfältige Verschränkung ästhetischer, kultureller, politischer, sozialer und ökonomischer Gesichtspunkte, welche die Geschichte der Konservatorien prägt, lernen die Leserinnen und Leser en détail kennen, sobald sie sich in die einzelnen quellennah gearbeiteten Beiträge vertiefen.
Freia Hoffmann hat gemeinsam mit ihren Mitarbeitern Annkathrin Babbe, Christiane Barlag, Kadja Grönke, Luisa Klaus, Volker Timmermann und Jannis Wichmann eine äußerst solide, materialreiche Dokumentation vorgelegt. Durch ihre Existenz ist es künftig nicht mehr so leicht möglich, über die Geschichte der Konservatorien oder auch nur eine der berücksichtigten Musikschulen mit Allgemeinplätzen hinwegzugehen, wie es bis heute immer noch geschieht. Durch die strenge, übersichtliche Gliederung des Werks wird erreicht, dass der ausgebreitete Stoff das Thema, etwa auch die angebotenen Studieninhalte, wirklich umgreift. Das lädt zum Vergleich ein, erleichtert die Nutzung und macht das Handbuch zu einem vorzüglichen Nachschlagewerk.
Dietmar Schenk
Berlin, 24.11.2024