Anatol Stefan Riemer: „Die Rheinnixen“ contra „Tristan und Isolde“ an der Wiener Hofoper [Andreas Vollberg]

Anatol Stefan Riemer: „Die Rheinnixen“ contra „Tristan und Isolde“ an der Wiener Hofoper. Studien zu Jacques Offenbachs Großer romantischer Oper aus dem Jahr 1864. – Baden-Baden: Tectum, 2020. – XIII, 277 S.: s/w-Abb., Notenbsp. (Frankfurter Wagner-Kontexte ; 3)
ISBN 978-3-8288-4538-1 : € 68,00 (geb.)

Was ab Mitte des 19. Jahrhunderts musikalisch Rang und Namen hatte, geriet gewollt oder ungewollt ins Spannungsfeld Richard Wagners. In einer noch recht jungen Publikationsreihe tut sich der Richard-Wagner-Verband Frankfurt am Main seit 2018 im Bannkreis des Bayreuther Meisters um, indem er hochwertige Forschungserträge zu seinerzeit einflussreichen, wissenschaftlich dagegen randständig behandelten Phänomenen durch Publikationsstipendien unterstützt. Gefordert ist der eindeutige Wagner-Kontext. Und so ist es mehr als legitim, wenn sich jene Frankfurter Wagner-Kontexte nach dem Strauss-Wagner-Mittelsmann Alexander Ritter und dem Violinisten August Wilhelmj einem vorderhand diametralen Wagner-Antipoden zuwenden: Jacques Offenbach (1819-1880). Auge in Auge gegenüber standen sich die beiden wohl nie. Aufführungshistorisch aber kreuzten sich ihre Wege, publizistisch sogar ihre Klingen. Befanden sie sich 1861 saisonal schon nahe beieinander, als zeitgleich Tannhäuser in Pariser Fassung und Offenbachs Ballett Le Papillon am Théâtre Impérial de l’Opéra über die Bühne gingen, platzte 1863 an der Wiener Hofoper die schon geprobte Uraufführung von Wagners Tristan wegen Überforderung des Tenors Alois Ander und räumte 1864 das Feld für eine singuläre Novität des Köln-Pariser Tausendsassas: die durchkomponierte Große romantische Oper Die Rheinnixen.
Deren großformatige, gegenüber Offenbachs heiterem Œuvre dichter und komplexer gearbeitete Struktur hatte Anatol Stefan Riemer motiviert, Offenbachs Kompositionstechnik, die bei den Gelehrten nach wie vor hinter Biographischem und Soziologischem zurücksteht, detaillierter und prinzipieller in den Blick zu nehmen – werkübergreifend und intertextuell. An der Essener Folkwang-Hochschule umfassend in Komposition ausgebildet und darin heute vielfältig aktiv, erhielt Riemer, Jahrgang 1970, zunächst ein Summa cum laude von der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main für eine kumulative Inauguraldissertation. Drei Einzelstudien daraus flossen in andere gewichtige Offenbach-Kompendien ein. Sie und zwei weitere bilden in überarbeiteter Form nun den analytischen Kern des vorliegenden Bandes. Diesen wiederum bereicherte Riemer durch zwei ergänzende Spezialuntersuchungen.
Deren erstere erbringt zunächst – abgesehen von Wagner-Affinitäten der Rheinnixen – die hieb- und stichfeste Zertifizierung Offenbachs als Akteur im Wagner-Kontext. So literatur- und quellenkundig wie allenthalben skizziert Riemer einleitend, wie Fachpresse und Exegeten die Koexistenz der so konträren Musikdramatiker kommentiert und gedeutet haben. Als da wären: der Vergleich zwischen Frauenbildern und Ausprägungen des Humors, Praxis und Provenienz der sprichwörtlichen Leit- und Erinnerungsmotivik. Exemplarisch wird Carl Dahlhaus zitiert mit den Hinweisen, wie Modelle der Grand Opéra bis in Wagners Spätwerk reichen und Aspekte ästhetischer Diskussionen Frankreichs ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts sein Konzept des Gesamtkunstwerks infiltrierten. Seine Leitmotivtechnik findet Vorläufer in der Opéra comique und in der Grand Opéra. Wurde jene für Offenbach die Domäne, die er weiterentwickeln und erneuern wollte, so setzt er sich mit dem großen Genre unironisch eben in den Rheinnixen und in der Bühnenmusik zu Victorien Sardous Drama La Haine auseinander. Obgleich nur sporadisch, befehdeten sich die Kontrahenten umso polemischer mit spitzer Feder, Offenbach zudem in einer sarkastischen musikalischen Parodie, Wagner in bekannt schockierenden antisemitischen und zynischen Polemiken: Nach demonstrativer Empathielosigkeit gegenüber den Juden unter den Todesopfern beim Brand des Wiener Ringtheaters 1881 vor einer Aufführung von Les Contes d’Hoffmann kann er gegenüber Felix Mottl 1882 immerhin konzedieren, dass Offenbach ein zweiter Mozart hätte werden können. Nach Rekonstruktion der ausführungstechnischen und personellen Probleme, die in Wien zur Absetzung des späteren Chef d’œuvre Tristan und Isolde zugunsten der Rheinnixen führten, stellt sich deren kolportierter Durchfall in der Rezeption zwar als Legende heraus. Dennoch: Wegen Indisposition des verhinderten Tristan Alois Ander ohnehin schon arg verstümmelt, hatte die Uraufführung wenig Nachfolge. Vollständig erklingt der Vierakter erstmals 2002 konzertant, in Szene 2005.
Die im Gros aus Riemers Dissertation adaptierten Ausführungen verlassen themengemäß die Wagner-Thematik im engeren Sinne, gelangen von der Entstehungsgeschichte gleichwohl schlüssig zur Werkerörterung. Auch verläuft der Weg zur Essenz von Offenbachs Kompositionstechnik via Rheinnixen freilich nicht ohne Bestandsaufnahme und methodischen Kompass. Hierbei ist, wie schon die Inhaltsübersicht verrät, nicht das chronologische Abtasten der Partitur der Schlüssel zur Erkenntnis. Vielmehr gilt es – und hier bewies Riemer eine glückliche Hand – wohlüberlegt zu selektieren. Die Spurensuche „Zur Analyse von Offenbachs Musik“ beginnt mit dem zwar geläufigen, hier anhand Rheinnixen und Gattungsvorbildern indes bestärkten Diktum, „dass eine systematische Beschäftigung der Musikwissenschaft mit der Kompositionstechnik Offenbachs bislang nicht stattgefunden hat.“ (S. 42) Gerechtigkeit widerfährt im differenziert gewichtenden Literaturüberblick gleichwohl denjenigen Offenbach-Biographen und -Deutern, die in punktuellen Ansätzen manch nicht zu übergehende Vorarbeit geleistet haben. Im Sinne exponierter Gewährsleute verpflichtet Riemer sein methodisches Vorgehen auf den integrativen Ansatz, der laut Carl Dahlhaus wörtlich „sowohl im musikalischen als auch sprachlichen Text einer Oper diejenigen Momente zu entdecken und zu akzentuieren“ sucht, „die für die Struktur des Werkes als Drama und Theaterereignis konstitutiv sind.“ (S. 51) Mehr noch: Wie Jürgen Maehder für die Befassung mit Verdi und Wagner postulierte, gilt es unideologisch „durch Analyse und Interpretation auf dem Reflexionsniveau zeitgenössischen Denkens neue Horizonte des Verstehens zu gewinnen“ (S. 53) und dabei – so Riemer selbst – „die Betrachtung textlicher und musikalischer Parameter immer wieder neu zu justieren und aufeinander abzustimmen.“ (S. 52)
Und wie funktioniert’s? Zum Standardwerk Musiktheater als Gesellschaftssatire des großen Offenbach-Experten Peter Hawig beigesteuert hatte Riemer 2018 seine faszinierend sondierte Durchleuchtung der Erinnerungsmotivik in den Offenbachiaden im Vergleich zu den Rheinnixen – hier Studie I. Elfenlied (nachmals Barcarolle in Les Contes d’Hoffmann), Ballade, Vaterlandslied, Walzerthema (zuvor: Valse de rayons in Le Papillon) und Soldatenmotive formieren ein raffiniert verflochtenes thematisches und semantisches Rückgrat, aus dem Offenbach nachweislich über konventionelle Erinnerungsthematik hinaus in hoher Dichte „differenzierte, auf den jeweiligen musikalisch-dramatischen Zusammenhang abgestimmte Verfahren“ (S. 152) generiert. Mögen die aus den Offenbachiaden von Orphée aux Enfers über L’île de Tulipatan bis La Grande-Duchesse de Gérolstein zum Vergleich herangezogenen Phänomene unverkennbar deren parodistischen Stachel bedienen, „so sind die Unterschiede“ zu den ironiefreien Rheinnixen „in der Anwendung beziehungsstiftender Verfahren nur gradueller und nicht grundsätzlicher Natur; die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen überwiegen bei weitem.“ (S. 133)
In der von Charles Nuitter französisch verfassten, von Alfred von Wolzogen für Wien ins Deutsche übertragenen Handlung kommt ein privates Liebesdrama zur Zeit der Ritterkriege im Jahr 1522 dank Hilfe der titelgebenden Rheinnixen (faktisch Elfen) gegen feindliche Landsknechte zu einem glücklichen Ende, aus dem pazifistisch die Sehnsucht nach einem blühenden deutschen Vaterland im Sinne eines befriedeten Kulturraums spricht. Das bietet Raum für Genreszenen und widerstreitende, nach dramaturgischem Erfordernis subtil vernetzte Sphären, die sich markant auch in der Chorbehandlung spiegeln. Laut Resümee von Studie II lässt sich daran der „für die Große romantische Oper signifikante Rückgriff auf verschiedene Gattungstraditionen (…) mit der Verwendung von Elementen der Opéra comique, der Féerie, der deutschen romantischen Oper sowie der Grand Opéra“ beweiskräftig „nachverfolgen.“ (S. 165)
Repräsentativ für den elementaren Aspekt der Rollentypologie wählt Riemer in Studie III die Gruppe der Bösewichter aus Offenbachs Personaltableau, das laut Riemer jede erdenkliche Spielart der italienischen und französischen Operntradition umfasst. Obwohl terminologisch und hermeneutisch auch hier eher an den theoriekundigen Feinschmecker adressiert, besticht der logisch aufgebaute und planmäßige Zugriff, der eine verständnisfördernde Balance zwischen Gegenstand, analytischer Durchdringung und Schlussfolgerung garantiert. So stehen neben der konsequent pejorativen Zeichnung der Rheinnixen-Soldaten die als pseudorealistisch entlarvte Karikatur Barbe-Bleue und die ungemein mehrschichtig angelegten Schurkengestalten der Contes d’Hoffmann. Außerhalb der Dissertation, doch erstveröffentlicht in den Bad Emser Heften, spürt Studie IV „Parodie und Wahrhaftigkeit“ nach und ortet „bereits auf der Materialebene das dialektische Wechselspiel“ (S. 238), das sich dem Hörer auf Anhieb nur intuitiv erschließen dürfte: vielerlei kompositorisch-dramaturgische Mechanismen, mit denen Offenbach das „Ernste im Komischen“ wie auch das „Komische im Ernsten“ codiert.
Was man nach Resümee und Ausblick, gefolgt von Quellen und Literatur, vermisst: ein Personenverzeichnis. Dessen ungeachtet: Akklamation zum Summa cum laude!

Andreas Vollberg
Köln, 19.01.2021

 

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