Peter Hawig und Anatol Stefan Riemer: Musiktheater als Gesellschaftssatire. Die Offenbachiaden und ihr Kontext. – Fernwald: Muth, 2018. – 565 S.: Notenbsp., Tab. (Forum Musikwissenschaft ; 6 / Jacques-Offenbach-Studien ; 6)
ISBN 978-3-929379-46-4 : € 68,00 (kart.)
Beim Blick aufs Cover läuft man zunächst Gefahr, einen Aufguss altbekannter Diskussionen zu befürchten: Gesellschaftssatire auf das Second Empire in den Bühnenerfolgen Jacques Offenbachs (1819-1880), auf 565 Seiten pflichtschuldig rekapituliert zum 200. Geburtstag des Kölner Wahlparisers. Und die Meldung des Untertitels, über die Offenbachiaden und ihren Kontext zu berichten, lässt nicht a priori Breaking News erwarten. Nach einer schon überraschenden Durchsicht des Inhalts aber zieht die Themensetzung schlagartig in Bann. Dann katapultiert uns die Lektüre in einen Kosmos der Offenbach-Kenntnis und –Deutung, die in Sachgehalt und Informationsdichte, nicht weniger in der Individualität ihrer sprachlich-literarischen Präsentationsform, verbunden mit höchst persönlicher Stellungnahme, konkurrenzlos dastehen dürfte. Völlig unverhofft kommt dieser Befund letztlich doch wieder nicht. Schließlich zeichnet mit dem Germanisten und zu Napoleon III. promovierten Historiker Peter Hawig, Jahrgang 1957, einer der aktuell renommiertesten Offenbach-Spezialisten als Hauptautor verantwortlich. Und entsprechend leistet er hier alles andere als die erneute Paraphrase von Gemeinplätzen um die – es widerspreche, wer will – „neben Wagner und Verdi bedeutendste musikdramatische Potenz der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (S.16).
Klarheit zur Begrifflichkeit der genuinen „Offenbachiade“ schafft ein feststehendes Arsenal an stofflichen, motivischen und musikalischen Grundelementen. So ist es nicht das Gros der über 100 überwiegend heiteren Bühnenwerke, die unter „Offenbachiade“ rubriziert werden, geschweige denn die rückschauend der Operette zugerechneten, sondern eine Gruppe von nicht mehr als 13 Kreationen innerhalb einer reichen Palette der Spielarten und fließenden Übergänge im komischen Musiktheater à la française. Diese übergreifend und im Einzelfall zu definieren, zu exemplifizieren, genre- und kulturgeschichtlich einzuordnen sowie die „übergeordneten Diskursthemen und die verschiedenen Ebenen der Rezeption“ (S. 13) aufzuarbeiten, ist an und für sich kein innovatives Schema. Die hier praktizierte Umsetzung und ihr Erkenntnisgewinn sind es umso mehr. Den „Wegmarken des Genres“ entlang geht es in Kapitel 1. Dabei flankieren politisch-zeitgeschichtliche „Rahmen“ I bis IV, sprich die auf das Genre abfärbenden Entwicklungsschritte von Napoleons III. Zweitem Kaiserreich, Werden und Blühen des Offenbachiaden-Idioms. Erstmalig ausgeprägt in einer Mischung aus Buffonesker Oper und Spieloper, und zwar dem Ende 1855 an den Bouffes-Parisiens aus der Taufe gehobenen Ba-Ta-Clan, liegen die Essentials der Offenbachiade für Hawig konkret auf der Hand: Bezug zur Aktualität, Verkleidung des Aktuellen in verfremdende Stoffe, Ironisierung musikalischer und literarischer Versatzstücke, Satire auf den Kaiserstaat, eine gefühlsbetonte und ernst gemeinte Gegenwelt zum Parodierten, Hommage an den Dreiklang Wein/Tanz/Eros, direkte oder indirekte Paris-Assoziation, musikalischer Esprit in klassischem Format mit Kunstfertigkeit des scheinbar Einfachen.
Imponierend schon im Erörtern der Basics, geizt Hawig nicht mit einem Feuerwerk der wissenschaftsfeuilletonistischen Formulierungskunst, rhetorischen Brillanz und Bildkraft, die vor allem dem fachlichen Interessenten einen Lesegenuss nach dem anderen kredenzt. So inspiriert Alexander Flores‘ Metapher eines „Spiralnebels“, bezogen auf die Genese der Offenbachiade aus einer Einakterkonjunktur ab 1855, zu der Vorstellung, „wie aus der Urmasse der im Raum sich stoßenden und kreuzenden Stile schließlich die späteren Großobjekte sich zusammenballen, in denen die kleineren Objekte als Urteilchen nachweisbar sind.“ (S. 32) Auch in sachlicheren Kernbefunden lassen Wort- und Variantenreichtum nicht nach: „Im Kontext des Regimes kommt den Offenbachiaden eine seismographische Funktion zu (…). Allüberall bröckelt es. Die aufgezeigten politischen Abgründe gehen hauptsächlich auf Ludovic Halévy“, Offenbachs Hauptlibrettist neben Henri Meilhac, „zurück (…). Offenbach dagegen hatte von Politik keine Ahnung (…).“ (S. 44)
Für die intellektuelle Redlichkeit des Aussageideals spricht die unumgängliche Praxis, zu vielen Aspekten die anerkannten Vorarbeiten musikologischer Gewährsleute und Experten, ja verschiedenartige Spezialstudien aus eigener Feder zu Rate zu ziehen, ferner ausgiebig zeitgenössische und essayistische Quellen zu zitieren. Evident profitiert hier das Folgekapitel, das unter dem Attribut „Gesamtkunstwerk“ die musikalischen, textlichen und dramaturgischen Konstituenten summarisch überblickt. Karl Kraus, Grandseigneur der posthumen Offenbach-Verfechter, kristallisiert sich auch nachfolgend als Impulsgeber für entscheidende Schlussfolgerungen heraus. So lässt Hawig den österreichischen „Fackel“-Satiriker „jene eigentümliche Doppelzüngigkeit der Offenbach’schen Musik“ (S. 61) bezeugen. Und im O-Ton gibt er ihn wieder, wenn es gilt, ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Verständnis Offenbachs als M u s i k d r a m a t i k e r zu artikulieren, bei dem Textliches nicht vom Musikalischen zu trennen ist: „Wer Offenbach textlich verhunzt, verhunzt ihn musikalisch, selbst wenn er keinen Takt verändert.“ (S. 59)
Auf den ultimativen Höhenkamm mit nahezu 230 Seiten (!), intendiert als „Konkretisierung“, aber führt Kapitel 3: Werkmonographien für alle 13 Offenbachiaden von 1855-1869. Erklärtermaßen bilden die vier Basiselemente Werkentstehung, Uraufführung, Rezeption und Stellenwert ein obligatorisches Grundgerüst. Umso vielfältiger verschieben sich dagegen die Schwerpunkte, ergeben sich überraschende analytische Blickwinkel aus werkgeschichtlichen oder werkimmanenten Besonderheiten (ergiebig: Umarbeitungen und Mehrfachfassungen). Kaleidoskopisch variieren Hawigs Stillagen von philologischer Fachdiktion über Reportagemomente mit szenischen Einstiegen plus zyklischer Rundung bis hin zu den Polen zwischen schwärmerischer Eloge und bissig glossierender Spitze gegen Ignoranz und Versäumnisse seitens Kulturverantwortlicher (Philippika an Baden-Baden!). Besonderes Augenmerk gilt einigen gegenüber Orphée aux Enfers, La Belle Hélène, La Vie parisienne oder La Grande-Duchesse de Gérolstein eher spärlich anzutreffenden Nachbarwerken wie Geneviève de Brabant und Le Pont des Soupirs – einem Lieblingsstück Hawigs seit je, zumal es eine Quintessenz der Offenbachiaden insgesamt ventiliert: „sehr vielschichtige Kunstwerke: in ihrem inneren – librettistischen wie musikalischen – Aufbau und der Wechselwirkung beider Faktoren, in der Mehrschichtigkeit ihrer Anspielungsebenen (…), in ihrem Wechselspiel von Negation und Affirmation, (…) von satirischer Angriffslust und lyrischen Fluchtpunkten, in ihrer Art der Teilhabe am kulturellen und politischen Diskurs der Zeit.“ (S.155) Blinde Kritiklosigkeit indes ist nicht angesagt. Und so staunt man nicht schlecht, wie Hawig die musikalische Dramaturgie von Le Château à Toto am Gang der Handlung völlig neu simuliert, um zu zeigen, „wie der offensichtlich unausgereifte Wurf von Meilhac und Halévy zu einer vollgültigen opéra-bouffe hätte werden können“ (S. 234).
Mehrdeutigkeit und Polyvalenz umwehen auch die kulturgeschichtliche Stellung der Offenbachiade im entstehungszeitlichen politisch-gesellschaftlichen Gefüge, dessen Diskurse Kapitel 4 mit einem „Blick auf die Welt“ illuminiert. Aus historischer Perspektive, dabei hochdifferenziert, besorgen dies Unterkapitel wie „Politik, Krieg und Geld“ oder „Gesellschaft und Moral, Rausch und Erotik“, von ästhetischer Warte aus die Komplexe „Frauenbild und Inversion“, „Verkleidung und Maskierung“, „Traum und Tod“ oder das „Hoffmanneske“ eben nicht nur in Offenbachs größter Oper – geballte Substanz, aus der hier repräsentativ jenes Fazit herausgegriffen sei, das die Offenbachiade als „hybride Gattung (…) in ihrer Zwitterstellung zwischen der Hochkultur der Opéra-Comique und der Massenkultur des café-concert“ klassifiziert – „Stabilisator des Systems und zugleich dessen respektlose Entlarvung.“ (S. 313)
Behandelt Hawig musikalische Kriterien eher umschreibend und integral im werkgeschichtlich-dramaturgischen Koordinatensystem, so delegiert er einen analytischen Exkurs (Kapitel 5) im engeren Sinne zu Händen des Musikwissenschaftlers und als Komponist produktiven, an der Essener Folkwang-Hochschule examinierten Anatol Stefan Riemer, Jahrgang 1970. Messerscharfe Blicke in melodische, harmonische und satztechnische Tiefendimensionen, wie sie auf solchem Niveau seltenst in Sachen Offenbach bemüht wurden, sezieren die Erinnerungsmotivik in den Offenbachiaden einerseits und in der großen romantischen Oper Die Rheinnixen andererseits. In beiden Sphären ist das Spektrum unvermutet buntscheckig: von einfacher Erinnerungsthematik bis zu Klangchiffren für Barbe-Bleue und harmonischen Färbungen in La Princesse de Trébizonde. Widerlegt zeigt sich die These von strikter Trennung in Leicht und Ernst, da die Unterschiede „in der Anwendung beziehungsstiftender Verfahren nur gradueller und nicht grundsätzlicher Natur“ (S. 441) sind.
In Kapitel 6 zu Rezeption und Nachleben akzentuiert Hawig die Faktoren Publikum und Vermarktung. Waren doch die Offenbachschen Produktionen in einem zwangsläufig kommerziellen, da nicht subventionierten Theaterbetrieb angesiedelt. Drei „Post-Offenbachiaden“, in denen Spuren der Reinform nachwirken, stehen für eine Zeit, die Offenbach infolge des Deutsch-Französischen Kriegs einen Paradigmenwechsel weg vom Satirischen zurück zur gefühligeren Opéra-comique abverlangte. Und mit Blick auf die Entschärfung des Genres Operette andernorts kann Hawig der Offenbachiade attestieren, dass sie in Frankreichs Operette „eher als eine Art Sauerteig“ einging, „der immerhin eine Sentimentalisierung wie in Wien verhinderte.“ (S. 487)
Auf ein umfängliches Literaturverzeichnis folgen detaillierte Anhänge mit Hintergründen, Daten und Fakten zu Vita, Werken und Librettisten sowie – nicht der Regelfall – Librettisten, Theatern, Originalbesetzungen und Quellen.
Epilog der Rezension: Reverenz, Respekt, Chapeau!
Andreas Vollberg
Köln, 23.04.2019