Jean-Michel Nectoux: Gabriel Fauré – Catalogue des œuvres. Catalogue of works. Werkverzeichnis [Rüdiger Albrecht]. –

Jean-Michel Nectoux: Gabriel Fauré – Catalogue des œuvres. Catalogue of works. Werkverzeichnis. – Kassel [u.a.]: Bärenreiter, 2018. – 496 S.: s/w-Abb, Notenbsp. (Gabriel Fauré. Œuvres Complètes VII  1)
ISBN 978-3-7618-2229-6 : € 249,00 (geb.) [Preisermäßigung bei Subskr.]

Die Behauptung – und kaum ein Musikfreund wird ihr widersprechen –, Gabriel Fauré sei einer der bedeutenden Komponisten Frankreichs der zweiten Hälfte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, steht seltsam quer zu der Stellung von Faurés Musik im heutigen Musikleben. Den unangefochtenen Rang Claude Debussys, des „Musicien français“, wie dieser sich selbst titulierte oder den seines Schülers Maurice Ravel konnte Fauré nie erringen. Im Konzertsaal begegnet man Faurés Musik häufig ohne Ankündigung im Programmheft, nämlich immer dann, wenn Geiger oder Cellisten das ausgedruckte Programm beendet haben und mit Zugaben wie der Sicilienne op. 78, der Berceuse op. 16, der Élégie op. 24, der Romance op. 28 oder dem Papillon op. 77 ihr Publikum bezaubern. Fester Bestandteil des Kammermusikrepertoires sind gegenwärtig frühe Werke wie die erste Violinsonate und die zwei Klavierquartette; auch die jeweils zwei Cellosonaten und Klavierquintette sind häufiger zu hören, neuerdings auch das Streichquartett op. 121, Faurés letztes Werk. Doch das bekannteste Werk des Komponisten dürfte in hiesigen Konzertsälen die Messe de Requiem sein. Dass das Requiem ausgerechnet auf die Schilderung des Jüngsten Gerichts verzichtet, mag auf den ersten Blick verwundern: Faurés musikalische Sprache scheint gewisse Ausdrucksbereiche zu meiden; in mancherlei Hinsicht mag man ihn als einen Gegenpol zu jenem französischen Modernisten sehen, der die musikalische Romantik in Frankreich auf einem ersten Höhepunkt hingeführt hat, zu Hector Berlioz.
Auf dem Gebiet der Musikliteratur sieht es ähnlich düster aus: Nur sehr wenige Bücher über Gabriel Faurés Leben und Werk sind in deutscher Sprache erschienen, in den gängigen Komponistenreihen (RoRoRo Bildmonographien, Musik-Konzepte, Große Komponisten und ihre Zeit) sucht man ihn vergebens.
Es ist das Verdienst des französischen Musikwissenschaftlers Jean-Michel Nectoux, dass sich die öffentliche Wahrnehmung Faurés im Musikleben seit einigen Jahren spürbar (und hoffentlich nachhaltig) zu ändern beginnt. Zeitlebens hat sich Nectoux mit Fauré beschäftigt und veröffentlicht nun nach und nach die Erträge seiner Forschung. Seine Fauré-Biografie “Seine Musik. Sein Leben”, die 2013 in deutscher Sprache erschienen ist, war in erster Auflage bereits 1990 in Frankreich veröffentlicht worden. Und seit 2010 erscheint, wiederum im Bärenreiter-Verlag, mit Unterstützung des französischen Kulturministeriums und der Stiftung Francis et Mica Salabert sowie des Palazzetto Bru Zane, die Gesamtausgabe der musikalischen Werke Gabriel Faurés (Gabriel Fauré, Œuvres Complètes), von der bereits vier Bände (von insgesamt voraussichtlich 28 bis 30 Bänden) erschienen sind. Als Volume 1 der „Série VII. Érudition“ (Supplement) ist nun das vorliegende Werkverzeichnis erschienen. Es soll nicht nur dem an Fauré Interessierten verlässliche Angaben zur Verfügung stellen; auch der im Entstehen begriffenen Gesamtausgabe soll es als Grundlage dienen.
Mehrfach hat Nectoux, zuletzt in Seine Musik. Sein Leben, Werkverzeichnisse bzw. Werklisten von Faurés Musik erstellt. Für das vorliegende, nun gültige Werkverzeichnis hat Nectoux eine neue Systematik ausgearbeitet, die die chronologische Ordnung mit einer Gliederung nach Verlagsnummern, d.h. den Opuszahlen ineinander verschränkt (die chronologische Ordnung birgt stets die Gefahr, durch neue Funde und Erkenntnisse überholt zu werden; im Köchel-Katalog etwa mussten etliche Werke umgesetzt werden, die daher zwei Köchelnummern tragen: Köchel alt und Köchel neu). Mehrere Werkverzeichnisse, auch solche der letzten 20 Jahre, wie die zu Beethoven, Brahms oder Schumann, orientieren sich, sofern die Werknummern in etwa der Entstehungsreihenfolge entsprechen, an den Opuszahlen – die posthumen Opera bilden dann einen zweiten Teil. In Fällen, wo die Werknummerierung keine Hilfe darstellt, weil sie nicht der Chronologie der Werkentstehung entspricht, bietet es sich an, eine eigene Nummerierung einzuführen. Nectoux hat sich für eine Gliederung auf zwei Ebenen entschieden: Auf einer ersten Ebene sind alle Werke mit Opusnummern nacheinander aufgeführt. In diese feste Ordnung hat Nectoux, als eine zweite Ebene, alle Werke ohne Opusnummer eingefügt. Nach welchem Prinzip hier Nectoux vorgegangen ist, ist auf den ersten Blick nicht ganz ersichtlich, so ist etwa die Motette Tu es Petrus (N 28) zwischen die Lieder op. 5 Nr. 1 (N 27) und Nr. 2 (N 29) eingereiht, obwohl das zweite Lied etwa acht Jahre vor der Motette entstanden ist. Eine streng chronologische Ordnung wäre bei Fauré freilich zum Scheitern verurteilt gewesen, weil die Datierungen häufig unsicher sind und Schwankungsbreiten von bis zu zehn Jahren aufweisen können (allerdings ist das Werkverzeichnis in der Biografie Seine Musik. Sein Leben der Versuch einer Chronologie). Das Datierungsproblem zeigt ein wesentliches Schaffensprinzip des Komponisten auf: Fauré schreitet nicht in linearer Folge von Werk zu Werk voran, das er jeweils abschließt und freigibt. Vielmehr spielt sich der Schaffensprozess als steter Rückgriff auf einen riesigen mehr oder weniger offenen Materialfundus ab, in welchem der Komponist durch horizontale und vertikale Fortschreibungen (innerhalb der Gattungen bzw. der Zeitachse) ein komplexes Beziehungsnetz erschafft: die 13 Barcarolles für Klavier beispielsweise sind innerhalb von 40 Jahren, zwischen 1881 und 1921, entstanden.
Das Ordnungsprinzip des neuen Werkverzeichnisses hat den immensen Vorteil, dass der Benutzer alle Werke mit Opusnummern schnell findet – und alle anderen Werke über einen der Indizes im Anhang des Buches. Für eine eindeutige Identifizierung hat Nectoux jedem Werk eine N-Nummer (N für Nectoux) zugeteilt. Im Falle von Sammlungen, z.B. Liederheften, werden die Ordnungsnummern unterteilt; jedes einzelne Lied erhält eine mit Punkt nachgestellte Ziffer (La Bonne Chanson, ein Zyklus von neun Liedern trägt die Einzelnummern N 119.1 bis N 119.9). Mehrere Fassungen eines Werkes, sofern sie vom Komponisten stammen, sind durch einen nachgestellten Buchstaben kenntlich gemacht (N 119a bzw. N 119b für zwei unterschiedlich besetzte Fassungen). Sofern sich die Opuszahlen eingebürgert haben, dauert es erfahrungsgemäß länger, bis sich solche neu eingeführten Nummernkürzel durchsetzen. (Im neuen Werkverzeichnis zu Mendelssohn etwa wurden alle Werksammlungen, die unter einer Opusnummer zusammengefasst sind, auseinandergenommen und die Einzeltitel an die chronologisch richtige Stelle gesetzt. Bei der Suche ist man folglich (leider) auf Register und Konkordanzlisten angewiesen). Im Falle Faurés zählt jedoch ein anderer Aspekt, denn das Werkverzeichnis ist ja Bestandteil der Gesamtausgabe: Die Nummern sind eine eindeutige Zuordnungs- und Verständigungshilfe für die wissenschaftliche Arbeit.
Jeder Eintrag in Nectoux Arbeit ist nicht nur mit einem Incipit versehen, sondern mit zahlreichen Informationen zu Werkentstehung, den ersten Publikationen, Aufführungen, Nachweisen in der Literatur bis hin zu Verkaufszahlen einzelner Auflagen, soweit das bekannt ist (zahlreiche Archivbestände heute nicht mehr existierender Verlage landeten auf dem Müll) und vielem mehr. In etlichen Fällen schließt der Eintrag mit Anmerkungen zur Werkgenese. Eine große Hilfe sind die Register im Anhang. Neben einer Auswahlbibliografie, die, dem Zweck angemessen, deutlich schmaler ist als die umfassende Bibliografie in Seine Musik, sein Leben, finden sich Abkürzungsübersichten. Auf das Verzeichnis der „offiziellen“ Kompositionen Faurés folgen Verzeichnisse seiner pädagogischen Werke,  der Klavierauszüge und Transkriptionen fremder Werke (fast ausschließlich französischer Komponisten), von Übungsheften, autorisierten Werksammlungen in Publikationen zu Lebenszeit und den Zeugnissen seiner Herausgebertätigkeit (die sich in der Hauptsache auf Bachsche Orgelwerke und Schumannsche Klavierwerke konzentrierte). Der Anhang des Werkverzeichnisses bietet mehrere nützliche Indizes: ein alphabetisches Titelverzeichnis, Textanfänge, eine systematische, nach Gattungen gegliederte Werkliste, Verzeichnisse von – wiederum durchwegs französischen – Textdichtern, Übersetzern und Librettisten, (hauptsächlich französischen) Widmungsträgern sowie ein allgemeines Namensverzeichnis.
Im Vorwort erläutert Nectoux, wie er als junger, von der Musik Faurés begeisterter Musikwissenschaftler die Nachkommen des Komponisten ausfindig machen und besuchen konnte. Er beschreibt, wie sehr ihn die Musik Faurés in den Bann gezogen hat. Und doch mag er sich eines differenzierten Blickes auf Faurés Werk nicht enthalten: Steht nach seiner Meinung die Kammermusik an erster Stelle im Schaffen Faurés, so fallen etwa die sinfonischen Werke aus seiner Sicht deutlich ab. Auch die Gattung des Klavierliedes enthielten neben Meisterwerken auch einige belanglose Gelegenheitswerke.
Das Buch ist in französischer Sprache verfasst, das Vorwort zusätzlich in englischer und deutscher Übersetzung. Ein dreisprachiges Glossar wichtiger Begriffe erleichtert dem in französischer Sprache nicht sattelfesten Benutzer die Lektüre.
Nectoux und dem Bärenreiter-Verlag ist mit dem Fauré-Werkverzeichnis eine bedeutende Leistung gelungen, die nicht nur der Forschung eine gültige und zuverlässige Arbeitsgrundlage an die Hand gibt, sondern auch der musikalischen Praxis und allen sonst an Fauré Interessierten. Bleibt zu wünschen, dass die Verbreitung der Musik Gabriel Faurés dank dieses neuen Standardwerkes einen Auftrieb erfährt, sie verdient es.
Inhaltsverzeichnis

Rüdiger Albrecht
Berlin, 28.04.2019

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