Franz Grothe / Hrsg. von Theresa Henkel und Franzpeter Messmer [Andreas Vollberg]

Franz Grothe / Hrsg. von Theresa Henkel und Franzpeter Messmer. – München: Allitera, 2019. – 163 S.: s/w-Abb., Notenbsp. (Komponisten in Bayern ; 64)
ISBN 978-3-96233-115-3 : € 19,90 (brosch.)

Seinen Essay Mister Evergreen vom Tegernsee stellte Maurus Pacher 2008 unter die desillusionierende Überschrift Auf den Flügeln realer Träume. Grund war die Wiederverwendung als biographischer Einführungstext zum neu aufgelegten Werkverzeichnis des populären Unterhaltungs- und Filmmusik-Komponisten Franz Grothe (1908-1982) im Verlag Allitera. Diesem verdienstvollen und akribisch erarbeiteten Nachschlagewerk stellt Allitera nun ein musik- und geschichtswissenschaftliches Pendant mit intellektuellem Tiefgang und historisch-kritischem Anspruch zur Seite: Band 64 der Reihe Komponisten in Bayern, die man 2014 ab Band 57 vom Tutzinger Verlag Schneider übernahm und die der weiterhin herausgebende Tonkünstlerverband Bayern e. V. erstmalig auch den profilierteren Vertretern der Popularmusik öffnen möchte – ästhetisch, kulturgeschichtlich, psychosoziologisch, politisch dringend geboten.
Ihrerseits wortgetreu nach dem Filmhit Auf den Flügeln bunter Träume überschreiben Lutz Fahrenkrog-Petersen und Melanie Kühn den intensiv recherchierten und quellenbezogenen Basisartikel zu Vita und Entwicklung des Schaffens. Bekanntes, oft anekdotisch Verbrämtes profitiert hier vielerorts von neuen Blickwinkeln, terminologischer Auffrischung und vergleichender Neubewertung. So hat es der in Berlin-Treptow geborene Kaufmannssohn dank klassischer Ausbildung mit 13 Jahren zum Geigen-Wunder gebracht, bis beim Fünf-Uhr-Tee der zündende Funke des Jazz auf ihn überspringt – eines Idioms, das sich hier „kaum von der Salon-Tanzmusik der Kaiserzeit oder von den beschwingten neuen Tanzmusiken der aufkommenden Grammofon-Schlager“ (S. 12) unterscheidet. Im Orchester von Dajos Béla perfektioniert er seine Fertigkeiten, ob als Pianist, Arrangeur oder kompositorisch mit Jazz-Rhapsodien und ersten Erfolgsnummern. Zur Domäne wird das neue Medium Tonfilm, flankiert von Schallplattenaufnahmen, dem eigenen Verlag, aber auch Verlusten jüdischer Mitarbeiter im Arisierungswahn der NS-Politik und einem Fiasko in Hollywood infolge unglücklicher Umstände und Produktionsbedingungen. Zurück in Europa komponiert Grothe Meisterstücke wie die Musik zu Curt Goetz‘ Napoleon ist an allem schuld, triumphiert mit farbenreichen Partituren zu Revuefilmen auf einem Spitzenplatz der Vorkriegsära. Offen schauen die Biographen und weitere Co-Autoren dem neuralgischsten Faktum ins Visier: Grothes aktenkundiger NSDAP-Mitgliedschaft ab 1. Mai 1933. Zweierlei Sprache sprechen die sensibel abgewogenen Tatsachen: Grothe diente künstlerisch dem Goebbelsschen Propagandasystem, agierte führend in Funk und Reichsmusikkammer und produzierte mit dem staatlichen Deutschen Tanz- und Unterhaltungsorchester eine legalisierte, weil moderate Form des beim Regime verpönten Swing, bestritt jedoch im Zuge eines nachmals langwierigen Entnazifizierungsverfahrens konsequent jegliches Wissen um seine Parteiregistrierung. Umgekehrt hatte er es gewagt, jüdische Mitarbeiter zu beschäftigen, war wegen jüdischer Kontakte denunziert worden und erhielt vehemente Kollegenfürsprache gegenüber den Alliierten, die ihn schließlich als „Mitläufer“ einstuften. Fazit der Autoren: Ob Grothe „tatsächlich nichts von der Mitgliedschaft gewusst haben kann oder ob ihn jemand Drittes“ – sein Cousin und Haupttexter Willy Dehmel dürfte ausscheiden – „angemeldet hat, ist kaum noch zu klären.“ (S. 26) „Komponist in Bayern“ seit den Vierzigern, bietet sein Leben mit Domizil am Tegernsee manchen Stoff auch für Persönliches zu Tagesablauf und Familienverhältnissen. Längst hat er in der Wirtschaftswunder-Filmbranche seinen Erfolgskurs revitalisiert, resigniert in den Sechzigern vor den Stilwandeln des deutschen Kinofilms und springt über auf den finanziell über solidere Gleise steuernden Zug des Fernsehens. Das Massenpublikum kennt ihn ab 1965 als Stabführer bei Heinz Schenks Zum Blauen Bock und registriert erschütternd seinen plötzlichen Tod 1982 in Köln nach einem Zusammenbruch während eines WDR-Porträtkonzerts.
Dessen damaliger Produzent Harald Banter und sein Komponistenkollege Klaus Wüsthoff heben in persönlich erinnernden Interviews mit GEMA-Direktor Jürgen Brandhorst Grothes Universalität hervor. Kommt Ex-GEMA-Vize Michael Karbaum nach freundschaftlichem Rückblick auf Grothes GEMA-Aufsichtsratsvorsitz zu einer ebenfalls pointierten Charakteristik, beschreibt Brandhorst beeindruckend ungeschönt die der Förderung von Musikschaffenden und dem objektiv forschenden Andenken des Initiators dienenden Aufgaben der Grothe-Stiftung. Den Bestand des Berliner Grothe-Archivs und sein Potential für Wissenschaft, Repertoire und Musikpraxis erschließt dessen Betreuer Alexander Schatte.
Zuvor entreißt Alexander Hess Grothes erste Ehefrau, die Norwegerin Kirsten Heiberg (Heirat 1938), dem schmerzlich berührenden Vergessen. Faszinierende Darstellerin und kongeniale Liedinterpretin, war Heiberg, so Hess‘ Fazit, auch aus Liebe zu Franz „zur falschen Zeit am falschen Ort.“ (S. 53).
Ein Quartett von werkanalytischen Arbeiten, die Grothes vermeintlich leichter Muse mit gleichem Respekt und wissenschaftlichem Ernst begegnen wie den Denkmälern der Hochkultur, eröffnet Michael Braun exzellent mit einer nach Genres (Historienfilm, Komödie, Revue, Bearbeitung fremder Vorlagen) gruppierten und klug an den kulturpolitischen Direktiven abgeglichenen Studie zu Grothes Filmmusiken im NS-Deutschland. Erstaunlich: Dürftige Musikalisierungen reiner Propagandafilme oder doppeldeutige Durchhalteschlager könnten versteckte Subversion andeuten. Die Intention von Filmmusik als integraler Teil eines Ganzen, musikalische Parameter des Atmosphärischen und produktionspraktische Aspekte (Mitarbeit von Arrangeuren u.a.) macht Roland Mörchen am Schaffen nach 1945 konkret. Tief in den Notentext der unvergessenen Räuberkomödie Das Wirtshaus im Spessart dringt Kay Westermann. Ihm gleich im Durchleuchten der innermusikalischen Dimensionen und Parameter (Melodie, Harmonie, Rhythmus, Wort-Ton-Verhältnis, Instrumentation) tut es mit Bravour Mechthild von Schoenebeck. Unter dem Zuspruch Wenn ein junger Mann kommt, der fühlt, worauf’s ankommt stellt sie diesen und sieben weitere Topnummern auf den Prüfstand. Überzeugender Befund: charakteristische Stilmerkmale (u.a. Vertreterklänge, jazztypische Akkordprogressionen vs. Singstimme ohne Jazzeinschlag), eine Melodien-Typologie, ästhetisch fallweise eine „Gratwanderung zwischen Schlager und Jazz, zwischen Anpassung und Distanz, zwischen Unterhaltung und Kunst.“ (S. 147) Zu verifizieren bliebe noch, inwieweit die besprochenen Arrangements und Schallaufnahmen Grothes eigene Handschrift oder die der Kollegen tragen.
Abschließend ein Themendesiderat für bereicherte Neuauflagen: Bühnenwerke, Fernsehen (Fiktion und Show), gehobene Unterhaltungsmusik.

Andreas Vollberg
Köln, 04.05.2019

Dieser Beitrag wurde unter Filmmusik, Grothe, Franz (1908-1982), Komponist, Rezension abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.