Michael Spors: Formale Konzepte der ersten Sinfonien W. A. Mozarts [Peter Sühring]

Michael Spors: Formale Konzepte der ersten Sinfonien W. A. Mozarts. Mit einer Darlegung der Kriterien einer Analyse aus zeitgenössischer Sicht ‑ Hofheim: wolke, 2018 ‑ 289 S.: Notenbeisp. (sinefonia ; 27)
ISBN 978-3-95593-027-1 : € 42,00 (kt.)

Sich mit Formen in der Musik zu beschäftigen, muss kein Formalismus sein. Erst wenn man es bei Formen als lediglich quantitativen Größen belässt und ihre für das musikalische Kunstwerk wesentlichen, also auch qualitativen Bestimmungen ignoriert, verfällt man in Formalismus. Denn Formen in der Musik sind weitgehend sogar schon identisch mit ihrem Inhalt, man müsste nur die Formen als Inhalte auch lesen wollen und können, um nicht in Formalismus zu verfallen. Dies will und kann der Autor der vorliegenden Arbeit nicht und darum ist ihr Charakter auch einseitig formalistisch. Erstaunlich an dieser Dissertation wäre, dass es solche analytischen Haltungen in äußerster Konsequenz immer noch gibt, gäbe es da nicht ein Fach, das sich „Musiktheorie“ nennt, für solche formalen Analysen reserviert ist und vornehmlich an Musikhochschulen unterrichtet wird. Dass dort ein inhaltsleerer Schematismus gepflegt und gepaukt wird und stark auch auf Dissertationsvorhaben abfärbt, ist für den Ruf dieses Fachs, unter dessen beschränkter Aufgabenstellung manche seiner Lehrbeauftragten leiden, nicht besonders vorteilhaft.
Aus einer vom Autor explizit erklärten und durchaus berechtigten Ablehnung von vorschnellen ästhetischen Bewertungen oder kunstrichterlichen Werturteilen heraus wird der Bogen der Ernüchterung überspannt in die Richtung einer rein zählenden, nicht dem Ohr, sondern dem Auge, bestenfalls der Gliederungsarithmetik unterworfenen Lesart von Musik, die sich dann in Tabellen niederschlägt. Musikalische Kritik und Analyse sind aber keine Buchhaltung, und hier wird das Phantom einer wertfreien Wissenschaftlichkeit zur Ideologie. Es kann nicht darum gehen, die Berechnungen Spors’ im Einzelnen nachzuprüfen und etwa festzustellen, dass hier ein Vorhalt zu wenig, dort eine Verzierung zu viel gezählt worden sei. Auch Spors kommt nicht umhin, stellenweise bestimmte inhaltliche Bestimmungen zu verwenden, wie „Liedhaftigkeit“, was aber nicht immer passend scheint, wie z.B. für das auf S. 145 besprochene Andante der F‑Dur-Sinfonie KV 19a, in dem doch eher kaum des Gehens fähige Tonschritte mit reizenden Girlanden verziert sind und die Hörner mit exponierten Einwürfen in das Piano der Streicher einfallen.Kein schöpferischer Musiker entwickelte Formkonzepte oder folgte ihnen, weil er sie für allgemein verbindlich hielt, sondern entwickelte die Form eines Musikstücks aus seinen jeweiligen inneren Notwendigkeiten heraus, die sich in älterer Zeit meist durch die Konstitution einer bestimmten Tonfolge oder eines Themas (Melodie) und deren harmonische und rhythmische Einkleidung ergab. Die Form entscheidet über den Geist in der Musik: ein in wieviel Takten auch immer formuliertes Thema braucht in sich ein entwicklungsfähiges Potential oder muss selber markant und mit hörbarem musikalischem Ausdruck behaftet sein. Untersuchungen der Form eines Tonstücks aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts müssten Auskunft geben können über die melodische, harmonische, rhythmische Entfaltung, über den Charakter, den erzielten musikalischen Ausdruck und über periodische Verlaufsformen ihrer Metamorphosen, Zäsuren und Gegensätze. Musikalische Analyse sollte die Wirkung der Töne, der Klangformen und Tonfügungen verfolgen, also das Formale und damit zugleich Wesentliche, die innere Lebendigkeit des Tonstücks. Nur objektive Merkmale zu suchen, die man auch zählen oder messen kann, ist von einem Verständnis des musikalischen Kunstwerks, vom Erfassen seines Sinns noch weit entfernt, und eine formale Bestandaufnahme ist bestenfalls eine unablässige Vorstufe zum Verstehen. Der Sinn sollte verstanden sein, sonst bleiben auch die formalen Gegebenheiten unbegreifliche, uninteressante Äußerlichkeiten, die nur quantitativen Charakter und nichts spezifisch Musikalisches haben. An einer formalistischen Einstellung zur Form krankt diese Arbeit, die sich nicht zufällig einer Reihe ähnlicher Untersuchungen, z.B. von Wolfgang Budday zu Mozarts früher Kompositionstechnik anfügt.
Keiner wüsste die Geburtsstunde der „Durchführung“, eines ausgedehnten Mittelteils eines Sonatensatzes, zu nennen, keiner weiß, ab wann man ihn in Anlehnung an die Fugenkunst so nannte. Keiner weiß, ab wann und warum man einen Satz einer Sonate (der nach der Exposition eines oder mehrerer Themen damit fortfährt, diese zu verwandeln, „durchzuführen“, um sie dann in ihrer originalen Gestalt zu repetieren) als konzeptuell zwingende, normative Sonatensatzform einer fiktiven „Wiener Klassik“ behauptete. Aber er ist das Telos aller derartiger Untersuchung und wird als der unhintergehbare Idealtypus hingestellt ‑ so auch hier: Mozart noch in Kinderschuhen, aber schon auf dem Weg zur Vervollkommnung der klassischen Sinfonie. Eher wäre auch noch am späteren Mozart zu erkunden, dass und wie er an die als klassisch behaupteten formalen Konzepte eines Sinfonie-Satzes unerbittlich Fragen stellt und sie unterläuft.
„Kein vernünftiger Musicus poeticus, der doch wohl allen andern Musicis vorgehet, wird das principium seiner Wissenschaft, den Ursprung, das Fundament und die Grundsätze seiner Kunst in der sordiden [schäbigen], filzigten, lausichten Arithmetica suchen, es mögen auch aliter sentientes viel Aufschneidens von den Zahlen machen als sie wollen“ (Johann Mattheson, Das forschende Orchestre, Hamburg 1721, S. 255). Und tatsächlich zeigt es sich bei der Lektüre dieses Buches, wie karg und kunstwidrig es ist, einen schöpferischen Vorgang (bei einem nachdenklichen Kind) auf Heller und Pfennig nachzählen zu wollen. Da hilft auch nicht, wie Spors in dem „Ausblick“ genannten letzten Abschnitt des Buches, Mozart zu attestieren, dass dessen Musik von einer sinnlich wahrnehmbaren „Schönheit, die der Genius des schaffenden Künstler geformt hat“ (S. 285) erfüllt ist ‑ das ist hier nur ein nachträglich angeheftetes Etikett und wird nicht aus der formalen Stimmigkeit und inhaltlichen Bestimmtheit der jeweiligen Kompositionen hergeleitet.
Ein Vorteil der Vorgehensweise des Autors liegt darin, dass er nicht etwa von Riemanns angeblicher Universalformel der achttaktigen Periode für die Musik aller Völker und Zeiten ausgeht, sondern sich an die Kompositionslehren jener Zeit, in der Mozart komponierte, hält. Trotzdem liegt auch hier eine Verwechslung von nachträglicher Analyse des Komponierten (wie wohl noch Heinrich Christoph Koch seine Lehre gewann) mit Kompositions-Vorschriften, mit Maximen für Künftiges vor, als welche höchstens Vater Leopold bestimmte Kochsche Resultate angesehen haben dürfte. Spors bietet dazu zwar terminologische Varianten, d.h. er erfindet durchaus neue Begriffe und Beschreibungskategorien, aber er geht nicht über eine formal-analytische Einstellung hinaus.
Wenn es schon um die „vorklassische“ Sinfonie geht, so wären doch auch parallele Entwicklungen bei Italienern oder den Mannheimern, bei Franz Beck, Emanuel Bach und Franz Xaver Richter in den Blick zu nehmen. Und es wäre auf das Londoner Skizzenbuch des neunjährigen Mozart selbst zu rekurrieren, in dem der Knabe auch Skizzen zu Sinfoniesätzen eintrug, die ohne Aufsicht des Vaters einen auch später bei Mozart nicht verloren gehenden Hang zu Asymmetrie und Fantastik dokumentieren.
Dass sogar Romantiker in der Musik viel gezählt haben, dass Musik überhaupt ein ihr innewohnendes mathematisches Wesen hat, das mit Statistik und Tabellen erfasst werden kann, wissen wir, seit Schumanns Kompositionsskizzen bekannt wurden, dennoch scheint es eine von Spors geteilte positivistische Illusion zu sein, dass, wenn alles nur wohlproportioniert ist, es dann auch schon gut komponiert sei. Die auf Intervalle, harmonische Zusammenklänge und Gliederungen bezogenen Schönheitsideale wechseln historisch. Kein wirklich musikalischer Künstler komponiert, um irgendeine Schablone zu füllen. Die Energien der thematischen Gestalten sind es oft, die formale Gehäuse sprengen. Mozart zählt eher zu denen, welche die Grenzen solcher Gehäuse, zum Teil unmerklich, verschoben haben, und diese Tendenz meldete sich bereits in seiner Kindheit an. Dafür hat Spors keinen Blick, sondern jagt der Fiktion einer epochalen Theorie klassischer Formbildung hinterher, in die er Mozart integrieren will. Mozart wie üblich auf den Sockel eines Wiener Klassikers zu stellen ist aber ebenso abwegig wie Goethe auf den eines Weimarers.
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Peter Sühring
Bornheim, 24.05.2019

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