Der „andere“ Offenbach. Bericht über das internationale Symposium anlässlich des 200. Geburtstages von Jacques Offenbach in der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main am 18. und 19. Oktober 2018 / Hrsg. von Alexander Grün, Anatol Stefan Riemer und Ralf-Olivier Schwarz. – Köln: Dohr, 2019. – 174 S.: Tafeln., s/w-Abb., Notenbsp. (Beiträge zur Offenbach-Forschung ; 4)
ISBN 978-3-86846-153-4 : € 29,80 (geb.)
Nicht nur am Rhein um seine Kölner Wiege herum warf der 200. Geburtstag von Jacques Offenbach (1819-1880) manche Schatten voraus. Auch im Maingebiet, dem sein Vater Juda Isaac Eberst (nach der dortigen Stadt später Offenbach genannt) entstammte, wird sein Leben und Wirken seit bald zwei Jahrzehnten auf musik-, theater- und kulturwissenschaftlich grundlegend neuer Plattform bewertet und interpretiert. Federführend zeichnet ein Forschungsschwerpunkt an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, wo präludierend zum Jubiläumsjahr an zwei Oktobertagen 2018 gezielt der sogenannte „andere“ Offenbach in den Fokus eines Symposiums rückte. Nicht, dass bis 2000 in Sachen Offenbach Tabula rasa herrschte. Die Meriten aber, so die Herausgeber im Vorwort zum Kongressbericht, lagen bis dato zuvorderst bei der soziologischen Forschung oder wenigen Biographen. Entsprechend fordert der immense Nachholbedarf einen Tribut zumal für jene Bezirke des Phänomens Offenbach, die – wohl nicht unbekannt, so doch virulent oder korrekturbedürftig – abseits der prominenten Hauptwerke von der Mythentravestie Orphée aux Enfers über La Vie parisienne bis zu Offenbachs keinesfalls einzigem Opern-Großformat Les Contes d’Hoffmann ihrer Erschließung harren.
Jüngste Monographien zum Jubeljahr legten gewinnbringend vor – ob biographisch (z.B. vom Mitherausgeber Ralf-Olivier Schwarz) oder werkbezogen (wie vom Koautor Peter Hawig zur Gesellschaftssatire in der Offenbachiade). Wer diese bereits kennt, erwartet von elf Referaten nicht die ultimative Totale und der Weisheit letzten Schluss. Hoffen darf und muss er dafür auf repräsentative Fallbeispiele, Anstöße zu Kettenreaktionen in Wissenschaft und Musikbetrieb, interdisziplinäre und performative Ansätze, die Offenbachs Vieldimensionalität zur Disposition stellen. Entsprechend steht spezialisierte Musikanalyse neben Theatergeschichte, Literaturwissenschaft, Kultursoziologie und -psychologie oder Archivwesen.
Gewiss: Dank der von ihnen im Vorfeld bekannten Expertise konnten die einschlägig ausgewiesenen Fachvertreter hier ad hoc kein Rad neu erfinden. In jedem Fall aber frappiert das ungewohnte Destillat: die Zuspitzung auf einen konkreten Erkenntnisgewinn zu Essenz und Charakter des „anderen“ Offenbach – und sei es kurz und pointiert in einer Schlusssentenz. Gleich in seinen Aufsatztitel übernimmt jenes „Andere“ der renommierte Offenbach-Biograph Jean-Claude Yon, wenn er unter Les autres théâtres d’Offenbach statt des sprichwörtlichen Eigengewächses Bouffes-Parisiens oder der erfolgsträchtigen Bretter der Varietés eine Riesenpalette an vielen weiteren unter den 25 von Offenbach bespielten Bühnen typologisiert. Sodann desillusioniert Ralf-Olivier Schwarz sensibel die oft an rheinischen Gefilden lokalpatriotisch reklamierte Fama vom Einfluss des Kölner Karnevals auf Offenbachs Musiktemperament, das sich vielmehr vom Pariser Karneval während der dem Zweiten Kaiserreich vorangehenden Julimonarchie und von Offenbachs jüdischen Wurzeln (Desiderate!) inspiriert zeigt. Inspiriert schuf der auf dem Cover porträtierte “Liszt des Violoncellos” (Welcher Operettenselige denkt daran?) auch ein reiches Repertoire für sein Instrument in verschiedensten Besetzungskombinationen, das Peter Hawig in sechs Gruppen einteilt, bevor er stilkundig die instrumentalidiomatische und atmosphärische Bandbreite des Cours méthodique (1847) für zwei Violoncelli bilanziert und darauf folgende Laudatio ex negativo anstimmt: „Wer nach der Opéra bouffe sucht, wird enttäuscht.“ (S. 49)
Rückschlüsse auf einen ästhetischen Anspruch via Einzelfall schließt auch Matthias Brzoska: So rangiere das für die sechs besten Pariser Cellisten erstellte Meyerbeer-Arrangement Réminiscences à „Robert le Diable“ unter denjenigen instrumentalen Opernbearbeitungen, die den von der damaligen Musikkritik erhobenen Qualitätskriterien entsprachen, da sie die „zentrale Ideenkonstellation der Oper erfasst und entwickelt“ (S. 58) haben. Für das primär karrierefördernd produzierte Liedschaffen Offenbachs fordert Elisabeth Schmierer aus höchster Kennerwarte, gestützt auf differenzierten Blick in ausgewählte Romances und deutsche Lieder, künftige Sondierungen der Stellung „in der Tradition des französischen Salonliedes“ (S. 74) sowie der Einflüsse von Romances auf Offenbachs Musiktheater. Tonartenästhetische Aspekte bewegen sich bei Offenbach genreübergreifend überwiegend durch den Dur-Bereich und die Operntradition des 19. Jahrhunderts. Doch trotz Offenbachs schriftlich eher geringer Auskunftsfreude kann Alfred Stenger in „skizzierten Moll-Abschnitten“ triftig „die Fragestellung nach dem ‚anderen Offenbach‘“ (S. 86) bedienen.
Der wohl brisanteste, zugleich politisch aktuellste Diskussionsstoff des Symposiums dürfte Frank Harders-Wuthenow zu attestieren sein. So zwingt seine exzellent formulierte und kultursoziologisch fundierte Reflexion der Patriarchatskritik und Emanzipation in Offenbachs Musiktheater zur Überlegung, ob im „anderen“ Offenbach nicht mithin der eigentliche zu sehen ist: Kann schon in den auf kommerziellen Erfolg verpflichteten Paradewerken des Privatunternehmers von „einer Affirmation gesellschaftlicher Verhältnisse, von einem Amüsiertheater zum Zwecke der Stabilisierung der Restauration (…) nicht die Rede sein“ (S. 90), so obsiegt im von der Zensur gebeutelten Barkouf „durch weibliche Courage und Intelligenz eine gerechtere, demokratischere Gesellschaftsordnung“ (S.91) und riskiert Offenbach mit den Rheinnixen prompt „in der hochmilitarisierten, chauvinistisch aufgeheizten Zeit der 1860-er Jahre“ (S. 93) eine Nationaloper, deren Utopie „ein grenzenloser ‚Kulturraum‘“, „in Wahrheit (…) ein zu verteidigendes ‚Mutterland‘“ (S. 93) ist. Und generell: „Es gibt keine Frau in Offenbachs Bühnenwerken, die ihre Würde verliert, was man von den Männern nicht sagen kann – selten haben sie überhaupt eine.“ (S. 96)
Offenbachs eminente Fähigkeit einer engen Verzahnung musikalischer Strukturen mit Textaussage und Bühnengeschehen durchleuchtet der Komponist und Musikologe Anatol Stefan Riemer mit einem Extrakt aus seinen tief blickenden Untersuchungen der für die Wiener Hofoper geschriebenen Rheinnixen. Unter der Überschrift „Palindrome, Symmetrien und kreisförmige Strukturen“ konzentriert sich Riemer, umfassende Fachkunde des Lesers voraussetzend, auf Momente der Themen- und Motivgestaltung, die „ein dichtes, aus mehreren Strängen bestehendes erinnerungsmotivisches Geflecht“ (S. 104) in den Kosmos einer subtilen musikalischen Dramaturgie implementiert.
Materialreich und eher additiv stellt Herbert Schneider diverse Bühnenstücke über den Dichter Charles-Simon Favart und dessen durch den legendären Marschall von Sachsen begehrte Ehefrau im Vergleich der Offenbachschen Madame Favart gegenüber. Einen weiteren Sonderling nimmt der Romanist Hermann Hofer mit Fantasio ins Visier und skizziert die 1872-er Opéra-comique brillant anhand einer Dramenklassifizierung bei Offenbach, intertextuellen Bezügen und einer sozialpsychologischen Verortung in der französischen Romantik. Absolut wissenswert und gut sind die abschließenden Nachrichten des Archivars Niclas Esser zum Bergungsstand der Sammlung Offenbach nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009. Im Umfeld des Offenbach-Jubiläums hofft er auf weitere Nutzeranfragen, die den Aufschwung forcieren dürften.
Bei aller Substanz der Befunde und fußnotenbewehrten Informationsdichte: Der Band über den „anderen“ Offenbach ruft Geister auf den Plan, die der Offenbach-Fan nie und nimmermehr loswerden will. Berechtigte Erwartungen weckt die Ankündigung des Verlags Dohr, die Beiträge zur Offenbach-Forschung fortzusetzen – womöglich bis zur Revision der Behelfsformel vom „anderen“ Offenbach in die Apostrophierung des einen, großen Offenbach in all seinen Facetten und Genialitäten.
Andreas Vollberg
Köln, 20.12.2019