Helmut Breidenstein: Mozarts Tempo-System. Ein Handbuch für die professionelle Praxis. – 3., neu durchges. Aufl. – Baden-Baden: Tectum, 2019 ‑ 391 S.: Notenbeisp.
ISBN 978-3-8288-4316-5 : € 58,00 (geb.)
Jeder gute Mozart-Interpret weiß, dass bei Mozart die Tempofrage und alle damit zusammenhängenden Fragen von Metrik und Rhythmus Fragen auf Leben und Tod sind, dass die Bewältigung dieser Fragen das Mozart-Spielen zu einer der schwierigsten Aufgaben macht, die es für einen musikalischen Künstler gibt. Denn nur die Wahl eines geeigneten Tempos (von einem einzig richtigen sollte man wohl nicht reden und tut auch Breidenstein nicht) kann verhindern, dass man das Werk verdirbt, wie es neuerdings durch Willkürlichkeiten einer jüngeren Generation von Star-Dirigenten wieder passiert. Das liegt daran, dass bei Mozart das Tempo keine bloß quantitative Frage ist oder eine des äußerlichen Effekts, sondern ein unveräußerlicher Bestandteil der musikalischen Gestaltung, der die Bewegung der Musik (ihren „wahren Mouvement“) in ihrem Inneren regelt und beseelt, denn Musik ist (nach einer berühmten Definition) tönend bewegte Form.
Nun gibt es seit der 1. Auflage (Tutzing: Schneider, 2011) des hier besprochenen Werkes ein Angebot, wie diese Fragen ‑ vorbehaltlich der Rücksicht auf eine Unmenge von parallel laufenden Faktoren ‑ gelöst werden könnten. Mozart hatte nämlich im Laufe seines Komponistenlebens ein System entwickelt, das der Mozart-Spieler und -Forscher Breidenstein in langwährender, mühseliger Kleinarbeit entdeckt und ausgebreitet hat. Es ist ein mehrdimensionales und flexibles, also das Gegenteil eines geschlossenen Systems, und eines, das lediglich die Möglichkeit eröffnet, dem zu spielenden Werk Mozarts gegenüber heutzutage eine einigermaßen adäquate, durch Aufmerksamkeit und historische Kenntnisse vermittelte Haltung zu gewinnen.
Das Handbuch wendet sich an den musikalischen Praktiker, also an Solisten, Kammermusiker oder Dirigenten, wie auch an Konzertmeister oder Solisten, die noch von ihrem Pult oder Part aus das Orchester leiten wollten, wie zu Mozarts Zeiten. Die wissenschaftlichen Begründungen für die hier gegebenen Hinweise und Vorschläge hatte der Autor in drei längeren Aufsätzen in dem Jahrbuch Mozart-Studien bereits in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gegeben. Das von Breidenstein enthüllte System Mozarts ist mindestens dreidimensional insofern es von den Grund-Komponenten: Taktart, Notengattung (wobei immer vom kleinsten im Stück vorkommenden Notenwert auszugehen ist) und Tempobezeichnung (Mozarts speziellen Tempowörtern) beherrscht und zusätzlich von weiteren Neben-Komponenten durchdrungen ist: harmonische Dichte (von der schon Rousseau wusste, dass umso komplexer sie ist, desto weniger lebhaft die Bewegung sein darf, in der das Stück präsentiert wird), Metrik, Rhythmus, Artikulation und Spielart, Gattungen (zu Mozarts Zeiten waren das Kirchen-, Theater- und Kammer-Styl), Text (Vermaß), dramatische Situation sowie Unterschiede in Mozarts Früh- oder Spätwerk. Selbst die vollständige Berücksichtigung all dieser Komponenten würde nach Breidenstein sogar bei Stücken gleicher oder besser: ähnlicher Charakteristik immer noch nicht zum selben Tempo führen, sondern auch Umstände wie Instrumentencharakter oder Räumlichkeiten erheischen weitere Modifikationen.
Anschließend an die Erläuterung spezieller Mozartscher Tempowörter (die er teils der kursierenden Kompositionswissenschaft seiner Zeit entlehnte, teils mit eigenen Bedeutungen und Akzenten versah oder erfand) werden Mozarts sämtliche Werke nach den bei Mozart vorkommenden Taktarten als oberstem Gesichtspunkt aufgelistet und kommentiert: die Kirchenmusik getrennt nach den Taktarten des stile antico wie des „neuen Styls“, die weltliche Musik getrennt nach geraden und ungeraden Takten; besondere Behandlung erfahren noch aus naheliegenden rhythmischen Aspekten seine Menuette (Kobolde oder Elefanten?) sowie seine Tänze und Märsche. Diskutiert werden auch so heikle Tempofragen wie die der berühmten und berüchtigten, leicht und gerne verschleppten Pamina-Arie „Ach, ich fühl’s“ (ein Andante in einem zusammengesetzten 6/8-Takt) aus Die Zauberflöte, der hochkomplexe Taktarten-Apparat im Don Giovanni und solch paradox scheinenden Phänomene, dass und warum unter bestimmten Umständen ein Allegro langsamer gespielt werden kann als ein Adagio.
Das Handbuch verdeutlicht einerseits, wie stark Mozarts Tempoauffassungen in den kursierenden Kenntnissen und Vorstellungen der noch vorindustriellen Umbruchzeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verankert waren: das einleitende Kapitel über die Tempo-Bestimmungen im 18. Jahrhundert wie noch mehr der 114 Seiten umfassende Anhang mit Quellentexten zur Aufführungspraxis mit den Briefstellen der Mozarts, Exzerpten aus Leopold Mozarts Violinschule und aus vielen weiteren zeitgenössischen Dokumenten umreißen den Horizont. Andererseits zeigt es, wie stark Fragen des musikalischen Tempos durch Mozarts eigene Initiativen und höchst ausdifferenzierten Entscheidungen und präzise Angaben eine neue Intensität und Dringlichkeit bekamen, denen man systematisch für Mozarts Gesamtwerk und individuell für jede einzelne seiner Kompositionen nachspüren muss.
Breidenstein hat ‑ so scheint es ‑ alles, was zur Klärung dieser Fragen an zeitgenössischen Quellen der Mozart-Zeit wie der ausladenden Mozart-Literatur der Nachwelt vorliegt, studiert und ausgewertet, zitiert, gewichtet, verwendet oder verworfen, sodass der Benutzer selbst in den Genuss dieser Quellen kommt und sich seine eigenen Tempovorstellungen machen und in die Praxis umsetzen kann. Lediglich in der Bibliographie der Literatur vor 1900 vermisst man Friedrich August Kannes „Versuch einer Analyse der Mozart’schen Clavierwerke mit einigen Bemerkungen über den Vortrag derselben“ aus der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1821, woraus eventuell noch weitere Aspekte zu gewinnen gewesen wären.
Mozart zu spielen, ohne Breidensteins Handbuch zu benutzen, sollte nun endlich ausgeschlossen sein. Die 434 kommentierten Notenbeispiele bilden für den Praktiker das entscheidende Anschauungsmaterial, müssen aber durch weiteres eigenes Partiturstudium ergänzt werden. Das Register der besprochenen und verglichenen, in den entsprechenden Tempo-Zusammenhang gestellten Mozart-Werke, eröffnet den Zugang zu den einzelnen werkbezogenen Erläuterungen. Wie der Autor richtig bemerkt, wird man dieses Buch ‑ bis auf die zusammenhängenden einführenden Kapitel und den Anhang – nicht von vorne bis hinten durcharbeiten, sondern ausgehend von praktischen Bedürfnissen zu Rate ziehen. Avanti!
Peter Sühring
Bornheim, 16.12.2019