Helmut Breidenstein: Mozarts Tempo-System. Ein Handbuch für die professionelle Praxis [Martin Elste]

Breidenstein, Helmut: Mozarts Tempo-System. Ein Handbuch für die professionelle Praxis. Alle autograph bezeichneten Tempi in 420 Gruppen von Stücken gleicher Charakteristik mit 392 kommentierten Notenbeispielen und allen relevanten Quellentexten. – Tutzing: Hans Schneider, 2011. – 379 S: s/w-Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-86296-028-6 : € 85,00 (geb.)

Jeder Musiker kennt das Phänomen: Manche Stücke lassen sich in einem bestimmten Tempo besser einstudieren, auch wenn dieses möglicherweise virtuoseres, sprich schnelleres Spiel erfordert.Genau dieses ineinander verwobene System von Notation und Tempowahl hat Helmut Breidenstein in Mozarts Werken untersucht. Breidenstein, der als Dirigent eine reiche praktische Erfahrung im Umgang mit Musik aufweisen kann, geht es dabei nicht um das einzig richtige Tempo, sondern sowohl um die Aufdeckung der alten Tradition von so etwas wie Hebigkeit – der Ausdruck fällt bei ihm nicht – im Schaffen des Komponisten, als auch um die Aufdeckung von musikalischen Bezügen, damit der Musiker historisch-ästhetisch (und damit analytisch) ein auf diesen Prämissen fundiertes Tempo wählen mag.
Helmut Breidensteins Ordnung der Tempi in Mozarts Werken geht von dem Axiom aus, der Komponist habe infolge überlieferter Tradition die Sätze seiner Kompositionen nach einem durchgängigen Prinzip bezeichnet, wobei ein Bezug zwischen Notation und verbaler Tempobezeichnung besteht. Vieles spricht für einen solchen Zusammenhang, der infolge der Objektivierung des Tempos durch Mälzels Metronomangaben nach und nach aus dem Bewusstsein der Musiker verschwunden ist. Doch unterstellt der Autor damit dem Komponisten die Permanenz einer Handlungskonsequenz, wo sie allenfalls einer bürokratischen Wissenschaft zu eigen ist. Und darüber hinaus negiert er die Notwendigkeit des Wandels innerhalb der Rezeption. Insofern sollte der sich auf der Suche nach dem »richtigen« Tempo befindende Musiker Breidensteins akribische, durchstrukturierte Datensammlung vor allem als Quelle für ein eigenes Urteil verstehen.
Mit seinen Differenzierungen und Relativierungen verabschiedet sich der Autor von der Allgemeingültigkeit eines bestimmten Tempos. Und in der Tat: Lehren uns doch Tondokumente der Aufführungspraxis, dass gerade im Wandel, und damit auch in einem Stilwandel, ein besonderer Reiz liegt und dass es vielleicht für ein gewisses hic et nunc so etwas wie ein Idealtempo gibt, aber (noch) nicht für die notierte Abstraktion, den Notentext eben.
Das Buch ist das finale Opus von Breidensteins sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Studien zu den Tempi bei Mozart. Es ist Gott sei Dank kein normatives Traktat, sondern eine systematische Darstellung der Tempoarten in Mozarts Kompositionen. Darüber hinaus bietet es eine Sammlung wichtiger, auch widersprüchlicher Zitate von Zeitgenossen Mozarts und ihm selbst. Und wenn letztlich der Theoretiker wohl mehr damit anfangen kann, so ist das Buch ebenfalls für den praktischen Musiker eine anregende Lektüre.

Martin Elste
Berlin, 11.05.2012

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