Jörn Peter Hiekel: Bernd Alois Zimmermann und seine Zeit. – Lilienthal: Laaber-Verlag, 2019. – 420 S.: s/w-Abb., Notenbsp. (Große Komponisten und ihre Zeit)
ISBN 978-3-89007-808-2 : € 39,80 (geb.)
Der 39. Band der Reihe Große Komponisten und ihre Zeit des Laaber-Verlags ist Bernd Alois Zimmermann gewidmet, nach Monografien zu Leonard Bernstein und Hans Werner Henze dem dritten im 20. Jahrhundert geborenen Komponisten. Gemeinsam ist allen Bänden der Reihe – die zu Beginn der 1980er Jahre im Zuge eines Wandels weg von der werk- und hin zu einer kontextanalytischen Musikhistoriografie konzipiert wurde – die Setzung eines multiperspektivischen Erkenntnisinteresses anstelle traditioneller Biografik. Der Schwerpunkt der Monografien tendiert mal mehr in Richtung Werkanalyse wie etwa in einem der neuesten, Anton Bruckner gewidmeten Band, häufiger jedoch in einer dem Reihentitel gerecht werdenden Verfahren, so bereits 1981 im allerersten Band über Claude Debussy. Jörn Peter Hiekel, Professor an der Hochschule für Musik Dresden, Dozent für Musikästhetik und Musikwissenschaft an der Zürcher Hochschule der Künste und Leiter des Darmstädter Instituts für Neue Musik, hat sich für letztere Methodik entschieden. Der Autor ist ein ausgewiesener Kenner der Neuen Musik und hat bereits Anfang der 1990er Jahre ein grundlegendes Werk über das Requiem für einen jungen Dichter von Zimmermann vorgelegt, außerdem zahlreiche Aufsätze über den Komponisten.
Der Aufbau der Bände in vier Teile ist durch die Herausgeber vorgegeben und seit dem ersten Band unverändert: Dem Hauptteil „Aspekte“ gehen ein Vorwort und eine Chronik voraus, die Leben und Werk mit Ereignissen aus Kultur und Politik synchronisiert, gefolgt von einem Anhang, der hier ein Bildteil, ein Werkverzeichnis, ein Literaturverzeichnis, ein Personenregister und ein Register der Werke Zimmermanns umfasst.
Ursprünglich als Beitrag zum einhundertsten Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann im Jahr 2018 geplant, bildet das Buch nun das musikhistorische Gegengewicht zur fulminanten Biografie von Bettina Zimmermann, der Tochter des Komponisten.
Zimmermanns Stellung innerhalb der Nachkriegsmusik zu beleuchten und Irrtümer aufzudecken, waren, so der Autor im Vorwort, der Ansatz für das Schreiben des Buches, des Weiteren die Schaffung von Querbezügen zu anderen Komponisten und Künstlern. Die künstlerische Physiognomie soll hier aus der Verschränkung der musikalischen Werke mit Quellen, insbesondere Briefen hervortreten. Hiekels Behauptung, dass Zimmermanns musikhistorische Bedeutung erst in letzter Zeit erkannt wurde, mag als Rechtfertigung für die vorliegende Arbeit eine Rolle gespielt haben, doch wird sie nicht durch Nachweise belegt und muss schon aus diesem Grund angezweifelt werden, als es kaum einen anderen Komponisten der Nachkriegszeit gibt – sieht man von Stockhausen, Nono und Boulez ab – zu dem eine vergleichbar umfangreiche Literatur erschienen ist. Von einem Missverständnis mag die zeitgenössische Literatur und Tageskritik zu Zimmermanns Lebzeiten geprägt sein, doch dank steter (posthumer) Bemühungen – erfreulicherweise auch im Konzertsaal – ist die Sicht auf Zimmermanns Werk und dessen Entstehungsbedingungen bereits seit Beginn der 1990er Jahre erheblich differenzierter als zu des Komponisten Lebzeiten. Abgesehen von dieser wie auch immer fragwürdigen und letztlich eher nebensächlichen Ausgangsthese ist es dem Autor gelungen, zahlreiche neue, unbekannte Aspekte in Zimmermanns Werk zur Sprache gebracht zu haben.
Die wesentlichen Rezeptionsdefizite, die Hiekel im ersten Hauptkapitel über „Zimmermann im Kontext der Moderne“ benennt, lassen sich allesamt aus der Horizontverschiebung im aktuellen Diskurs zur Geschichte der vergangenen Nachkriegsjahrzehnte erklären, insofern Musikgeschichte als historisches Kontinuum wahrgenommen wurde, dessen linearer, eindimensionaler Verlauf den Fortschritt als wahr, d.h. als richtig, und restaurative Tendenzen als falsch belegte. Der Autor weist darauf hin, dass die technischen Aspekte der seriellen Musik die im Kontext der 1950er und 1960er Jahre unerwünschten Ausdrucks- und Gehaltsaspekte überdeckten. Hiekel zeigt auf, wie durch das Verschwinden der ideologischen Barrieren (deren Bedeutung für die einstige Durchsetzung jener Komponisten in keiner Weise gering zu schätzen ist) die Sicht auf Zimmermanns Werk und dessen geistesgeschichtliche Voraussetzungen erhellt wird. Der Autor beleuchtet in diesem Kapitel Zimmermanns Werk aus sehr unterschiedlichen Perspektiven: der Gehaltsästhetik, dem Bezug zu Beethoven, Ives, Berg, Schönberg und Strawinsky; eine herausragende Rolle schreibt der Autor Debussys Verwendung der Farbe zu, daneben etlichen weiteren Themen wie der Rundfunkmusik, der Religiösität und dem Jazz.
Die fünf Kapitel des Hauptteils „Aspekte“ sind den Voraussetzungen und der Entfaltung des Zimmermannschen Musikdenkens gewidmet. Das erste Kapitel konzentriert sich mehr allgemein auf Zimmermanns Stellung im zeitgenössischen Musikleben. Hiekel definiert Zimmermanns Sonderstellung unter seinen Zeitgenossen über den Begriff der Weltbezogenheit, die sich in der Einbeziehung dokumentarischen Materials manifestiere. Das zweite Kapitel „Orientierungen“ folgt den Spuren der Prägungen des jungen Komponisten zwischen Richard Strauss und Claude Debussy, Paul Hindemith und Igor Strawinsky. Hiekel zeigt am Beispiel des Oboenkonzerts Zimmermanns, dass der Komponist nicht der damals geläufigen, von Adorno herausgestellten Dichotomie des fortschrittlichen Schönberg versus des restaurativen Strawinsky folgt, sondern beide als gleichzeitige Vertreter des musikalischen Fortschritts nebeneinanderstellt. Der Behauptung, dass das Oboenkonzert motivisches Material aus Werken Strawinskys verwendet, die er in eine dodekafone Satztechnik einbettet, bleibt allerdings unbewiesen (meines Wissens wurde dieser Sachverhalt, der auf einer Äußerung Zimmermanns beruht, bislang nie analytisch nachgewiesen). Werkanalyse ist – der Konzeption dieser Arbeit gemäß – nicht Gegenstand der Untersuchungen. Hiekel dringt in der Betrachtung der Einzelaspekte, die auch kaum bekannte Tatsachen wie Zimmermanns Beziehung zu Pierre Boulez und vieles mehr umfasst, vom Äußeren in das Innere der Zimmermannschen Ästhetik vor, zu deren Glanzlichtern das Kapitel über „Philosophie als Impuls“ gehört und die im Gegenbild von Strenge und Freiheit als einem der wesentlichen Merkmale von Zimmermanns Werken, spätestens seit der Kantate Omnia tempus habent, mündet.
Intermediale Aspekte stehen im dritten Kapitel „Begegnungen und Verknüpfungen mit anderen Kunstformen“ im Zentrum; neben der zentralen Nachbarkunst, der Malerei, hier insbesondere Paul Klee und Joan Miró, spielen auch Architektur, Literatur, Theater und Film eine Rolle. Paul Klees Schrift Das bildnerische Denken entwickelt mit der Idee der Projektion innerer Bilder und der Erschaffung von Traumwelten den für diese Arbeit zentralen Topos des Imaginären, der das Vage, Unbestimmte dem Konkreten, Fixierten gegenüberstellt. Dass der Autor dem Imaginären eine derart zentrale Bedeutung für beinahe alle Hauptwerke Zimmermanns beimisst, ist wohl so zu verstehen, dass er das Sprechen über Zimmermanns Musik von der durch den Komponisten vorgegebenen Terminologie zu befreien sucht (was bei Komponisten, die ihrem Werk Deutungsspuren mit auf den Weg geben, ab einer gewissen historischen Distanz zwingend notwendig wird). In den Schriften Zimmermanns spielt das Imaginäre keine große Rolle, doch mindestens zwei Werke, die Kontraste und die Perspektiven tragen den Untertitel „Musik zu einem imaginären Ballett“. Hingewiesen sei auf das enorme Bedeutungsspektrum des Begriffs allein im romanischen Sprachraum, der etwa in der französischen Philosophie, bei Sartre, deutlich anders konnotiert ist als in der Psychoanalyse Lacanscher Prägung.
Hiekels Absicht ist es, die von Zimmermann geprägten Termini zu entflechten und in einer Art Dekonstruktion neu zu beladen; die Entkopplung von Zimmermanns Werk von seiner eigenen Begriffswelt wie Pluralismus, Kugelgestalt der Zeit und Zeitdehnung öffnet den Raum für Neudeutung.
Jörn Peter Hiekel bezieht in seine Betrachtungen mit Ausnahme einiger weniger Hauptwerke fast alle Kompositionen Zimmermanns ein, erfreulicherweise auch etliche Frühwerke; da die gehaltsästhetischen Aspekte im Vordergrund der Ausführungen stehen, sind Werke, die als absolute Musik konzipiert wurden, weniger präsent. Gelegentlich führt dieses Verfahren, den Gehalt aus dem (literarischen) Kontext zu entfalten, zu durchaus bemühter Argumentation, etwa wenn der Ezra Pound-Bezug im Cellokonzert Canto di speranza diskutiert wird, ungeachtet der Tatsache, dass der Canto sich zwar durch den neuen Titel von der Gattung des – in der Erstfassung so genannten – Cellokonzerts abhebt in Richtung einer Instrumentalkantate, aber keine substantielle Neufassung darstellt (sondern nur eine Revision), wie im Vergleich etwa die Zweitfassung der Sinfonie in einem Satz.
Die beiden Schlusskapitel der „Aspekte“ sind der Oper Die Soldaten und den letzten Werken gewidmet, die Hiekel u.a. unter dem Aspekt des Spätwerkes befragt, was sich etwa durch einen überbordenden maximalen Ausdruck bei gleichzeitig ausgezehrten Strukturen zeige.
Es ist ein großes Verdienst des Buches, bekannte aber auch bislang eher kaum diskutierte Aspekte benannt und befragt zu haben, darunter etliche, die in der bisherigen Zimmermann-Forschung kaum eine oder keine Rolle gespielt haben. Das Buch ist weniger in Form einer Reihung von Themen aufgebaut, hingegen baut der Autor ein vielfältiges und weitverzweigtes, dichtes Beziehungsnetz auf. Aus diesem Grund wird der Leser das Buch weniger zum gezielten Nachschlagen nutzen, seine Qualitäten offenbart es überzeugender in der linearen, diskursiven Lektüre.
Rüdiger Albrecht
Berlin, 27.11.2019