Daniela Fugellie: „Musiker unserer Zeit“. Internationale Avantgarde, Migration und Wiener Schule in Südamerika [Kadja Grönke]

Daniela Fugellie: „Musiker unserer Zeit“. Internationale Avantgarde, Migration und Wiener Schule in Südamerika. – München: edition text + kritik, 2018. – 544 S.: s/w-Abb. (Kontinuitäten und Brüche im Musikleben der Nachkriegszeit)
ISBN 9-783-869-166-049 : € 49,00 (kart.)

Das Thema der Arbeit, mit der Daniela Fugellie 2016 an der UdK Berlin promoviert wurde und in deren Kontext sie seit demselben Jahr Assistant Professor an der Universidad Alberto Hurtado in Santiago de Chile ist, wäre in der deutschen Musikwissenschaft noch vor einem Vierteljahrhundert undenkbar gewesen. Die Neue Wiener Schule und ihre seriellen Nachfolger wurden viel zu lange aus rein europäischer Perspektive und vornehmlich als Produkt einer Emigration und Remigration von Komponisten und Theoretikern auf der Zickzacklinie Europa – USA – Darmstadt beforscht. Dodekaphonie war dank Adorno der ästhetische und kulturpolitische Ritterschlag gegenüber anderen Konzepten einer ansonsten noch weniger beforschten Musik der Gegenwart.
Von solchen Leitgedanken ist Fugellie weit entfernt. Ihr geht es nicht um den Weg der Wiener Schule ins Exil und wieder zurück, sondern darum, wie sich Emigrantinnen und Emigranten vor Ort für das Kulturleben im Aufnahmeland engagierten (nebenbei: eine hochaktuelle Fragestellung). Den Fokus ihrer Untersuchungen legt sie nicht auf das klassische Einwanderer- und Exilland USA, sondern auf Südamerika und hier vor allem auf Brasilien, Argentinien und Chile – Zentren, die erst Ende des 19. Jh., dafür aber mit besonderer Vehemenz zu Einwanderungsländern wurden. Im Untersuchungszeitraum 1935–1960 war hier die Auseinandersetzung mit der als europäisch begriffenen Kunstmusik noch in vollem Gange. Dass dies für die Zuwanderer den Neubeginn einerseits erschwerte, andererseits aber auch kreative Kräfte freisetzte, verdeutlicht Fugellie, indem sie konsequent nicht etwa die Musik, sondern die musizierenden und komponierenden Menschen in den Titel stellt. Die „Zusammenarbeit zwischen deutschsprachigen Emigranten und südamerikanischen Akteuren“ interpretiert sie schlüssig als einen „produktiven Prozess der Neudeutung und Transformation musikalischer Ideen und Praktiken“ (Covertext). Auf sehr sympathische Weise schreibt sie damit keine faktische, sondern eine fließende Geschichte – eine Darstellung der Möglichkeiten und Lösungswege, die von Menschen entwickelt, im Dialog geschärft, im Unterricht weitergegeben, in Publikationen formuliert, in Verbänden vertreten, in Kompositionen realisiert und in Konzerten umgesetzt wurden. Kurz: Musikgeschichte erscheint hier als ein Nachvollzug von Aktivitäten.
Fugellies Hauptaugenmerk liegt auf den Ensembles „Nueva Música“ in Buenos Aires, „Música Viva“ in Rio de Janeiro und Sao Paulo und „Tonus“ in Santiago de Chile. Gemeinsam ist ihnen, dass die dortigen Aktivitäten von Emigranten vornehmlich aus deutschsprachigen Ländern mitgeprägt wurden, welche sich alle in besonderem Maße mit der Musik der Wiener Schule auseinandersetzten. Das Engagement für dieselbe Sache führte dazu, dass die unterschiedlichen Assoziationen Neuer Musik letztlich durch die Aktivitäten einer Handvoll Personen verknüpft sind. Entsprechend trägt Fugellie aus Archiven und Nachlässen reiches biographisches Material vor allem zu Francisco Curt (Franz Kurt) Lange, Juan Carlos Paz, Hans-Joachim Koellenreutter, Esteban (István, Stefan) Eitler, Fré Focke, Sofia Knoll und César Guerra-Peixe zusammen und zeigt, wie intensiv die meisten von ihnen miteinander in gedanklichem und künstlerischem Austausch standen – trotz oder wegen des unsicheren Lebens in der Emigration, der Konzertreisen und der zahlreichen, oft nur kurzfristigen und räumlich weit auseinanderliegenden beruflichen Stationen.
Die Bezüge zur Kulturtransferforschung werden von der Autorin klug reflektiert und nutzbar gemacht. Wie Fugellie betont, geht es ihr nicht darum, die einzelnen Nachlässe und Biographien „für eine bestimmte Nationalgeschichte zu reklamieren“, sondern hervorzuheben, „dass die untersuchten archivalischen Sammlungen mit persönlichen und kollektiven Geschichten verbunden sind, die sich in verschiedenen Kulturräumen entfaltet haben. Der untersuchte Gegenstand ist insofern untrennbar mit dieser mehrdeutigen kulturellen Zugehörigkeit verbunden“ (S. 30).
Die Arbeit mit Nachlässen paart sich mit der Erforschung von institutionengeschichtlichen Aspekten; auch zieht Fugellie Konzert- und Rundfunkrepertoire mit heran und vor allem auch die zahlreichen Publikationen, in denen die Akteure ihre Überzeugungen, Thesen und Aktivitäten in Wort, Schrift und künstlerischer Graphik zu vermitteln suchten. Trotz des titelgebenden Rekurses auf die Neue Wiener Schule schreibt Fugellie also bewusst keine Kompositionsgeschichte, sondern integriert die Werke in das komplexe Ineinander unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Aspekte. Auf diesem Weg versteht man plötzlich z. B. die ungewöhnlichen Besetzungen mancher Werke: nicht als künstlerische Caprice, sondern als Folge der Tatsache, dass die meisten Emigranten gleichzeitig als ausführende Musiker aktiv waren oder für befreundete Emigranten – und damit für eine vor Ort umsetzbare Instrumentenkombination – komponierten.
Das bemerkenswerte Ergebnis von Fugellies Studie liegt darin, dass die Emigranten bei ihrem Einsatz für die Neue Musik weder an ihrer Herkunftskultur klammerten noch den Versuch machten, die aufnehmende Kultur zu überformen. Vielmehr verfolgten sie eine „Idee der Zugehörigkeit zu einer internationalen Avantgarde, die in erster Linie Ausdruck einer Epoche und nicht eines geographischen Ortes ist. [...] Über die Identifikation mit einer internationalen Avantgarde konnten Emigranten [...] ihr eigenes Tun in Südamerika jenseits der hegemonialen Machtverhältnisse lokaler Institutionen legitimieren“ (S. 473).
Für eine solche weltweit wahrgenommene Neue Musik galt ihnen die Wiener Schule als Ausgangspunkt. An Kompositionen von Paz, Guerra-Peixe und Focke zeigt Fugellie, dass das Reihendenken offenbar vor allem ein Weg war, um im internationalen Kontext den eigenen künstlerischen und ästhetischen Ort zu gestalten – unabhängig von geographischen Bindungen. Der Absolutheitsanspruch, den Adorno kultivierte, fehlt fast völlig. Pars pro toto heißt es zu Hans-Joachim Koellreutter, dass die Musik ihm „eine universelle Sprache ist und entsprechend zur Entwicklung einer neuen Gesellschaft jenseits geographisch-politischer Grenzen beitragen könnte“ (S. 398).
Eine solche Grundeinstellung führte dazu, dass die entsprechenden Komponisten offenbar nicht die Rückkehr in ihre Ausgangsländer anstrebten, sondern sich trotz aller Schwierigkeiten dauerhaft in Lateinamerika niederließen. Damit verfiel ihre Musik allerdings dem doppelten Dilemma, sich einerseits im Kulturleben der neuen Heimat einen Platz zu erkämpfen, auf dem sie nicht national vereinnahmt wurde – dann aber im Zuge der lateinamerikanischen Diktaturen die angestrebte internationale Sichtbarkeit sogleich wieder zu verlieren … mit dem Ergebnis, dass sie in der zentraleuropäischen Musikwissenschaft irgendwo zwischen couleur locale, Exotismus und politischer Kunst im Schatten versank.
Die Dissertation von Daniela Fugellie bietet das beste Argument gegen ein solches Vergessen, denn die Autorin trägt eine reiche Wissens- und Faktengrundlage zusammen, die sie auch in ihren kleinsten Verästelungen und komplexen Beziehungen plausibel darlegt. Neben Kontakten und Kontinuitäten, neben Ideen und Aktivitäten, neben Bestrebungen und Kompositionen bietet sie einen tiefen Einblick in das lebhaft vernetzte, schwierige und gleichwohl hochengagierte musikalische und musikkulturelle Handeln der Emigranten. Mit der Erkenntnis, wie sehr das Ringen um Selbstdefinition und persönliche Lebens- und Überlebensgestaltung von dem Versuch profitierte, im Internationalen das Eigene und im Eigenen das Resultat eines lebendigen internationalen Austausches zu erkennen, gibt Fugellie dem in Deutschland arg eng rezipierten Phänomen der Neuen Wiener Schule jenen internationalen Kontext zurück, der ihm im Zuge der Historisierung der Neuen Musik verlorengegangen ist. Als weiteres großes Plus erweist sich die klare, zugleich sehr reiche Sprache der Autorin: Sie macht die Komplexität des Gegenstands zum Lesevergnügen. Gern folgt man der Autorin mit Neugier und Empathie durch die Windungen der Historie. Die ebenso materialreiche wie sorgfältig fokussierende, klug strukturierte Arbeit wird durch eine aktualisierbare Materialsammlung im Internet bereichert (https://musikerunsererzeit.wordpress.com/). So soll Forschung sein!
Inhaltsverzeichnis

Kadja Grönke
Oldenburg, 06.10.2019

Dieser Beitrag wurde unter Eitler, Estéban (1913-1960), Focke, Fré (1910-1989), Guerra-Peixe, César (1914-1993), Knoll, Sofia (Sophie) (1908-1970), Koellreutter. Hans-Joachim (1915-2005), Lange, Francisco Curt (1903-1997), Neue Musik, Paz, Juan Carlos (1897-1972), Rezension abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.