Bettina Zimmermann: con tutta forza. Bernd Alois Zimmermann. Ein persönliches Portrait [Rüdiger Albrecht]

Zimmermann, Bettina: con tutta forza. Bernd Alois Zimmermann. Ein persönliches Portrait. Dokumente, Briefe, Fotos, Zeitzeugen. Begleitet von Rainer Peters. – Hofheim: Wolke, 2018. – 464 S.: Farb- und s/w-Fotos
ISBN 978-3-95593-078-3 : € 34,00 (kart.)

Wie es um die Wahrnehmung von Kunstmusik in der Öffentlichkeit bestellt ist, zeigte jüngst die Tatsache, dass zum 100. Geburtstag des Komponisten Bernd Alois Zimmermann nur wenige der überregionalen Tageszeitungen – ganz zu schweigen von der Lokalpresse – es für nötig befunden hatten, eine Würdigung abzudrucken (und wenn, dann zumeist im Rahmen einer Besprechung der Nürnberger Premiere der Oper Die Soldaten). Dass aber die New York Times zu den Wenigen gehörte, die sich des Komponisten erinnerten, zeigt deutlich, dass Zimmermanns Werk neben der lokalen – europäischen – Präsenz doch auch eine Strahlkraft entwickelt hat, die über den großen Teich hinauswirkt. Die Tendenz des Feuilletons hierzulande, insbesondere der Printmedien, den Platz für die Berichterstattung ambitionierter, nicht massentauglicher Kunst an umsatzsteigernde Lifestylethemen zu opfern, ist nicht etwa spürbar, sie ist längst vollzogen. Die Folge daraus, dass immer weniger kulturinteressierte Menschen die Gelegenheit bekommen, mit künstlerischen Ausdrucksformen konfrontiert zu werden, denen sie in ihrer Lebenswelt nicht von selbst begegnen, führt zu einer Separierung der Kultur und Neudefinition des Kulturbegriffs, die fatalerweise so auch im Bildungswesen immer stärker zu beobachten ist.
Auf der anderen Seite darf durchaus von einer Blüte der journalistischen und musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit der bereits historischen Neuen Musik gesprochen werden. Bernd Alois Zimmermann etwa, dessen Werke ihre Präsenz im Konzertsaal stetig behaupten und dessen Oper Die Soldaten neben Aribert Reimanns Lear zu den meistgespielten Opern, die in der Nachkriegszeit komponiert wurden, gehören dürfte, wurde durch die Herausgabe des epochalen Werkverzeichnisses durch den Berliner Musikwissenschaftler Heribert Henrich in die Reihe der „bleibenden“ Komponisten gerückt (zudem ist eine kritische Werkausgabe in Planung, und 2014 wurde die „Bernd-Alois-Zimmermann-Gesellschaft“ in Erftstadt gegründet).
Einen fundamentalen Beitrag zur biografischen Forschung liefert das liebevoll und sorgfältig kompilierte Buch von Bettina Zimmermann, der Tochter des Komponisten. Der Vorzug der Nähe der Chronistin zu dem Portraitierten ist nicht hoch genug einzuschätzen, es verleiht ihrer Arbeit eine Authentizität, die das Buch zu einer unverzichtbaren Primärquelle machen wird. Der hierbei lauernden Gefahr, unliebsame Aspekte in der Persönlichkeit des Darzustellenden zu verharmlosen oder gar unter den Teppich zu kehren, hat die Autorin entgegengewirkt durch die Heranziehung vieler wichtiger Zeitzeugen, Schüler und Weggefährten des Komponisten. Auf weiten Strecken nimmt sie sich zurück und überlässt ihren Gesprächspartnern (sie hat mit ihnen zwischen 2011 und 2016 unzählige Interviews geführt) das Wort. Besonders spannend wird es dann, wenn unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, etwa in den Kapiteln über das nicht ungetrübte Verhältnis von Bernd Alois Zimmermann zu seinem 10 Jahre jüngeren Kollegen Karlheinz Stockhausen oder in der Frage nach Zimmermanns Präsenz bei den „Darmstädter Ferienkursen für neue Musik“. Bemerkenswerterweise ergänzen sich gerade einander widersprechende Positionen (sie verweisen eher auf den Urheber als auf den Dargestellten) und ermöglichen dem Leser eine eigene Sicht auf die Dinge.
Die auktoriale Konstellation einer Vater-Tochter-Beziehung ist in der Biografik heutzutage nicht mehr außergewöhnlich, in der musikalischen Biografik schon eher, das prominenteste Beispiel dürfte hier Nuria Nono sein, Tochter von Arnold Schönberg (und Ehefrau Luigi Nonos), die sich als Stiftungsgründerin und als Autorin um die Nachlässe ihres Vaters und ihres Mannes verdient gemacht hat.
Das trotz der auf den ersten Blick eigenwilligen Typografie flüssig zu lesende Buch (die farbliche Absetzung bzw. Einrückung von Absätzen erweist sich freilich als Hilfe für den Leser, um die unterschiedlichen Textebenen auseinanderzuhalten) ist aufgrund des chronologischen Aufbaus eine Biografie, es ist aber mehr noch ein sehr persönliches Portrait des Vaters (wie es auch der Untertitel des Buches besagt). Dem künstlerischen Element eines Portraits kommt durch die Montage aus eigenen Texten, Briefen, Interviews mit Zeitzeugen und Abbildungen ein hoher Stellenwert zu und es hebt dieses Buch weit über die rein textuelle Ebene hinaus. Die Abbildungen nehmen einen besonderen Platz ein; darunter finden sich in der Hauptsache Fotografien, Zeichnungen (nicht nur des Schülers Zimmermann), persönliche Dokumente, Briefe und andere Dokumente in der Handschrift des Komponisten, Programmzettel, Zeitungsausschnitte und Partiturseiten. Die Fotografien im ersten Viertel des Buches sind der Familie und den Orten aus Zimmermanns Kindheit und Jugend gewidmet; ab den frühen 1950er Jahren tritt der Fotograf Zimmermann in den Vordergrund. Der allergrößte Teil der Bilder, laut der Autorin nur ein Bruchteil des gesamten Fotoarchivs, darunter etliche von Sabine Zimmermann aufgenommen, werden hier zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert. Im Fokus stehen die Familie, die Kinder, zu sehen sind daneben Fotografien, die ein Interesse am Medium der Fotografie und der bildenden Kunst verraten – am deutlichsten in den Studien über Dünengras (S. 411) mit der daraus entwickelten Zeichnung (S. 412-413). Einen eigenen Komplex bilden die Portraitstudien professioneller Fotografen, deren wohl bedeutendstes von Adolf Clemens stammt (S. 340): es vereint in den Augen- und Mundpartien tiefen Ernst und Melancholie durchzogen von schalkhaften Zügen und zugleich einer Entschlossenheit, die sich im Kreisrund der Arme fortsetzt und als Energiefluss in der linken Hand mündet, mit dem gespitzten Bleistift als Instrument des kreativen Aktes – ein Sinnbild des schaffenden Künstlers. In vielen dieser Bilder zeigt sich die Ferne, doch auch die Nähe des Privatmenschen Zimmermann gegenüber dem in der Öffentlichkeit stehenden Komponisten.
Die ersten 100 Seiten des Buches sind der Kindheit, Jugend, dem Studium und der Kriegszeit gewidmet. Gerade hier fällt auf, wie sehr, trotz ausführlicher Briefzeugnisse mit Schilderungen von Kriegserlebnissen vieles doch im Dunkeln bleibt. Stellungnahmen zu den politischen Zeitumständen fehlen gänzlich (wie stand Zimmermann, der als Jüngling wohl nicht ganz freiwillig in die SA eintrat, zum Hitler-Regime?). Auch in späteren Jahren erfährt man – nicht untypisch für die traumatisierte Generation – nichts, was über die persönlichen Belange hinausgeht. Doch, wie nicht anders von diesem sensiblen Beobachter zu erwarten – und nur dies zählt letzten Endes – gibt sein Werk beredtes Zeugnis seines zutiefst humanistischen Denkens.
Für Bernd Alois Zimmermann war die Familie, besonders aber die Ehe mit Sabine (geborene von Schablowsky) sowohl Ruhepol als auch Kraftreservoir. Bettina Zimmermann zeichnet das Bild einer im Wesentlichen harmonischen Ehe, in der die Rollen klar verteilt waren: Die Ehefrau unterstützte ihren Mann und gab ihm Rückhalt in schwierigen Situationen. Dass dies für die aus guten bürgerlichen Kreisen stammende – und wie die Fotos zeigen: selbstbewusste – Frau nicht immer einfach war und sie ihre eigenen Interessen dem „Auftrag“ ihres Mannes opfern musste, ist zwischen den Zeilen nicht zu übersehen.
Der gelegentlich auch als schwierig titulierte Komponist wird von seinen Schülern durchwegs positiv beurteilt: menschlich dank seiner freundlichen und umgänglichen Art und fachlich ob seines umfänglichen, aber nie zur Schau gestellten Wissens.
Einer der Höhepunkte des Buches ist die verwickelte Geschichte anlässlich der Uraufführung der Soldaten, die den Komponisten angesichts der Querelen und Widrigkeiten bis zur Verzweiflung trieb. Nur hier verlässt Bettina Zimmermann kurzzeitig die Rolle der Erzählerin und Fragestellerin und bezieht Stellung gegen die ihrer Meinung nach verfälschende Salzburger Inszenierung der Soldaten im Jahre 2012.
Beklemmend auch die Kapitel über die letzten Lebensjahre, in denen die Autorin sich nicht scheut, intime private Details offenzulegen. Die Unausweichlichkeit und Zielgerichtetheit, mit der sich Zimmermanns Schicksal auf das tragische Ende hin zu bewegen scheint, und in der schon früh eine Koinzidenz zwischen Leben und Werk beschworen wurde, wird von den Zeitzeugen unterschiedlich bewertet: Der Jazzpianist Alexander von Schlippenbach, der sich entscheidende Anregungen in den Film- und Hörspielseminaren seines Lehrers holte, war überzeugt davon, dass nach 1968 nicht mehr kompositorische Qualität als Kriterium zählte, sondern Kunst grundsätzlich als elitär bezeichnet und in Misskredit gebracht wurde (S. 369). Michael Gielen, der Uraufführungs-Dirigent der Soldaten ist der Meinung, dass Zimmermann kompositorisch an einem Endpunkt angelangt war, für dessen Überwindung ihm die Lösung gefehlt habe (S. 371). Und York Höller benennt neben der Depression, dem Schwinden des Augenlichts und anderer gesundheitlicher Probleme eine allgemeine Krise des Komponierens, in der der Werkbegriff von etlichen komponierenden Zeitgenossen auf den Prüfstand gestellt wurde, was zu neuen musikalischen Konzepten wie Gruppenimprovisation oder Musik zwischen Bekenntnis und politischer Agitation bis hin zum Verstummen führte. (Erstaunlicherweise gelang es Karlheinz Stockhausen genau in der Zeit von Zimmermanns Tod, im August 1970, einen Weg aus der Krise zu finden durch die Konzeption der „Formelkomposition“ und der Restitution des musikalischen, gänzlich ausnotierten Werkes, in Mantra für 2 Pianisten und Live-Elektronik bis hin zur Ausarbeitung des siebenteiligen Licht-Zyklus).
Con tutta forza: der Titel des Buches deutet all dies an – ein so überaus produktives Leben und dessen Kehrseite in der zerstörerischen Form des Ausgebrannt-Seins, wie es sich höchst beklemmend in einem der letzten Werke, dem Orchestertorso Stille und Umkehr tönend manifestiert.
Das letzte Kapitel gehört Hans Zender, der Zimmermann anlässlich seines Rom-Aufenthaltes in der Villa Massimo 1963/1964 kennenlernte. Aus Gesprächen mit ihm kompilierte die Autorin einen „gesprochenen Essay“ – eine liebevolle und überaus erhellende Eloge auf das lebenslange Vorbild.
Abgerundet wird der Band durch einen auch mit Erinnerungen gespeisten Beitrag des Ko-Autors Rainer Peters, dessen „begleitende“ Rolle bei der Entstehung des Buches nicht gänzlich offengelegt wird, der sicherlich aber in der Schlussphase (der Buch-Werdung) des Projekts redigierend eingegriffen hat.
Nützlich ist der Anhang mit den Kurzbiografien der Gesprächspartnerinnen und -partner von Bettina Zimmermann, den von Rainer Peters erstellten Kurzportraits der Personen, die in Zimmermanns Biografie eine Rolle spielten sowie kurzen aber pointierten Werkkommentaren.

Rüdiger Albrecht
Berlin, 08.04.2018

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