Heribert Henrich: Bernd Alois Zimmermann. Werkverzeichnis [Ralph Paland]

Henrich, Heribert: Bernd Alois Zimmermann. Werkverzeichnis. Verzeichnis der musikalischen Werke von Bernd Alois Zimmermann und ihrer Quellen. / Erstellt unter Verwendung von Vorarbeiten von Klaus Ebbeke (†). – Mainz: Schott, 2013 [!]. – 1.326 S., 12 Bl.: farb. Abb.; Notenbeisp.
ISBN 978-3-7957-0688-3 : € 199,00 (geb.)

Nur wenige deutsche Komponisten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dürften ein so umfangreiches und sowohl stilistisch als auch kompositionstechnisch vielgestaltiges Œuvre hinterlassen haben wie Bernd Alois Zimmermann. Neben großdimensionierten Werken wie der Oper Die Soldaten und dem Requiem für einen jungen Dichter hat der 1918 in Bliesheim bei Köln geborene und 1970 in Großkönigsdorf gestorbene Komponist nicht nur zahlreiche solistische, kammermusikalische, orchestrale und elektronische Stücke, sondern im Rahmen seiner Tätigkeiten im Rundfunkbereich auch zahlreiche Gebrauchskompositionen verfasst – Film- und Hörspielmusiken sowie Arrangements von Stücken anderer Komponisten und Volksmusikbearbeitungen. Die Aufarbeitung und umfassende Darstellung eines derart heterogenen Schaffens, das gerade im Bereich der funktionalen Musik auch zahlreiche unpublizierte und oftmals nur lückenhaft dokumentierte Kompositionen umfasst, ist zweifellos eine ebenso aufwändige wie anspruchsvolle Aufgabe.
Im
Verzeichnis der musikalischen Werke von Bernd Alois Zimmermann und ihrer Quellen gelingt dem Berliner Musikwissenschaftler Heribert Henrich dieses Unterfangen auf beeindruckende Weise. Henrich, als Leiter des Bernd-Alois-Zimmermann-Archivs der Berliner Akademie der Künste gegenwärtig sicherlich der profundeste Kenner von Zimmermanns weitverzweigtem Schaffen, fasst hier Erkenntnisse zusammen, die er – aufbauend auf den grundlegenden Forschungen seines früh verstorbenen Vorgängers Klaus Ebbeke – in zwei Jahrzehnten durch umfassende Quellenstudien, Recherchen und Analysen erarbeitet hat. Schon rein äußerlich ist der im Februar 2014 [!] erschienene, gut 1.300 Seiten umfassende Band ein gewichtiges Opus: Tatsächlich verzeichnet er neben Zimmermanns abgeschlossenen Werken auch alle mittels Notenquellen belegbaren unvollendeten oder nur fragmentarisch überlieferten Kompositionen, darüber hinaus musikalische Improvisationen, die durch Tonaufzeichnungen dokumentiert sind, sowie verschollene Kompositionen, soweit deren frühere Existenz belegbar ist.
Angesichts des großen Umfangs dieses Werkkorpus war es vor allem im Hinblick auf die Übersichtlichkeit der Darstellung eine sinnvolle Entscheidung, das Werkverzeichnis nicht rein chronologisch anzulegen, sondern systematische und chronologische Ordnungsprinzipien zu verbinden: Henrich teilt die Werke nach Gattungskriterien in zwölf Werkgruppen ein, innerhalb derer die Stücke jeweils entstehungschronologisch abgehandelt werden: Oper, Ballett, Orchesterwerke, Instrumentalkonzerte, Kammermusik, Klavierwerke, Vokalwerke, Elektronische Musik, Bühnenmusik, Filmmusik, Rundfunkmusik, Bearbeitungen fremder Werke sowie Volksmusikbearbeitungen. Jedes Werk wird durch eine doppelte Nummerierung (römische Ziffer für die betreffende Werkgruppe, arabische Ziffer für die chronologische Stellung innerhalb dieser Werkgruppe) eindeutig ausgewiesen; nachgestellte Buchstaben kennzeichnen unterschiedliche Fassungen desselben Werks.
Zu den Vorzügen von Henrichs Gliederungsansatz gehört, dass er auf implizite ästhetische Wertungen der Musik verzichtet, wie sie etwa Ebbeke vorgenommen hatte, als er 1989 in einem ersten Werkkatalog versuchte, Zimmermanns „Hauptwerke“ von seinen „Nebenwerken“ zu scheiden. Henrichs Bemühung um eine möglichst objektive Aufarbeitung des Werkbestandes schlägt sich darüber hinaus in der Entscheidung nieder, den Umfang, in dem die einzelnen Kompositionen dokumentiert werden, einzig vom vorliegenden Quellenmaterial, nicht aber von Fragen ihres ästhetischen Stellenwertes abhängig zu machen.
Die einzelnen Werkeinträge folgen stets dem gleichen Aufbau: Auf Informationen zum Titel und Untertitel, gegebenenfalls zu Widmungsträgern und Auftraggebern, bei Bearbeitungen zu musikalischen Vorlagen, ferner zur Besetzung, zum äußeren Aufbau und zu Frühfassungen des betreffenden Werks folgen (teils äußerst umfangreiche) Quellenzusammenstellungen und -beschreibungen sowie Daten zur Publikation, Uraufführung beziehungsweise (bei den Rundfunkmusiken) zur Produktion. Von besonderem Wert ist die extensive Wiedergabe von Dokumenten rund um das betreffende Werk. Hier finden sich vor allem Zitate aus den – bislang weitgehend unpublizierten – Briefen Zimmermanns sowie aus seinen theoretischen Schriften, die nicht selten durch Auszüge aus Schreiben seiner Briefpartner sowie aus zeitgenössischen Rezensionen ergänzt werden; indem nahezu alle relevanten überlieferten auktorialen Werkkommentare zusammengetragen sind, bietet diese Rubrik eine in ihrem Reichtum nicht zu überschätzende Informationsquelle für jeden, der sich auf künstlerischer, wissenschaftlicher oder journalistischer Ebene mit Zimmermanns Werken auseinandersetzt. Immer wieder finden sich hier unbekannte und teils durchaus überraschende Informationen zur Werkgenese, zu kompositorischen Intentionen oder Aspekten der frühen Werkrezeption. Es folgt Henrichs konzentrierte Darstellung der jeweiligen Werkgeschichte, in der nicht zuletzt immer wieder die für Zimmermanns Schaffen charakteristischen, nicht selten verwickelten und bisweilen geradezu verblüffenden Materialzusammenhänge mit anderen Kompositionen aufgezeigt werden. Abgeschlossen werden die Einträge jeweils mit umfassenden bibliographischen Hinweisen. Zwölf beidseitig bedruckte Blätter mit Autographen verschiedenster Art – Reihentabellen, Kompositionsskizzen, Proportionspläne, Verlaufspläne, Partiturausschnitte etc. – veranschaulichen die Vielfalt der kompositorischen Quellen, die bei der Erstellung des Bandes auszuwerten waren.
Zu Recht konstatiert Henrich im Vorwort, mit dem Bernd-Alois-Zimmermann-Werkverzeichnis werde „zum ersten Mal ein großes, nach historisch-kritischen Methoden erarbeitetes Werkverzeichnis für einen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 7) vorgelegt. Doch nicht nur aufgrund ihres exemplarischen Ranges wäre dieser Publikation zu wünschen, dass sie auch über die engeren wissenschaftlichen Zirkel hinaus wahrgenommen würde. Indem sie erstmals die Fülle von Zimmermanns Komponieren zugänglich macht, könnten von ihr vielmehr auch belebende Impulse für das gegenwärtige Musikleben ausgehen: Zwar ist Bernd Alois Zimmermann inzwischen durchaus als eine der großen Gestalten der Nachkriegsavantgarde etabliert, doch gründet seine Präsenz in den Konzertsälen heute allenfalls auf einem guten Dutzend regelmäßig gespielter Werke. Heribert Henrichs Werkverzeichnis könnte in seiner Verbindung von sachgerechter Genauigkeit und ästhetischer Unvoreingenommenheit dazu beitragen, Musikern, Konzertveranstaltern und Musikwissenschaftlern nun endlich den „ganzen“ Zimmermann angemessen in den Blick zu rücken.

Ralph Paland
Hürth, 31.05.2014


Leider hat Henrich kein Zitierkürzel vorgegeben. Mit dem von ihm und der Red. vorgeschlagenen Kürzel BAZ plus lat. Ziffer der Werkgruppe plus Komma (ohne Spatium) plus arabische Ziffer des Werkes,  d. h. z.B.  BAZ XIII,39c für die Rheinischen Kirmestänze, befaßt sich demnächst Arbeitsstelle für Standardisierung (AfS) der Deutschen Nationalbibliothek.                                                                                                                                                  jl

 

 

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