Lüderssen, Caroline: Eine Kathedrale der Musik. Das Archivio Storico Ricordi. – München: Prestel, 2017. – 224 S.: 147 farb., 52 s/w Abb., Personenreg., Bibliogr.
ISBN 978-3-7913-5624-2 : € 49,95 (geb.)
Casa Ricordi feiert 2018 210. Jubiläum und der vorausschauende Gründer, Giovanni Ricordi, ist ziemlich genau vor 165 Jahren gestorben. Es ist inzwischen eine altbewährte Tradition, dass Musikverlage ein Jubiläum zum Anlass für eine hochwertige Publikation nehmen, um ihr Schaffen zu präsentieren und zu evaluieren. Sehr oft sind solche Selbstdarstellungen die beste oder gar einzige Quelle für eine detaillierte Chronologie einer Firma und fassen zusammen, was weit gestreute Verlagskataloge, Anzeigen, Register oder andere firmeneigene Zeitschriften nur ansatzweise beschreiben können. Nun bringt Caroline Lüderssens Werk Eine Kathedrale der Musik. Das Archivio Storico Ricordi, schon 2013 in englischer und italienischer Übersetzung erschienen und verfasst in Zusammenarbeit mit dem Archiv und seinem Besitzer, der Firma Bertelsmann Music Group, erhellende Einblicke in das Archiv des renommierten Verlags.
Im Mittelpunkt dieses Buches steht das bedeutende Mailänder Musikarchiv, die „Kathedrale der Musik“, wie Luciano Berio es einst bezeichnet hat (S. 6). Das Archiv hat sich in den letzten Jahren durch verschiedene Online-Initiativen ausgezeichnet, dank der hervorragenden Leistungen seiner Mitarbeiter. Seit 2016 sind zahlreiche Dokumente online in der „Collezione Digitale“ unter www.archivioricordi.com kostenlos zugänglich. So können wir eine Auswahl der 8.000 Musikhandschriften, 10.000 Libretti, 15.000 Briefe, 10.000 Bühnenbildentwürfe und 6.000 Fotografien, Plakate, Zeichnungen und Drucke genießen. Das Archivio Storico profitiert einerseits von der stets wissenschaftlichen-archivischen Erschließung der historischen Bestände, so Lüderssen, andererseits von der wachsenden Aufmerksamkeit, die es genießt, u.a. dank des Verdi-Jahres 2013, verschiedener internationaler Ausstellungen in den letzten Jahren und seines Online-Auftrittes. In diesem Sinne stellt die vorliegende Buchpublikation eine Art Begleitkatalog dar, der den historischen Kontext der Online-Exponate und der Objekte im Archiv veranschaulicht.
Im ersten Teil des Buchs beleuchtet Lüderssen in kurzen Skizzen die Geschichte der Firma anhand der Dokumente, die heute in Mailand aufbewahrt sind. In sieben Porträts werden die Aktivitäten der führenden Figuren auf jeweils ein paar Seiten beschrieben, reichlich illustriert durch u.a. historische Dokumente, Titelseiten von Musikdrucken und Zeitschriften, Lithographien, Fotografien und Kostümentwürfe. Während uns die Aktivitäten der Firma im 19. Jahrhundert aus früheren Jubiläumsschriften schon vertraut sind, ist Lüderssens Fortsetzung der Geschichte bis ins 21. Jahrhundert – bis 2016, um genau zu sein – eine willkommene Ergänzung. Dennoch erlaubt der Schwerpunkt auf die archivarischen Materialen, immer wieder die Wurzeln des Archives in den historischen Ereignissen aufzufinden.
Nach diesem Blick hinter die historischen Kulissen steht das Archivio Storico selbst im Rampenlicht. Im zweiten Teil des Buches werden das Archiv und sein Forschungspotenzial thematisiert. Für die Geschichte der Oper sind die Bestände unerlässlich, als Fallstudien nimmt Lüderssen die im Archiv verwahrte Dokumentation zu Verdis Otello und Puccinis La Fanciulla del West unter die Lupe. Interessenten der Musik nach 1945 kommen auch im Archivio Storico auf ihre Kosten: Materialen zu Kompositionen von z. B. Bruno Maderna, Luciano Berio, Ludi Nono oder Sylvano Bussotti sind im Archiv gut vertreten. Das Autograph der Partitur von Busssottis Orchesterstück Raragramma (1982), das das Cover dieses Bandes ziert, repräsentiert seine „oft als Installationen konzipierten Kompositionen“ (S. 137). Zusammen mit Korrespondenz, Fotografien und Rezensionen kann die zeitgenössische Musik Italiens, die auch die internationale Musikgeschichte prägte, erforscht werden.
Nicht so gut im Archiv dokumentiert sind nach Lüderssen die Jahre zwischen 1943 und 1956. Hier besteht Forschungsbedarf, um die Verlagsgeschichte besser zu verstehen. Als ersten Ansatz skizziert die Autorin die Karrieren der jüdischen Komponisten Aldo Finzi (1897-1945) und Mario Castelnuovo-Tedesco (1895-1968). Von beiden Musikern ist die Beziehung zu Casa Ricordi lückenhaft im Archiv überliefert, jedoch können Kataloge, Unternehmenskorrespondenz und publizistische Materialen die Lücken schließen. Die Aufnahme von Komponistinnen wie Marietta Brambilla oder Lili Boulanger in den Katalog von Ricordi wäre mit Sicherheit auch ein produktiver Forschungsbereich.
Zum Schluss gibt es eine Übersicht über den Archivbestand, aufgeteilt nach Dokumentenart: handschriftliche und gedruckte Partituren, Libretti, Bildmaterial, Fotografien, Plakate, Briefe, Firmendokumente und Zeitschriften. Es wird eine ungefähre Angabe des physischen und chronologischen Umfangs geboten, gefolgt von Abbildungen von Glanzstücken aus der Sammlung. Die Beschreibungen stellen zwar kein archivalisches Findbuch dar, bieten aber einen Überblick.
Die Kathedrale lädt zum Stöbern ein, das Buch ist sehr angenehm zu lesen, großzügig mit Bildern in bester Qualität bestückt, aber der Text ist auch wissenschaftlich mit Fußnoten belegt. Die Bedeutung des Archivio Storico als eines der berühmtesten und erfolgreichsten, aber auch innovativsten und einflussreichsten Musikverlage wird auf diesen Seiten eindeutig. Diese Selbstdarstellung in Buchform präsentiert als analoges Pendant zu verschiedenen digitalen Initiativen, die Ricordi in letzter Zeit online gebracht hat, die bunte Welt seiner Schatzkammer.
Jennifer Ward
Frankfurt, 17.03.2018