Puccini Handbuch / Hrsg. von Richard Erkens. – Stuttgart u. Kassel: Metzler u. Bärenreiter, 2017. – XLI, 452 S.: Abb., Notenbsp.
ISBN 978-3-476-02616-3 (Metzler) u. 978-3-7618-2067-4 (Bärenreiter) : € 79,95 (geb.)
Exklusiv ins Pantheon der Musikgeschichte steuerten Metzler und Bärenreiter mit den bisherigen Ausgaben ihrer Komponistenhandbücher. Allen porträtierten Koryphäen von Bach über Schumann und Mahler bis Richard Strauss eignet unstreitig ein Oeuvre von überdauerndem Weltrang, das seither die Akademik beschäftigt und auch künftig im methodischen Wandel Stoff für neue Deutungen liefert. Das Leitprinzip der Bündelung innovativer Ansätze aber fordert auch den Mut zur Verschiebung etablierter Maßstäbe: Sakrosankte Größe und Relevanz sind nicht zwingend deckungsgleich. Der Faktor Relevanz stand heuer Pate für die prominente Auswahl des italienischen Starkomponisten Giacomo Puccini (1858-1924).
Denn ungeachtet enormer Erfolge hat sich das Schlusslicht einer lucchesischen Kirchenmusikerdynastie nie selbstherrlich als kompositorische Weltgröße apostrophiert. Seine Mission lautete: Dem Publikum gefallen, Herz und Gemüt der Menschen bewegen, dem Ideal der romantischen Liebe huldigen, dazu mit packender Dramatik faszinieren! In allabendlichen Vorstellungen und via Medienpräsenz rund um den Erdball funktioniert Puccini damals wie heute von selbst. Ein gespaltenes Verhältnis zu ihm freilich unterhielt die Musikforschung, die um die als Verdi-Nachfolger gehandelte und Wagner-affine Kultfigur einer internationalisierten italienischen Oper um 1900 letztlich nicht herumkam und ihr mangels ästhetischen Werts nach einem Diktum Richard Spechts nur den „Erfolg des ‚aber doch‘“ (S. 362) konzedieren wollte, wie Mauro Fosco Bertola die deutsche Rezeption auf den Punkt bringt.
Mit der Expertise dieses und weiterer, an multiperspektivisch und transnational reflektierender Kulturwissenschaft geschulter Autoren realisiert Herausgeber Richard Erkens, derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Instituts in Rom, ein Novum, das die Aufnahme eines Puccini in den Kanon der Komponistenhandbücher nicht nur vollumfänglich rechtfertigt, sondern als eingelöstes Desiderat nicht dankend genug zu begrüßen ist. Weiße Flecken der deutschen Puccini-Forschung bekommen synergetische Zufuhr durch eine vitalere Szene im italienischen und angloamerikanischen Raum, deren Ergebnisse sämtliche Autorinnen und Autoren kenntnisreich referieren, diskutieren und zu einem Panorama verdichten, das mithin den fachkundigen deutschen Leserkreis als Erstadressaten sucht.
Heraus kommt ein Band, der Bände spricht! Der Grundriss folgt Metzler/Bärenreiterschem Handbuchrezept: editorische Präliminarien mit synoptischer Zeittafel, einleitend Biographisches, Kontexte und Ästhetik, ausgiebiger Werkteil, Wirkung, obendrein ein – vorzüglicher – Glossar zu Operntermini, Anhang. Im Fall Puccini verlagern sich die Akzente. Überschaubar wie das sprichwörtlich operndominierte Schaffen gibt sich die erst knapp gegen Mitte einsetzende Werksektion. In schier überwältigender Ausdifferenzierung – von Zeit- und Gattungsgeschichte über performative wie kompositorische Parameter bis zur aufführungspraktischen und intermedialen Anverwandlung – sind es zuvor die Themensetzungen der Großkapitel „Kontexte“ und „Perspektiven auf Puccinis Opernschaffen“, danach der Schwerpunkt „Interpretation und Rezeption“, die einen Kosmos durchmessen, wie er exegetisch nach oben keine Grenze zu kennen scheint: Überblicke mit Tiefgang, Impulse setzend für den Gang ins Detail.
Vita und Persönlichkeit fokussiert optimal und transparent Dieter Schickling als Hauptbiograph im deutschen Sprachraum, indem er „Aspekte einer Biographie“ nicht nur zu einer prägnanten Lebensbeschreibung formt, sondern auch, dabei klug zwischen Fakt und Mutmaßung abwägend, auf individual- und gesellschaftspsychologische Hintergründe befragt. Nirgends sonst werden im Weiteren neben seiner Kunst auch die familiären Bindungen (Geschwister, Mosco Carners überholter Befund eines Mutterkomplexes), Eheprobleme, publicityträchtigen wie inspirierenden Affären und konsumfreudigen Lebensarten (Villen, Autos, Fernreisen) jenes Weltbürgers konkret, der als erster Vertreter sogenannt Ernster Musik allein von seiner Produktion leben konnte.
Fehlt es den an und für sich von kompetentester Feder unterzeichneten Befassungen mit Italiens politischer Entwicklung „Zwischen Risorgimento und Faschismus“ 1870-1925 und mit den Trends in Literatur und Ästhetik an direktem Bezug zum hiesigen Protagonisten, so schillern dessen komplexe Züge und Referenzen im übrigen Parcours in buntesten Facetten: das auf breitere Bevölkerungsschichten erweiterte Opernpublikum im administrativ geeinten, sozial indes chronisch gespaltenen Italien (Axel Körner), dessen globalisierte Opernindustrie mit Impresario-System und Hegemonie der Verlage (Jutta Toelle), die zeitgenössische Opernlandschaft als Einflussgröße für Puccini (Richard Erkens) mit dem Ergebnis einer exzeptionellen Intensität von „Vielfalt und Erschließungstiefe der kompositorisch verarbeiteten Einflüsse von Le Villi bis Turandot“ wie auch einer „scheinbar selbstverständliche[n] Stabilität des unverkennbar Eigenen seiner musikalischen Sprache.“ (S. 55) Ökonomisch artbildend kristallisiert sich heraus: Der Mailänder Schüler Amilcare Ponchiellis und Antonio Bazzinis personifiziert ein Produkt gezielter Marketingstrategien des Verlagshauses Ricordi, das – in Konkurrenz zur internationaleren Palette Sonzognos – nun seinen profitablen Verdi-Ersatz zu erspähen glaubte und dank Giulio Ricordi die treibende Kraft für Puccinis Spitzenreiter von Manon Lescaut bis Madama Butterfly wurde.
Elf Perspektiven aufs Opernschaffen sind thematisch zielgenau auf Puccinis Idiom abgestimmt (Work in progress, Dominanz über Librettistenteams, Kantabilität, Exotismus, Klangdramaturgie, Verhältnis zum Verismo bis hin zu Macht- und Geschlechterkonstellationen u.a.). Brisant vor allem: Richard Erkens‘ Thesen zur Raumimagination und Praxis einer „komponierten Regie“, die, stimuliert durch „szenische Kontinuitäten einer realistischen Ästhetik, (…) den formalen Ablauf konstituieren“ (S. 127) – namentlich in Form eines motivisch vielschichtigen Orchestersatzes, der gleichwohl die Gesangsphrase als Telos anerkennt und die Integration von lyrischen Relikten der Nummernoper erlaubt. Anselm Gerhard sogar baut in seine Studie zu Puccinis Behandlung der Librettosprache eine informative Verstypologie ein und verortet ihn infolge der „Abkehr von einer konservativen Regelpoetik“ bei „rhythmische[m] Denken in den Konventionen des mittleren 19. Jahrhunderts“ als Komponisten des Übergangs. Ähnlich schließt sich Erkens einer Diagnose an, nach der Puccini „einer sogenannten ‚latenten Avantgarde‘“ zugehört, die sich ohne rigorose Traditionsbrüche „in wirkungssicherer Kombination“ gleichwohl „ästhetische Traditionen und Innovationen aneignete“ (S. 203).
Neben enzyklopädischen Daten, Entstehung, Handlung und Wirkung laufen die Einzelanalysen der Bühnenwerke zentral in den Kommentaren zu perspektivenreicher Hochform auf. Nicht unterbewertet, da notorisch recycelt, kommen die großenteils frühen, im Gros marginalen Instrumental-, Sakral- und Liedkompositionen zur Sprache. In Sachen Interpretation und Rezeption weitet sich der vergleichende Blick von Italien und Deutschland (Kritik, Wissenschaft) und den musikalisch Ausführenden in diachronem Schwenk über Tonträger und Film bis zu massenmedialen Mythenkonstruktionen und –entlarvungen, last not least zur Inszenierungsgeschichte, der Stephan Mösch mit intermedialem Röntgenblick eine verspätete Aufholjagd nach analytischer Redlichkeit attestieren kann. Nicht nur hier Fässer ohne Boden. Vorzeigbare Meriten verbucht ein Centro studi in Lucca seit 1996, kritischen Werkeditionen stehen Verlagsklauseln entgegen. Auf welche Prädikatsstufe gehört besprochenes Handbuch? Exklusiv ins Pantheon.
Andreas Vollberg
Köln, 29.03.2018