Buslau, Oliver: 111 Werke der klassischen Musik, die man kennen muss. – Köln: emons:, 2017. – 237 S.: zahlr. Farbabb.
ISBN 978-3-740-802363 : € 16,95 (Pb.)
Nach den 100 things to do before you die, den 101 whiskies to try before you die, den 111 Kölner Fußball-Orten, die man gesehen haben muss und anderen Lebenslisten, die seit einigen Jahren den Buchmarkt überschwemmen, war es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis es die 111 Werke der klassischen Musik, die man kennen muss (solange man lebt) auf den Markt schaffen. So griffig der Titel klingt, so opulent ist das Problemfeld, das er anreißt – zumal 111 per se eine musikalische Zahl ist: die Opusnummer von Beethovens letzter Klaviersonate (die merkwürdigerweise in diesem Büchlein fehlt) … Was also erwartet die Leserschaft? Das ultimative Buch zum musikalischen Wertekanon des zentraleuropäischen weißen Mittelklassehörers? Oder im Gegenteil der rasche Kick des oberflächlichen Multi-Kulti-Wissens?
Formal folgt das Buch den gelungenen Reiseführern 111 Orte in (wahlweise) Berlin, London, Nordfriesland …, für die der emons:-Verlag bekannt ist. Mit jeweils einer Seite Text plus einer Seite Abbildungen folgen auch die 111 Werke dem Trend der visuellen Informationsvermittlung, und man wundert sich fast, dass nirgendwo ein Hinweis auf die geschätzte Lesedauer der Wortbeiträge zu finden ist. Aber wie ist es möglich, ein Werk wie Orffs Carmina Burana oder Ravels Bolero auf eine Seite Text einzudampfen, ohne Wesentliches auszulassen oder in Belanglosigkeit abzudriften? Wo holt man sein Publikum ab? Wo will man es hinführen? Welches Wissen kann vorausgesetzt werden? Wie schafft man es, nicht belehrend zu wirken und dennoch einen Lerneffekt zu erzielen? Welche Zielgruppe mag sich erreichen lassen?
Solche Fragen sind Oliver Buslau nicht neu: Als Musikwissenschaftler beherrscht er die große Kunst, die wichtigsten Fakten zu einem Werk in gut lesbare Programmhefttexte zu gießen, schreibt musikalische Krimis, die zugleich zuverlässig recherchierte und lehrreiche Zeitgemälde sind, und ist (neben vielem mehr) erfolgreicher Verfasser von musikfreien Regionalkrimis. Schon einmal hat er sich mit Klassik – alles, was man kennen sollte (Weltbild) dem schweren Thema der leichten Vermittlung gewidmet, damals in Kombination mit CDs. Nun liegt also die medial kondensierte Form vor: ohne Klangbeispiele, wohl aber mit Link zur Playlist und mit Texten, die auf eben diese Klänge neugierig machen sollen – und das in einer sprachlichen Verknappung, die leicht missverständlich werden kann. Keine Frage: Buslaus Zielgruppe sind hier weder die Kenner (die um Auswahl und Darstellung der Werke trefflich streiten können), auch nicht die Liebhaber (die selbst Histörchen genug zu erzählen haben), auch nicht die vollkommen Ahnungslosen (dafür wird zu viel vorausgesetzt). Ganz sicher aber bietet der Band spannendes (und, Buslaus Krimi-Erfahrung sei Dank, auch spannend geschriebenes) Lesefutter für diejenigen, die gern mal bekannte Melodien jenseits der Pop-Charts hören und über das allzu nette Klassikradiogeschnipsel hinaus neugierig sind – auch auf Musik der ganz alten Zeit (Gregorianik, S. 10) oder der Gegenwart (Ligeti, S. 109).
„Klassik“ ist hier also nicht zuletzt ein Geschmacksbegriff, und die Werkauswahl ist zwar subjektiv, aber durchaus repräsentativ und didaktisch ausbalanciert: 21 Werke von der Gregorianik bis zum Barock, 15 mal Wiener Klassik, 43 Werke aus dem 19. Jh. (von Schubert bis zur Schönen blauen Donau) und dann der Sprung in die Moderne, die mit 32 Werken – wenn auch mit konsumablen, nicht allzu neutönerischen – erfreulich stark vertreten ist. Die erzählte Musikgeschichte endet 1977 mit Fratres von Arvo Pärt. Und, ja doch, eine Frau kommt in diesen 111 Must-(easy )listen-Tipps auch vor: Clara Schumann, wer sonst?
Oliver Buslau setzt sich mit seinem Buch, das zweifellos Anlass zu engagierten (und zwangsläufig ähnlich problembehafteten) Verbesserungsvorschlägen bietet, populistisch und mutig zwischen alle Stühle: Einerseits wählt er „Hits“ (auch solche, die schon fast am Aussterben sind, wie Liszts Liebestraum), andererseits bewahrt er Hitwürdiges vor dem Vergessen. Seine Werkauswahl eignet sich zum Nachlesen nach dem Hörgenuss ebenso wie zum Vorausplanen neuer Hörfreuden – wobei seine pointierten Kurzgeschichten nett zu lesen sind, zugleich aber auch Anregungen zum Weiterdenken geben. Irgendwo zwischen 50 einfache Dinge, die Sie über Musik wissen sollten von Justus Frantz (Herder) und Tasten, Töne und Tumulte: Alles, was Sie über Musik nicht wissen von Rainer Schmitz und Benno Ure (Siedler) schaut Buslau in seinem „Opus 111“ also mit jenem Quäntchen Ernsthaftigkeit unter die Oberfläche, das Esprit von Banalität unterscheidet. Was er erzählt, setzt sich hartnäckig im Hinterkopf fest und ist insofern Bildungslektüre, als Buslau gezielt auf den Bedarf an weiteren Informationen hinweist. Damit macht er letztlich auch ein fortgeschrittenes Publikum neugierig – auf Palestrinas Missa Papae Marcelli ebenso wie auf Boccherinis Menuett (nebenbei ein Lehrtext erster Güte über das Menuett und über all das, was man zu Boccherini eigentlich sonst noch sagen müsste), auf Massenets Méditation, Beethovens „Zehnte“ (vulgo: Brahms‘ Erste Sinfonie) und Musik von Alexander Skrjabin, Charles Ives und Gustav Holst. Denn auch diese kommt in dem Buch vor.
Applaus? Ja. Und ganz schnell noch eine Zugabe: Flohwalzer. Denn auch das besitzt Oliver Buslau: Humor – und die Courage, sich selbst nicht so bierernst zu nehmen, wie der Titel dieser Publikation es befürchten lassen könnte.
Kadja Grönke
Oldenburg, 10.05. 2018