Oswald Panagl: Von Fidelio zu Parsifal. Spielarten und Stationen des Musiktheaters im 19. Jh. [Andreas Vollberg]

Oswald Panagl: Von Fidelio zu Parsifal. Spielarten und Stationen des Musiktheaters im 19. Jahrhundert. – Wien: Hollitzer, 2024. – 367 S.: Farb-Abb.
ISBN 978-3-99094-020-4 : € 45,00 (geb.; auch als eBook)

Wenn eine Neuerscheinung laut Titel etappenweise die Operngeschichte von Fidelio zu Parsifal zu referieren scheint, könnte man vorschnell urteilen: einmal mehr dasselbe in Grün?! Aufmerken müssen Literaturkundigere dagegen beim Autorennamen: Oswald Panagl. Gelesen haben sollten sie bis dato nämlich etwa seine Monographie zur Johann Straußschen Fledermaus, vieles zu Richard Strauss (eine Monographie ist für Juli 2024 angekündigt!), dem neben Richard Wagner ein Schwerpunkt unter Hunderten von Aufsätzen gilt, nicht zuletzt den 2020-er Band zum Musiktheater in der anbrechenden Moderne. Deren spezifischer Hoch- und Mehrwert allerdings wurzelt in der ungemein horizonterweiternden Ursprungsdomäne des gefragten Dramaturgen und Programmheftbeiträgers, Jahrgang 1939: der Allgemeinen und Vergleichenden Sprachwissenschaft, die er ab 1979 an der Universität Salzburg lehrte, als Emeritus dann am Mozarteum. Die beiden Geleitworte zum neuen Band stimmen völlig zurecht auf das zu Erwartende ein: Brigitte Fassbaender sieht ihre Regiearbeit „durch Erkenntnis ganz neuer Dankanstöße“ (S. 13) bereichert. Und wenn Manfred Trojahn in Panagl jenen Satz des Philosophen Konrad Paul Liessmann personifiziert sieht, laut dem Kunst Bildung braucht, und zwar „‘in einem fundamentalen Sinn‘“ (S. 14), erschließt auch die Lektüre jedes Einzeltexts, mit welcher Schubkraft Panagls sprachwissenschaftliche Spezialgebiete zu einem umfassenden geistesgeschichtlichen Verständnis der Kunstform Oper beitragen: „Etymologie, Sprachwandel, Historisch-Vergleichende Grammatik (…), Sprache und Musik (…), politische Sprache.“ (Anhang, unpag.) Wohl kommen musikalische Parameter (Formtypen, Genres, Hermeneutik, Stimmfächer) gebührend aufs Tapet, erfahren dagegen keine Detailanalyse, sondern repräsentieren in einer dem jeweiligen Themenakzent angepassten Dosis ein Ferment im Beziehungsgeflecht von Literatur-, Stoff- und Motivgeschichte sowie semantischen, linguistischen und sprachidiomatischen Befunden.

Wer einen intellektuell fordernden Gang durch die prägenden Entwicklungsstufen der Operngeschichte im 19. Jahrhundert sucht, der mag ihn, obgleich mit der Maßgabe rekonstruierender Eigenreflexion, auch hier aus erster Hand bekommen. Nicht unkonventionell nämlich sind die Kapitel überwiegend nach den führenden Komponisten bzw. -gruppen benannt. Auch kommen die markantesten biographischen Züge, stilistischen Positionen und Grundzüge kompositorischer Œuvres ans Licht. Den dominanten Diskurs indes bestimmen stets unverhoffte, spezielle Themen, die man, oft nur marginal wahrgenommen, nun in ihrer essentiellen Tragweite erkennt. Quantitativ überwiegen in Panagls Textauswahl laut Vorwort neben einigen Originalbeiträgen überarbeitete „Artikel, Essays und Feuilletons (…) für Programmhefte und -bücher, Sammelbände, Festschriften, Tagungsberichte und Journale“ (S. 17). Pedanten, die Rechenschaft über die Quellen der Erstabdrucke fordern, gehen leer aus. Doch das Gesamtpanorama ist – trotz erkennbarer Spurenelemente von wissenschaftlichen vs. journalistischen Formaten – in sich derart stimmig, konsistent und abgerundet, dass ein Kompendium sui generis entstanden ist.

Kollegial eröffnet ein Gastbeitrag von Landsmann Gernot Gruber mit einem Vergleich zwischen Verdi (‚“dolor“‘ in der Traviata-Todesszene) und Wagner (Entrücktheit bei Isoldes Liebestod) als den unangefochtenen Protagonisten und Einflussgrößen bis zur heutigen Rezeption. Die heutige Rezeption und ihre Vorstufen: Auch für Panagl gehören sie zum Wesenskern jener Werke, in deren Wiederentdeckung oder Neudeutung er Chancen und Potentiale für den aktuellen Opernbetrieb aufzeigt. „Man muss zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit man gehen darf!“ (S. 32) So die Empfehlung zur inszenatorischen  Auslotung des zwar glücklichen, in politischen und soziologischen Implikationen gleichwohl polyvalenten Schlusses von Beethovens Fidelio – „musikdramatischer Monolith“ an der Epochenschwelle. Jenseits der Schwelle, nämlich „im Brennpunkt der Romantik“, steht Webers Freischütz, als dessen zentrale Essenz sich die „Natur als Spiegel der menschlichen Seele“ (S. 45) in Relation zur Lyrik der Klassik und Romantik manifestiert. Plädoyers zugunsten der vernachlässigten oder unterschätzten Spielopernmeister Albert Lortzing (hierzu übergreifend: Zar Peter im damaligen Opernpersonal) und Friedrich von Flotow gewinnen in gleicher Qualität an Kraft durch Kontextualisierungen, ja auch persönlich-familiäre Erinnerungen wie an „Marthas aller Arten …“ (S. 61). Der ästhetischen Problematik von Belcanto und Romantik bei Gaetano Donizetti stehen diverse Akzente auf Gioachino Rossini voran, die neben der Librettoforschung (u.a. zum Märchenmotiv in La Cenerentola) den auch außerhalb seiner Opernzeit nicht unproduktiven Tausendsassa würdigen. Dies tut in einem weiteren Gastbeitrag Panagls jüngerer Salzburger Dramaturgenkollege Gottfried Franz Kasparek, der anschließend auch in einem textlichen Ausnahmeformat zu Wort kommt: Im Dialog nämlich befragt Kasparek Panagl zu Giacomo Meyerbeer, dessen lohnenswerte Exemplare der Grand opéra laut einer typisch Panaglschen Denkfigur eher den „Musterwerken gegenüber Meisterwerken“ (S. 100) zugerechnet werden. Vice versa interviewt Panagl Kasparek zu Hector Berlioz. Letzterem hingegen schwebten visionär ein „performatives Theater und theatrale Konzerte“ (S. 108) vor, wie etwa auch seine Troyens für Panagl in separater Apologie die „Dichtung Vergils mit Shakespeares Geist aus den Händen von Gluck“ (S. 112) ins Werk setzten. À la France und immer ans Literarische rückgekoppelt geht es weiter mit Daniel-François-Esprit Auber und – exemplarisch für die Opéra comique – seiner Räuberpistole Fra Diavolo, deren Moral das gesellschaftlich neu etablierte Bürgertum „psychohygienisch regeneriert“ (S. 119) erlebt haben dürfte. Nominell findet der gleiche Genretypus eine Renaissance in Georges Bizets Carmen. Wie so oft beleuchtet Panagl abermals einen dialektischen Aspekt der Werkaussage – hier denjenigen von Liebe und Tod. War nach Jacques Offenbachs ultimativem Hauptwerk (mit engem Bezug zum realen E. T.A. Hoffmann) und seiner Mythentravestie im Orphée die deutscherseits beargwöhnte Goethe-Adaption am Paradebeispiel von Charles Gounods Faust ästhetisch beglaubigt worden, so avanciert sie zur Meisterklasse des Drame lyrique in Jules Massenets Werther.

Auf einen Kern von fast 100 Seiten summieren sich tiefblickende Erkenntnisse zu Verdi und Wagner. Sind es im Werk des Italieners neben Frauenporträts, Humanität und Wirklichkeitsauffassung (Präferenz ihrer artifiziellen Erfindung vor versuchter Imitation) das in La Traviata gewagt auf die Opernbühne projizierte Motiv der Halbwelt und „guten Kurtisane“ oder Franz Werfels Übersetzungen, so liegen die Wesensmerkmale in den Musikdramen des deutschen Dichterkomponisten zumeist in metaphysischeren Regionen: in einem durch Scheitern rationaler Lösung bedingten Telos der Er-Lösung wie im Fliegenden Holländer oder Spannungsfeldern von Kunst vs. Leben (Tannhäuser) oder Kunst vs. Religion (Parsifal).  „Verdi meets Wagner“ gilt beider Nähe zu Shakespeare. Gemeinsamkeiten zwischen Falstaff und Meistersingern eruiert der Sprachwissenschaftler systematisch mittels genealogischer Lesart, arealer Konvergenz (primär aufgrund geographischer Nähe) und typologisch-struktureller Schnittmengen. Und dass in Verdis spätem Otello die Elemente der Nummernoper „nicht aufgegeben, sondern im Sinne Hegels aufgehoben“ (S. 227) sind, stehe stellvertretend für die kenntnisreich operationalisierten Konzepte der großen Philosophen.

Die heterogene Wagner-Nachfolge, angeführt von der Märchenoper (mit Sonderkapitel für Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel), verlängert das 19. Jahrhundert bis zu einem produktionsästhetisch legitimierbaren Parsifal-Nachfolger in Form von Hans Pfitzners Palestrina. Die russische Oper vertreten Peter Tschaikowsky (Schwerpunkt: inspirierte Verarbeitung von Puschkins Vorlagen), Modest Mussorgski (Historie mit überzeitlicher Aussagekraft im Sinne Thukydides’) und Alexander Borodin. Bände für die tschechische Nationaloper sprechen Smetanas Verkaufte Braut und die nationalmythische Libuše. Freilich nicht ohne exegetisch dezidierten Abgleich mit seiner literarischen Vorform skizziert Panagl kompakt und bündig den italienischen Verismo Pietro Mascagnis und Ruggero Leoncavallos.

Letztlich gehört zum Oberthema auch ein leichtgeschürzter Ableger: die Operette. Königin der goldenen Wiener Ära, fährt Strauß’ Fledermaus weit mehr Offenbachsche Satire-Munition auf als champagnerseligen Edelkitsch. Und das für alle Happy Ends elementare Motiv einer Überwindung sozialer Standesschranken erweist sich variabel durchdekliniert bei Carl Millöcker.

P.S.: Vermitteln ließ sich in all diesen Zeilen nur die Spitze des Eisbergs. Lesen, lesen, lesen!

Andreas Vollberg
Köln, 05.05.2024

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