500 Jahre gelebte Tradition. Das Bayerische Staatsorchester / Hrsg. von Florian Amort u. Thomas Herbst. – Kassel: Bärenreiter, 2023. – 287 S., zahlr. Farb-/SW-Fotos, Ill. u. Notenbsp.
ISBN 978-3-7618-2642-3 : € 39,95 (Hc.)
Wir blicken zurück auf das Jahr 2023. Das Bayerische Staatsorchester feiert Geburtstag. Doch wie viele Kerzen es auf der Torte auszublasen gilt, ist, nun ja, Interpretationssache. 500 sollen es sein, so die einhellige Meinung der Verantwortlichen in der Bayerischen Staatsoper München. Schließlich ist es ein halbes Millennium her, da der bekannte Sänger-Komponist Ludwig Senfl seinen Anstellungsvertrag erhielt. Etliche Lichter mehr dürften jedoch ergänzt werden, zählte man die Jahre zuvor dazu, in denen die Kapelle am bayerischen Hof bereits sang und musizierte. Und es mag sogar Menschen geben, die zwar die Jubiläumszahl nicht in Frage stellen, das Licht des Ensembles aber erst dann prächtig erstrahlen sehen, als 1778 die Fusion mit der berühmten ehemaligen Mannheimer Hofkapelle vollzogen wurde.
Wie immer man auch zählt: Die 500 Jahre seit der Verpflichtung Senfls sind Grund genug, dem Klangkörper der Bayerischen Staatsoper mit diesem bei Bärenreiter veröffentlichten großformatigen Prachtband ein angemessenes und in vieler Hinsicht aufschlussreiches Geburtstagsgeschenk zu präsentieren. Als Herausgeber zeichnet der Dramaturg der Bregenzer Festspiele und Musikjournalist Florian Amort verantwortlich. Ihm zur Seite stand mit Thomas Herbst ein aktives Mitglied des Orchesters. Auf 287 Seiten, in hervorragender Qualität reich bebildert, haben die Herausgeber eine Sammlung von Beiträgen in Auftrag gegeben, in denen nicht nur – wie zu erwarten ist – die verschiedenen Etappen durch die Jahrhunderte bis in die Jetzt-Zeit sowie eine Reihe bekannter Dirigenten vorgestellt werden. Von besonderem Interesse sind darüber hinaus jene Aufsätze, in denen bisweilen vernachlässigte Themen wie Musikerakquise, Arbeitsalltag, Ausbildung und Spielstätten durchgeführt werden. Da diese Beiträge an eine große Anzahl von fach- und sprachkundigen Autorinnen und Autoren vergeben wurden, kann sich das Publikum auf kurzweilige, sprachlich und inhaltlich unterschiedliche, aber durchweg sehr lohnenswerte Aufsätze freuen.
Nach insgesamt drei Grußworten von Herzog Franz von Bayern, Serge Dorny und Andreas Riepl sowie einer Einleitung von Florian Amort liegt ein erster Fokus auf den „Wendepunkten in der Orchestergeschichte”. Die Autorinnen und Autoren (Armin Brinzing, Bernhold Schmid, Sebastian Werr, Stephan Hörner, Sebastian Bolz, Florian Amort und Felicitas Winter) beleuchten die einzelnen Jahrhunderte, beginnend in der Zeit vor 1523 bis in den Nationalsozialismus hinein. „Prägende Dirigenten des 20. und 21. Jahrhunderts” werden von Tabea Umbreit (Felix Mottl), Barbara Dietlinger (Bruno Walter), Hans Rudolf Vaget (Hans Knappertsbusch), Klaus Kalchschmid (Wolfgang Sawallisch), Stephan Mösch (Carlos Kleiber), Markus Thiel (Zubin Mehta), Bernhard Neuhoff (Kent Nagano) und Georg-Albrecht Eckle (Kirill Petrenko) beschrieben. Im dritten Block weitet sich der Blick hin zu der Frage, wie jemand überhaupt Mitglied im Orchester werden kann. Während Britta Kägler die Musikerakquise untersucht, betrachten Anca Unertl und Werner Häußner die Ausbildungsmöglichkeiten (Münchner Hochschule bzw. Hermann-Levi-Akademie). Eleonore Büning wiederum steht Musikerinnen und Musiker vom Vorspiel bis zur Festanstellung an der Seite. In den „Arbeitskosmos Staatsorchester” begeben sich Wolfgang Fuhrmann, Florian Amort, Thomas Herbst, Miriam Noa und Teresa Wenhart, wenn sie über Selbstverständnis und Status, Instrumente, Musiker*innenpersönlichkeiten oder mentale Höchstleistungen schreiben. Mit „Auftrittsorten und Musizierformen” begleiten Florian Amort, Bernhold Schmid, Moritz Kelber, Tobias Hell und Paul Schäufele das Orchester auf die verschiedenen Bühnen und zu Orchesterreisen. Den Abschluss des Sammelbands bilden ein Interview mit Vladimir Jurowski und ein Blick in die Zukunft des Ensembles von Christoph Lang.
Die Qualität der Beiträge ist durchweg sehr hoch. Und das gilt nicht nur dank der hervorragenden fachlichen Expertise, sondern auch wegen der Fähigkeit der Autorinnen und Autoren, das historische Wissen in einen Bezug zur Gegenwart zu setzen. Wenn Sebastian Bolz „Schlaglichter aus dem 19. Jahrhundert” (S. 50ff) aufleuchten lässt, dann tut er dies in dem Bewusstsein, dass es gerade dieses Jahrhundert ist, in dem sich die Oper jener Form nähert, die uns heute so geläufig ist, in dem es aber auch Entwicklungen gab, die uns im neuen Jahrtausend befremdlich erscheinen. Diese Schnittstellen (nicht nur in diesem genannten Aufsatz) zu erkennen und zu benennen ist ein großer Verdienst dieser Hommage an das Orchester. Dass die Autorinnen und Autoren sich nicht scheuen, vor allem in den Dirigentenporträts Themen anzusprechen, die den künstlerischen Nimbus nicht beschädigen, die jeweilige Persönlichkeit aber als eigenwillig oder gar problematisch erscheinen lassen, ist ihnen anerkennend anzurechnen. Dies gilt auch für die Rolle des Orchesters während des Nationalsozialismus. Hier hätte man sich jedoch eine Auseinandersetzung vorstellen können, die über vorwiegend personalpolitische Themen hinaus auch Fragen zu Repertoire oder Orchesteralltag behandelt. Doch gilt für diesen Aufsatz wie auch für andere Beiträge, dass die formal engen Grenzen eines Sammelbands Tiefenbohrungen für jeden Aspekt des Themas schlichtweg ausschließen. So bleibt als Fazit: Das Bayerische Staatsorchester hat mit dieser Festschrift ein würdiges Präsent überreicht bekommen. Und wer nach der Lektüre weitere Erkundungen vornehmen will, kann dies bei der Betrachtung der Kabinettausstellung „… quia Musicam colunt” der Bayerischen Staatsbibliothek tun. Die Ausstellung über „Wilhelm IV., Ludwig Senfl und die Anfänge der Münchner Hofkapelle” ist zwar bereits abgebaut, in digitaler Form aber haben die Tore noch geöffnet.
Michael Stapper
München, 10.04.2024