Martin Staehelin: Hans Georg Nägeli (1773‑1836). Einsichten in Leben und Werk [Peter Sühring]

Martin Staehelin: Hans Georg Nägeli (1773‑1836). Einsichten in Leben und Werk / Unter Mitarbeit von Bettina Moll und Elisabeth Staehelin.  Band I – Basel: Schwabe, 2023. ‑ 789 S.: s/w-Abb., Notenbsp.
ISBN978-3-7965-4746-1 : € 90,00 (geb., auch als e-Book)

Es grenzt an ein Wunder, dass solche Bücher heutzutage noch möglich sind. Wovon uns die herrschenden Moden in der Musikwissenschaft gerade versuchen abzutrennen, von einer historisch reflektierten und von den früheren Verhältnissen her gedachten Musikgeschichtsschreibung – hier ist sie noch ganz lebendig und zieht uns sanft aber unerbittlich in ein entschwundenes, weitgehend unbekanntes Land der Musikgeschichte.

Dieses biographische Werk – so muss man es mindestens nennen – ist weiß Gott nicht mit heißer Nadel gestrickt und schon gar nicht nach aktuellen Gesichtsunkten frisiert worden, sondern das Resultat einer lebenslangen Leidenschaft, die zwar vorübergehend wegen beruflicher Verpflichtungen als Direktor des Bonner Beethoven-Hauses sowie als Professor für historische Musikwissenschaft in Bonn und Göttingen immer wieder hintangestellt werden musste, aber als ein Alterswerk nun doch abgerundet und vollendet werden konnte. Es reiht sich unwillentlich ein in eine große Tradition methodisch abgesicherter wissenschaftlicher Musikerbiographien, die mit Jahns Mozart, Spittas Bach und Chrysanders Händel begann und relativ wenige Nachfolger gefunden hat.

Bescheiden nennt der Autor seine Darstellung „Einsichten“; seine jahrzehntelangen Einsichtnahmen in die Überlieferung zu Nägeli als Musikverleger, Musikpädagogen, Musiktheoretiker und Komponisten haben aber doch eine konsequent und systematisch durcherzählte, mit internen thematischen Sammelpunkten versehene Lebensbeschreibung und Werk- und Wirkungsgeschichte ergeben, welche die Kenntnis von Nägelis Bedeutung und seinen zu erneuernden Nachruhm enorm erweitern und beflügeln könnten und sollten. Zwar weist Staehelin darauf hin, „dass die vorliegende Biographie in Bezug auf die Belegpflicht nicht vollumfänglich dem wissenschaftlichen Standard entspricht“ (S- 11), sie erfüllt ihn aber doch in hohem Maße und nähert sich ihm stark an, mehr als manches heutige Buch, das solche selbstbezogenen Einschränkungen nicht für sich in Anspruch nimmt. Nur das hohe wissenschaftsethische Ideal, dem der Autor sich verpflichtet weiß, lässt ihn diese Selbstbescheidung formulieren.

Der Leser wird tief in die damaligen Verhältnisse in der Schweiz, nicht nur der deutschsprachigen und nicht nur ihres Musiklebens eingeführt und kann erstaunt registrieren, wie eng sie mit denen in Deutschland (zum Teil mitsamt Österreich, denn Wien war bis 1806 deutsche Hauptstadt) verwoben waren, wie sehr man sich nach Deutschland hin orientierte und versuchte, Verbindungen zu knüpfen und Einfluss zu nehmen. Die meisten Debatten und auch die entsprechenden Bemühungen Nägelis, deutsche Tonkunst in der Schweiz bekannt zu machen und durch Drucke aus seinen Verlagen zu verbreiten, drehten sich hauptsächlich um das Erbe Sebastian Bachs und die aktuelle Produktion Beethovens. Dazwischen gelagert ist seine auch von Staehelin als sonderbar empfundene Kritik an Mozart, die hier allerdings erstmals gebührend als ambivalent entfaltet wird. Denn Nägeli kreidet Mozart zwar mehrmals einen unschönen Kontrast von kantabler Melodie und freier Tonspielerei an, betont aber auch dessen formschöne Erfüllung einer durch vier teilbaren symmetrischen Periodenbildung.

Einer der zentralen Drehpunkte in Nägelis Denkweise und damit auch in Staehelins Darstellung ist die um Pestalozzis radikal-liberale Einstellung gruppierte Geistesströmung eines schweizerischen Vormärz, der in Deutschland weitgehend unbekannt ist, weil man von Pestalozzis politischem Engagement als Ehrenbürger der nachrevolutionären Französischen Republik für eidgenössische Demokratie wenig weiß. Ergiebig wäre noch gewesen, die Basis von Nägelis Gesangslehre in der Pädagogik Pestalozzis, in dessen Studien und Theorien über den „Sinn des Gehörs“, die Atmung und die Bedeutung der mütterlichen, singenden Stimme für das Kleinkind und dessen Empfänglichkeit für Musik hier einmal zu entfalten und präzise nachzuweisen, bis hin zu deren Fernwirkungen beispielsweise bei Wilhelm von Humboldts preußischen Reformen für den Schulgesang und bei der Berliner Vokalschule um Eduard Grell und Heinrich Bellermann. Wenn Pestalozzi auf seinem Grabstein am alten Schulhaus in Birr als „Erzieher der Menschheit“ bezeichnet wird und noch Walter Benjamin ihn trotz aller Paradoxien seines Lebens und Wirkens 1932 einen „Lehrer Europas“ nannte, während Siegfried Bernfeld ihn als „Sankt Pestalozzi“ karikierte und vor allem sein illusionäres Scheitern und seine Unfähigkeit, die Grenzen der Erziehung zu berücksichtigen, betonte, so kann man dies auch auf Nägeli münzen und sich fragen, ob auch er die Grenzen der musikalischen Erziehung durch den von ihm propagierten Volksgesang nicht erkennen wollte.

Als besonders lobenswert hervorzuheben an Staehelins Darstellung der Hauptwege in der Entwicklung Nägelis sind die vielen kleinen Seitenblicke, die er wirft, um aus der Schilderung lokal begrenzter Verhältnisse, in die Nägeli verwickelt war, wie nebenbei einen gesamtdeutschen oder europäischen Horizont aufzureißen. So z.B. wenn er bei der Behandlung der Frage, wann Nägeli mit Bachs Wohltemperiertem Klavier zum ersten Mal in Berührung kam, die zeitliche Parallele nach Bonn zieht, wo Johann Gottlieb Neefe den jungen Beethoven mit diesem Werk vertraut machte, was bekanntlich nicht ohne Folgen blieb. Und man vermisst an solchen Stellen dann doch noch weitergehende Hinweise, die das historische Bild vervollständigen könnten, wie hier den Hinweis darauf, dass Neefe zur gleichen Zeit einem anderen seiner Schüler, nämlich Antonin Reicha, dieses Bachsche Werk näherbrachte, der jene Erfahrung dann zum Anlass nahm, die Fuge zu revolutionieren. Ganz beiläufig wird hiermit indirekt auch klargestellt, wie unhaltbar die Annahme war und ist, Bach sei nach seinem Tod im Rest des 18. Jahrhunderts vergessen gewesen. Allerdings findet man auch dazu wiederum die gegenteilige Behauptung Staehelins, „dass die Ausstrahlung Bachscher Kompositionen noch bis Ende des 18. Jahrhunderts kaum über Augsburg oder Nürnberg hinaus in den Süden Deutschlands wirkte“ (S. 70). Hier ist nun mindestens auf den Wiener Klub van Swietens, in dem nach Bekunden Mozarts „nichts gespielt wurde als Bach und Händel“, hinzuweisen.

Auch fällt auf, dass Staehelin manche auf der Hand liegende Kombination und Schlussfolgerung aus von ihm selbst berichteten Umständen nicht ziehen will. Denn er weiß das von ihm als unbeantwortbare Frage hingestellte Rätsel, wann und durch wen Nägeli mit Bach in Berührung gekommen sei, nicht zu lösen. Durch seinen Zürcher Klavierlehrer Johann David Brünings jedenfalls nicht, denn dafür kann er keine Indizien geltend machen. Nicht einmal, nachdem dieser im Berliner Salon der Sara Levy, in dem viel Bach gespielt wurde, verkehrt war. Aber warum nicht von Madame Levy selbst, die Staehelin überraschend als „Nägelis Freundin“ (S. 70) tituliert? Als dringende Ergänzung zur bisherigen Erforschung der Bach-Rezeption in der Schweiz gehört jedenfalls die von Staehelin exponierte früheste Tatsache, dass Nägeli bereits 1798 sich bei sächsischen Verlagen Abschriften von Werken Bachs bestellte.

Staehelins Schilderung der verlegerischen Bemühungen Nägelis sind dazu angetan, auf die Rolle und Bedeutung des Musikalienhandels, der Verlage, Druckereien und der Bibliotheken ein besonderes, ihnen real zukommendes Licht zu werfen. Einem Mann von der Zähigkeit und Überzeugungskraft Nägelis konnte es gelingen, sich im Konkurrenzkampf mit anderen erfolgreich für die öffentliche Durchsetzung der von ihm favorisierten Komponisten wie Bach und Beethoven einzusetzen. Eine entsprechende, von Staehelin anhand der auffindbaren Originale erstellte Bibliographie der Drucke aus den von Nägeli gegründeten Verlagshäusern gibt darüber erschöpfend Auskunft.

Das sorgfältig gegliederte und argumentierende Werk gibt mehrere Langzeit-Referate über die musikhistorischen und musikästhetischen Anschauungen Nägelis. Dabei fällt auf, wie vielseitig und vieldeutig sich die von Nägeli entwickelten Verallgemeinerungen seiner Erfahrungen im Umgang mit Musik im Laufe seines Lebens entwickelt haben. Befürworter sowohl der individuell genießbaren reinen Instrumentalmusik mit hohem Kunstanspruch als auch des breiten, in Geselligkeit verankerten Volksgesangs zu sein, zeugt von großer Toleranz und großer sozialer Einsicht in die Vielfalt des musikalischen Lebens (siehe „Zürich 1812: Konzertmusik und Choraufführungen“, S. 319-24). In Nägelis undogmatischer Kunstauffassung spielte das Moment der (rhythmischen) Bewegung und der Neuheit der Erfindung die wesentliche Rolle, und er vertrat eine Ansicht von der musikalischen Form als dem entscheidenden Faktor für den Inhalt, was den Verdacht nahelegt, Hanslick wäre bei Nägeli fündig geworden. Kennzeichnend dafür ist auch die von Staehelin betonte späte Rückkehr Nägelis zur Form der frei fantasierenden Toccata auf dem Klavier als einem charakteristischen, der musikalischen Charakterisierung fähigen Musikstück. Dieser Gattung widmete sich der Komponist Nägeli zum Schluss seines Lebens, als alle administrativen und publizistischen Pflichterfüllungen, denen er sich zeitlebens unterworfen hatte, von ihm abgefallen waren. Auch den religiös inspirierten Ansichten Nägelis widmet sich Staehelin, in denen die irdische Musik als Spiegelung einer himmlischen eine große Rolle spielt. Sie konnten sich früh anbahnen, weil Nägeli schon als Knabe in seinem Geburtsort Wetzikon sich erfolgreich gegen Musikverbote des schweizerischen Reformators Zwinglis zu wehren wusste. Auch später mischte sich Nägeli in theologische Debatten, zum Beispiel gegen eine bloß mythologische Variante der Christologie bei David Friedrich Strauß.

Staehelins Biographie setzt für kommende Unternehmen Maßstäbe in fundierter und abwägender Argumentation und systematisch erarbeiteter und durchdachter Darstellung eines Musikerlebens, frei von Apologie und Überheblichkeit. Die Balance zwischen Quellenausbreitung durch Zitate und nachvollziehbaren Interpretationen ist glänzend gehalten. Der bibliographische Anhang ist in Primär- und Sekundärliteratur unterteilt; dass ein derartiges Werk nicht ohne Personenregister erscheinen kann, verstand sich von selbst. Das ausführliche Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches erlaubt darüber hinaus eine detaillierte Orientierung in der weit aufgefächerten Textlandschaft. Mit dieser Biographie des schweizerischen Musikers Nägeli hat Staehelin seinen Landsmann nicht nur der Vergessenheit, sondern auch einer oberflächlich grassierenden, sich in Andeutungen ergehenden Gerüchteküche entzogen und ihn als ein kraftvolles Beispiel einer souveränen Kunstauffassung für die Nachwelt hingestellt und gerettet.

Das Inhaltsverzeichnis gibt an, dass der Band II dieses Werkes Dokumente und ausgewählte Schriften von Nägeli enthält; er ist nur online erschienen und steht hier zum Download bereit.

Peter Sühring
Bornheim, 06.05.2024

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